Gastbeitrag von Dr. Stefan Groß-Selbeck in der Financial Times Deutschland vom 8. Februar 2011.
Derzeit debattieren praktisch in allen Ländern, in denen sich die digitale Revolution vollzieht, zwei Parteien miteinander, deren Standpunkte gegensätzlicher nicht sein könnten. Der Ausgang der Debatte ist von herausragender Bedeutung für die digitale Welt von morgen. Das Thema: Datenschutz. Dabei ist schon das Wort missverständlich. Denn es geht nur sekundär um den Schutz von Daten: in allererster Linie geht es um unser Konzept von Privatheit („Privacy“). Wie stellen wir unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters einen angemessenen Schutz der Privatsphäre sicher – und machen uns gleichzeitig die Segnungen der modernen Datenverarbeitung nutzbar? Wie schaffen wir einen vernünftigen Ausgleich zwischen dem Schutzbedürfnis des Einzelnen und den Möglichkeiten der neuen Technologien? Wie entwickeln wir unser Verständnis vom in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts postulierten „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ weiter, ohne zu ignorieren, dass damals – aus informationstechnologischer Sicht – noch die Bedingungen der Steinzeit herrschten?
Die beiden Parteien scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen. Auf der einen Seite sind die Traditionalisten. Voller Sehnsucht nach einer Welt ohne Internet sorgen sie sich um unsere Zukunft. Das Internet ist für sie ein Ort ohne Regeln, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Sie sehen in digitalen Technologien vor allem einen „Angriff auf den ‚Geheimniszustand‘, der für die bürgerliche Privatsphäre wesentlich ist“ (Norbert Bolz). Angriff aber bedarf der Verteidigung, Bedrohung der Eindämmung.
Auf der anderen Seite stehen die Radikal-Digitalen. Mehr oder weniger verklausuliert verkünden sie das „Ende der Privatheit“ und erklären das technisch Mögliche zum normativ Gewollten. Privacy sei schlicht nicht zeitgemäß – und wer nicht wolle, dass andere wissen, was man gerade tue, solle es einfach nicht tun (Eric Schmidt).
Keine dieser Positionen wird den Bedingungen der digitalen Revolution gerecht. Das gilt ganz offensichtlich für die Traditionalisten. Denn Nostalgie hilft nicht weiter bei der Gestaltung unserer digitalisierten Lebenswelt. Niemand kann im Ernst die Segnungen der Digitalisierung bestreiten. Auf die sollten wir nicht verzichten.
Aber auch die Advokaten der gläsernen Zukunft laufen fehl. Denn sie verkennen ein simples Faktum: Zwar wird Privatheit heute insbesondere von jungen Menschen (den „digital natives“) anders verstanden und gelebt – aber sie hat an Relevanz nicht eingebüßt. Wer mit digitalen Medien lebt, kann kommunizieren, publizieren und interagieren wie nie zuvor. Menschliche Grundbedürfnisse nach Austausch, Information und (gefühlter) Nähe zu anderen werden einfacher und effektiver erfüllt als je zu vor. Und die Menschen nutzen diese Technologien: sie chatten, „liken“ und kommentieren, was das Zeug hält – sie teilen sich mit. Wenn man sie aber fragt, wie viel Wert sie dabei auf die Sicherheit ihrer Daten legen, dann erhält man eine klare Antwort: sehr viel. Bei einer repräsentativen Umfrage, die XING gemeinsam mit tns infratest im vergangenen Jahr durchgeführt hat, zeigte sich, dass das Thema „Sicherheit“ als der wichtigste Aspekt bei sozialen Netzwerken angesehen wurde: Über 70% aller repräsentativ befragten fanden es wichtig oder gar sehr wichtig, dass ihre persönlichen Daten gut aufgehoben sind. Das lässt nur einen Schluss zu: Der Nutzer mag bereit sein, Informationen mit anderen zu teilen – aber zu seinen Bedingungen. Er will Kontrolle über seine Daten.
