Das Gute hinter der nächsten Ecke
von lesartige
Leseeindruck von Cora-Lou Kutsch
(12 Jahre)
Im Buch geht es um den 11jährigen Achse, der gemeinsam mit seiner Schwester von seiner Mutter bei den Großeltern zurückgelassen wird. Als einziger in der Familie glaubt er daran, dass sie zurückkommen wird und wartet auf einen Brief von ihr. Doch der Brief kommt nie, stattdessen schickt die Mutter nur Geld. Achse erzählt, wie er mit Hilfe von einer Kamera und einer Kiste alter Fotos in seine Vergangenheit eintaucht und ihn die Hoffnung auf die Rückkehr seiner Mutter nicht loslässt. Dass es um Fotografie bzw. Fotos geht, habe ich schon am Buchumschlag gesehen. Er zeigt ein zerrissenes und wiederzusammengesetztes Foto. Darauf ist ein kleiner Junge zusehen, der von jemandem in die Luft geworden wird. Von wem, ist nicht zu erkennen, denn ausgerechnet dieser Schnipsel fehlt. Hier ist die Abwesenheit der Eltern, von der in der Geschichte erzählt wird, schon abgebildet.
Auch ein vorangestelltes Zitat kündigt die Bedeutung der Fotografie für das Buch an. Dort heißt es: „Die Fotografie ist ein Hilfsmittel zur Auseinandersetzung mit Dingen, von denen jeder weiß, ohne sich damit zu befassen.“ (Emmet Gowin in: Susan Sontag: Über Fotografie. München, Hanser 1978, übersetzt Gerdtrud Baruch) Das Zitat finde ich sehr schön und es hat mich auf den Text neugierig gemacht. Doch noch vor dem Lesen fiel mir auf, dass auch im Buch Bilder eine große Rolle spielen. Denn jedem Kapitel ist eine schwarzweiße Bleistiftzeichnung vorangestellt. Sie zeigen einen wichtigen Gesichtspunkt des Kapitelinhalts. Viele Illustrationen beschäftigen sich wieder mit dem Thema Fotografie, da sie z. B. Achse mit einer Kamera, einen Stapel Fotos oder auch die Kiste alter Fotos zeigen, die Achse findet. Das Cover, die Illustrationen und der Text greifen so das Thema Fotografie auf, es zieht sich wie ein roter Faden auf mehreren Ebenen durch das Buch.
Patricia MacLachlan hat ihre Geschichte mit einfachen Worten geschrieben. Doch ich habe schnell festgestellt, dass sich hinter ihren Worten meist vielmehr verbirgt, als es auf den ersten Blick scheint. Liest man zwischen den Zeilen, bemerkt man die starken Gefühle, die jede einzelne Person hat. Manche Stellen musste ich sogar ein zweites Mal lesen, um den Hintergrund richtig zu verstehen. Ich finde das Buch deshalb ziemlich anspruchsvoll und es gefällt mir darum auch so gut.
Die Einbandillustration – ein unvollständiges, zusammengelegtes Foto signalisiert die Zerrissenheit einer Familie. Jedoch nicht Hintergründe oder Psychogramm dieser Familie ist Thema des Buches, sondern das Verkraften von Verlassen werden. An den Vater hat der 11jährige Ich-Erzähler Achse fast keine Erinnerungen mehr, das Weggehen der Mutter steht am Anfang seiner Reflektionen. Achse lebt mit der älteren Schwester jetzt bei den Großeltern, die alles Erdenkliche tun, den beiden ein Zuhause zu geben.
Fotografieren, das Zusammensetzen und Zerreißen von Fotos dient als zentrales literarisches Motiv, bestimmt die Vergangenheit, hält Gegenwart fest und konstituiert die sparsamen Reflektionen des Ich-Erzählers. Ein anspruchsvoller Text, der durch Weglassen besticht und Einfühlung und Mitdenken der LeserInnen stark fordert. Claudia Rouvel (Quelle: Der Rote Elefant, Heft 12, Berlin 1994)
Autor: Patricia Mac Lachlan
Illustration: Peter Klaucke
Aus d. Amerk. von Cornelia Krutz-Arnold
Aarau/Frankfurt a. Main / Salzburg 1993, 84 S., ab 10 J.