Monthly Archive for Dezember, 2009

Kulturelle Vielfalt oder Einheitsbrei?

Die aktuelle Folge der Isarrunde ist ein wunderschönes Beispiel dafür, wie das Web funktioniert. Man trifft sich online und offline, diskutiert über Ereignisse, die einen bewegt haben, wie zum Beispiel den Tod des Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Dann schreibt jemand einen Blogbeitrag darüber, inwiefern sich ein zentrales Motiv daraus (das Zerstören oder Verwestlichen von kulturellen Unterschieden durch das Reisen) auch auf das Internet übertragen lässt. Anschließend entfaltet sich auf Twitter in zahlreichen 140-Zeichenbeiträgen eine kontroverse Diskussion über dieses Thema und es folgen weitere Blogeinträge hier, hier und hier – und hier wird sogar ein Blog eigens für diesen Zweck wieder reaktiviert. Dieses Diskursnetzwerk liefert dann das fruchtbare Ferment für eine Isarrundendiskussion wie die folgende:



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    InformationsflutIch muss gestehen, dass mich bisher die Debatte um die digitale Überforderung – zum Wortführer dieser Scheinbewegung hat sich Frank Schirrmacher gemacht – wenig berührt hat. Vielleicht ist mit folgender abgewandelter Tocotronic-Textzeile seine Position so weit zusammengefasst, dass man sich alle weitere Lektüre sparen kann:

    Wahrscheinlich hat Schirrmacher gar keine Zeit,
    Twitter ist gut doch die Welt noch nicht bereit.

    Natürlich kommen bei mir mehr Informationen an als ich verarbeiten kann. Das würde ich aber nicht unbedingt auf das Internet oder das Social Web im Besonderen zurückführen. Eine Mailbox, in der sich 2578 ungelesene Emails virtuell stapeln ist hat für mich keinen sehr viel größeren Aufforderungscharakter als der Stapel un- oder halbgelesener Bücher, die sich in meinem Haus physisch stapeln. Warum sollte mein Hirneiweiß durch den einen Informationsstau veranlasst sehen, neue Formen des Verklumpens zu bilden als bei dem anderen Informationsstau?

    Zwar gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem gedruckten Informationsüberfluss – jeder, der schon einmal eine Zeitung wie z.B. Schirrmachers FAZ abonniert hatte, weiß wie alte Zeitungsausgaben dazu neigen, den Lebensraum zu verstopfen – und der neuen digitalen Unübersichtlichkeit. Aber begleitend zu den neuen Überforderungsphänomenen gibt es neue Coping-Mechanismen. Zum Beispiel Blackberry: Klar signalisiert mir das blinkende rote Licht immer wieder, dass neue Informationen abgerufen oder aufgenommen werden wollen. Wenn ich das Smartphone umdrehe, so dass die rote Leuchte nach unten zeigt, sehe ich das Blinken nicht mehr. Ein einfacher Trick, millionenfach bewährt.

    Und auch für digitale Informationskanäle wie Twitter gibt es so etwas. Das Geheimrezept lautet “einfach mal ignorieren”. Vielleicht ist es hierbei von Vorteil, wenn man sowieso so vielen Menschen folgt, dass man mit dem Lesen nicht mehr hinterherkommt? Ich folge knapp 2.500 Menschen auf Twitter. Keine Chance, auch nur annähernd up to date zu bleiben mit all ihren Gedanken, Ängsten, Banalitäten, Entdeckungen etc. Das schnelle Tempo führt dazu, dass ich mich ganz bewusst an bestimmten Informationen oder Personen orientiere. Was jemand explizit mir mitteilen möchte (also @furukama-Botschaften), bekomme ich mit. Ebenso alles, was die Handvoll Menschen schreibt, die mir besonders wichtig sind (dafür habe ich eine Twitter-Liste). Für den ganzen Rest entwickelt sich so eine Art Flow-Gefühl, ein Schweben über dem Informationsstrom, von dem ich nur hin und wieder einzelne Gedanken mitbekomme, mehr nicht.

    Der einzige Punkt, der an dieser Debatte wirklich interessant ist: Wie passen die Diagnosen der letzten Schirrmacher-Werke zusammen? Hier wird es wirklich spannend. Auf der einen Seite der Methusalem-Komplott in dem die Älteren die Macht übernehmen und den Staat von oben bis unten umkrempeln. Auf der anderen Seite die immer schwächeren nachwachsenden Generationen, die aber mit Twitter, iPhone und Facebook das, was sie an Masse und Macht verloren haben, durch Geschwindigkeit wieder wettmachen wollen? Droht hier tatsächlich ein Krieg der Alten gegen die Jungen bzw. der jederzeit erreichbaren Echtzeitgehirne gegen die in Offline-Idyllen schwelgenden Altersrassisten? Und vor allem: Wo steht ein Schirrmacher in diesem Tohuwabohu?

    Vielleicht zum Abschluss noch einen theologischen Gedanken. Das passt ganz gut zur Adventszeit, die übrigens ebenfalls zwei Gesichter hat: ein helles, fröhliches Süßer-die-Glocken-nie-klingen-Gesicht, und gleichzeitig aber auch ein kulturgeschichtlich sehr viel älteres düsteres Gesicht einer Endzeit, in der man schwarz getragen hat und gefastet hat und weder heiraten, noch sich in der öffentlichkeit freuen durfte. Die glückselige Informationsarmut des vom Netz genommenen Methusalems ähnelt tatsächlich einem paradiesischen Zustand. Das Paradies ist nämlich sogar etymologisch nichts anderes als ein früher “walled garden” (pairidaeza), in dem es keine Information gibt, da es sich um einen statischen Zustand handelt und Information immer bedeutet: ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Ich finde hier die Theologie der Talking Heads am überzeugendsten, die den Himmel wie folgt beschreiben:

    Heaven, heaven is a place,
    a place where nothing, nothing ever happens
    Heaven, heaven is a place,
    a place where nothing, nothing ever happens

    Das Gegenteil von dieser himmlischen Zeitlosigkeit sind die zutiefst irdischen digitalen Echtzeit-Informationsströme, in denen jeden Tag etwas neues passiert, jeden Tag neue Personen in den Timelines auftauchen, jeden Tag andere Verknüpfungen der potentiell globalen Netzwerkgesellschaft aktualisiert werden.

    Siehe dazu auch:



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