Damit ist die Aufgabe klar beschrieben, vor der alle stehen, die in den digitalen Medien Verantwortung tragen. Unternehmer müssen die Möglichkeit haben, Innovationen voranzutreiben und dabei neue Grenzen auszutesten. Dabei dürfen sie ihre Kunden – aber auch die Gesellschaft insgesamt – nicht überfordern. Der Schlüssel dazu ist Vertrauen durch Transparenz. Gleichzeitig spielt der Regulierer eine maßgebliche Rolle. Ihm obliegt es, Innovation zu ermöglichen und zugleich einen klaren Rahmen zu setzen. Das derzeitige Datenschutzrecht erfüllt diese Anforderungen nicht. Weil es für die Anwender keine eindeutigen Regeln setzt und nicht technologieunabhängig wirkt, ist es kein klarer Wegweiser für Innovation. Weil es nur die im Geltungsbereich ansässigen Unternehmen bindet, verzerrt es den Wettbewerb. Und weil es für den Nutzer nicht transparent ist, schafft es kein Vertrauen. Ohne das Vertrauen der Nutzer aber werden wir das Potential der digitalen Technologien nicht ausschöpfen können. Das zu gewärtigen lohnt sich – nicht nur am heutigen Safer Internet Day.
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»Über Daten und Fakten lässt sich trefflich streiten. Werte handelt man aus.« (Peter Kruse)
Lieber Stefan! Es ist schon bemerkenswert, dass mein Kommentar das Erste überhaupt in diesem Beitrag ist. Mag sich in dieser Sache niemand äußern oder hast Du den Punkt bereits vollständig umrissen? Wo sind die anderen?
Für mich spielt in erster Linie einer Zukunft die informative Transparenz die größte Rolle. Sie sollte Bestandteil einer gerade auszuhandelnden Gesellschaftsordnung sein, die für mich nicht das Wort “digital” in der Überschrift trägt.
Außerdem unterscheide ich (zunächst für mich persönlich) klar zwischen der vollständigen Aufgabe der Privatsphäre und der Bereitstellung von Wissen in adäquater Form, inklusive der dialogorientierten Teilbarkeit solchen Wissens. Hier hilft die Technologie.
Ich finde schon, dass es Zeit ist, gerade jetzt, die Verhandlungen zu intensivieren.
Nehmen wir als Beispiel die Entwicklungen in der Medizin. Hier gibt es enorm viel Aufholbedarf in der Bevölkerung. Viele Menschen müssen wieder mehr über gesundheitliche Zusammenhänge erfahren und Kompetenz entwickeln, sich im Vorfeld – mittels informativer Transparenz – einer Krankheit gesünder zu verhalten. Übrigens aus wachstumsorientierten und volkswirtschaftlichen Begründungen heraus.
Dafür ist es wichtig, möglichst viele Informationen über gesundheitliche Zusammenhänge in die Verlängerung der digitalen Welt zu überführen. Nicht zum reinen Nachschlagen und Konsumieren dieser Information. Sondern dialogorientiert; damit jeder Einzelne Kompetenzen entwickeln und teilen kann, die ihm selbst und seinem Nächsten helfen können. Am besten im Dialog mit seinem Arzt und anderen medizinischen Institutionen.
Es geht weniger um akut-medizinische zusammenhänge, als vielmehr um Prävention hinsichtlich der Rückführung jahrezehntelanger Fehlstellungen im Umgang mit Geist und Körper.
Der Arzt wird ein wichtiger Faktor bleiben. Doch verwechseln so viele Menschen den Arzt mit der Autowerkstatt. Zu oft wird zu lange gewartet und es kommt zum Äußeren. Selbst danach ist es aufgrund vorhandener Muster, die durch anerzogene Vollkaskomentalität des Systems und der Gesellschaft in Co-Produktion herbeigeführt wurden, schwer, sich von jetzt auf gleich eine gesundheitsfördernde Haltung anzueignen. Kommende Generationen sollten eine informative Transparenz erleben, das eigenes Fehlverhalten so selten wir möglich wird.
Der Wachstumsmotor Gesundheit kann jedoch nur dann profitieren, wenn er als mittlerweile größter Anteilseigner an der Volkswirtschaft (nicht nur) in Deutschland weiterhin profitieren will. Wir verfügen bereits über eine weitestgehend (aus-)differenzierte Medizin. Große Sprünge sind in jüngerer Zukunft nicht zu erwarten und stünden auch nicht der ganzen Gesellschaft mit einem Schlag zur Verfügung. Zunächst ist der Mensch als Individuum gefragt.
