Michael Reuter stellt in seinem Blog anlässlich des Todes von Claude Lévi-Strauss die wichtige Frage:
Ist es denkbar, dass durch die zunehmende Transparenz des Wissens, der Meinungen und der Aktivitäten der Teilnehmer des Netzes gerade die für eine biologische und kulturelle Entwicklung notwendigen Unterschiede individueller, abgekapselter Gruppen verlorengehen?
Oder anders ausgedrückt: Ist das Internet (bzw. heute das Echtzeitinternet und das soziale Internet) ein großer Gleichmacher? Ich glaube nicht.
Zum einen hatten wir in der Ethnologie diese Diskussion schon vor längerer Zeit ausführlich am Beispiel des Fernsehens durchgespielt. Klar, eine “Eingeborenenfamilie” im tiefsten Busch, deren jüngster Sohn leidenschaftlicher Rambo-Fan ist und deren Eltern zu Dallas-Experten geworden sind, sprechen auf den ersten Blick für den Erfolg eines neuen universalistischen Mediums, das die gesamte Erde planiert (“a flat earth“) und sämtliche kulturelle Unterschiede zerstört. Das wirkt aber nur auf den ersten oberflächlichen Blick so. Wenn man nämlich damit anfängt, diese Menschen zu verstehen, dann merkt man, dass der Rambo, den sie sehen, ein ganz anderer ist als derjenige, den wir sehen. Auch die immer wieder beschwörte Amerikanisierung unserer Kultur betrifft in erster Linie die Oberflächen (den von Lévi-Strauss zitierten warmen Lackgeruch und den Wintergreen-Tee) und nicht die Rezeption, Umdeutung und Aneignung dieser Stoffe. Katz und Liebes hatten in einer großen empirischen Studie gezeigt, wie ein und dieselbe Fernsehserie (Dallas) in unterschiedlichen kulturellen Gruppen ganz unterschiedlich wahrgenommen werden.
Aber dennoch: der technologische Unterbau des Internet ist tatsächlich zu einer universellen Geschichte geworden, die weltweit sehr gleichförmig ist. Das indische TCP/IP scheint sich nicht von dem brasilianischen zu unterscheiden. In Deutschland verwendet man HTML ähnlich wie in Japan – bzw. vielleicht fehlen uns noch kulturwissenschaftliche Studien, die hier dann doch Unterschiede finden. Und zum Teil sind auch die politischen Fragen, die sich hieran knüpfen, ähnliche: Soll man den Zugang für alle frei schalten oder auf bestimmte Personenkreise beschränken? Soll man zensieren oder nicht? Die Antworten freilich fallen je nach kulturellem und politischen Kontext höchst unterschiedlich aus.
Das Internet und auch das Web 2.0 ist keine globale Monokultur. Natürlich ist es potentiell möglich, dass, wie Reuter sagt, “letztlich alle wissen, was irgendwo passiert und was irgendwer macht”. Nur bleibt diese Tatsache immer im Konjunktiv. De facto nutzen wir Plattformen wie Twitter, Facebook oder auch Blogs tendenziell eher tribalistisch als esperantistisch. Die meisten meiner Kontakte, mit denen ich täglich über Twitter kommuniziere, kommen aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Schon, wenn ich nach Italienern suche, wird es schwierig. Und dann habe ich noch gar nicht nach dem Bildungsgrad und dem räumlichen Kontext gefragt. Das weltumspannende Kommunikationsnetz funktioniert für Sensationen wie zum Beispiel Erdbeben oder politische Umstürze. Aber auch dort ist es nicht die Masse, die hier kommuniziert, sondern nur eine Elite, die sowieso relativ homogen ist. Also die berühmten “kosmopolitischen Vielflieger”.
Ich würde noch weiter gehen: Gerade Social Media haben ein großes Potential, die Bildung von stammesähnlichen Gebilden zu unterstützen. Also von sehr traditionalistischen Organisationsformen, die jedoch auf Grundlage einer weltweit standardisierten Technologie nicht mehr an räumliche Nähe gebunden sind (hier darf natürlich auch der wichtige Hinweis auf McLuhan nicht fehlen). Diese Stämme sind aber aufgrund ihrer Ortsunabhängigkeit nicht offen sichtbar wie z.B. die Yanomami der 1960er Jahre, sondern wirken diffus. Erst mit Hilfe von Netzwerkanalysen werden diese Strukturen sichtbar. Erst ein ethnologisches Eindringen in diese Zusammenhänge offenbart dann die Stammes-Partikularismen vor einem universalistischen techno-politischen Hintergrund.
Auf eine Formel gebracht: Es gibt nicht nur ein Social Web, sondern viele. Aber eigentlich steckt das alles schon im Begriff des Internets.
Literatur zum Thema:
- Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt, 1978.
- Manuel Castells: The Rise of the Network Society. Oxford, 1996.
- Marshall McLuhan / Quentin Fiore: War and Peace in the Global Village. New York, 1968.
- Tamar Liebes / Elihu Katz: The Export of Meaning: Cross-Cultural Readings of Dallas. Oxford, 1990.
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