Prävention beginnt für mich beim Miteinander. Arbeitskultur, virtuelle Selbsthilfegruppen unterstützt und gefördert von der Medizin, die Ihr Wissen nicht hortet. Das sind nur einige Beispiele.
Die Situation heute zeigt das. 76% der Behandelten recherchieren vor oder nach einem Besuch beim Arzt im Internet nach Zusammenhängen. An dieser Zahl ist die Sucht nach Transparenz sichtbar, die durch die Intransparenz eines Systems gefördert wird. Auch der Arzt hat weniger Zeit als früher. Auch hier hilft die informative – von der Technologie gestützte – Transparenz.
Richtig verstanden können Soziale Netzwerke so einen Beitrag leisten.
Du (Stefan) schreibst: »Der Nutzer mag bereit sein, Informationen mit anderen zu teilen – aber zu seinen Bedingungen. Er will Kontrolle über seine Daten.«
Das unterschreibe ich sofort und außerdem: Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit. Eine wichtige Erkenntnis, die gerade die Arbeitswelt verstehen muss und damit auch die Teilnehmer eines Social Business Netzwerks.
Es ist wichtig, die Stigmatisierung von Krankheit, egal welcher Form durch Transparenz zurückzudrängen. Denn nur wer sich in einer neuen Gesellschaftsordnung aufgehoben fühlt, kann diese mitgestalten und teilt sein Wissen über physische und seelische Gesundheit betreffende Zusammenhänge, möglichst breitenwirksam.
Das wiederum erhöht die Serendipität bei Betroffenen – möglichst medienkompetent – an die richtigen Informationen zu gelangen und sich über den Faktor Kompetenz, gepaart mit Dialog, zu einem Botschafter des Wissens zu entwickeln. Diesen Umstand muss man nicht auf die Gesundheit beschränken. Sie gilt für viele Zusammenhänge einer Gesellschaft.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht allein über technische Begebenheiten einer Privatsphäre diskutieren dürfen. Die reine Reduzierung auf das Technische Schutzbedürfnis verstärkt den Faktor einer Bedrohung vs. digitaler Wertschöpfung.
Der Dialog, der Umgang im Miteinander und im Übertrag persönlicher Entscheidungen auf die Gemeinschaft sind wichtige Punkte, die wir bei der Diskussion um ein globales Regelwerk berücksichtigen sollten. Vertrauen steht hier an erster Stelle.
Übrigens: Die Frage ist doch nicht, welches Netzwerk ich nutze und für welchen Zweck, sondern welchen Grad an Vernetzung ich in meinem Leben zulasse?!
Das Potenzial digitaler Technologien werden wir also nur ausschöpfen, wenn wir eine Diskussion zunächst mit den emotionalen, auch freiheitlichen Grundbedürfnissen beginnen. Nicht falsch verstehen. Freiheit ist nicht mit bedingungsloser Transparenz gleichzusetzen.
Auch Krankheit isoliert immer noch zu viel, nimmt den Einzelnen gar in Geißelhaft und die stellt eine anzunehmende Freiheit in Frage. Informative Transparenz, auch der nicht Betroffenen, schenkt Freiheit.
Die oben angesprochenen Grundbedürfnisse sind zwar von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich, zeigen aber eine beeindruckende Schnittmenge, wenn man den Schleier hebt. Ich erlaube mir den Verweise auf die Empathie mit den Menschen in Ägypten.
Bereits 1910 schrieb Hudson Maxim in dem Buch “Die Welt in 100 Jahren”: »Die Gegenwart ist ein Zeitalter mechanischer und chemischer Entdeckungen und Erfindungen. Sie ist eine wissenschaftliche Epoche und eine Periode materieller Vollendung; ihr aber wird eine soziologische Zeit folgen, eine Ära der ethischen und philosophischen Vollendung und der Entwicklung einer höheren psychischen Kultur – kurz eine Reife der geistigen und moralischen Eigenschaften, die zu höchster Blüte gelangen werden.
Hat er hier zu hoch gegriffen. Die 100 Jahre sind schon abgelaufen und wir sind noch weit davon entfernt. Obwohl. Er konnte so vieles nicht wissen und das Vorhandensein neuer Technologien schon gar nicht. In wie weit Soziale Netzwerke wie XING einen Einfluss haben dürften, stelle ich hier erweitert zur Diskussion.
Soweit mein Plädoyer für informative Transparenz des Individuums.