Der „zweisprachige Grenzvogel“ René Schickele – Journalist, Schriftsteller und früher Europäer
von tergast
René Schickele (1912)
Als Journalist weiß man bisweilen gar nicht mehr zu schätzen, dass man heute eigentlich alles schreiben kann, was einem gerade so in den Sinn kommt (immer vorausgesetzt, jemand druckt es…). Ein Blick in die Vergangenheit ist hilfreich, um sich dieses große Glück zu vergegenwärtigen und sich vergleichend daran zu erinnern, wie es um Publikations- und Meinungsfreiheit einmal bestellt war.
Den Kaiser einen „Scharlatan“ zu nennen, konnte schon ausreichen, damit die komplette Auflage einer Zeitschrift beschlagnahmt wurde. Das musste 1901 der gerade erst 18-jährige René Schickele feststellen, als er eben dies in der dritten Ausgabe seiner jüngst gegründeten Zeitschrift Der Merker tat. René Schickele war jedoch keiner, der sich davon sonderlich beeindrucken ließ. Er hatte bereits vor dem Merker mit dem Stürmer eine erste literarische Zeitschrift gegründet, die nach wenigen Nummern ihr Leben wieder aushauchte, und er sollte Zeit seines Lebens Visionär und Kämpfer bleiben.

Der Bahnhof von Straßburg
um 1910
Schickele wird 1883 in Oberehnheim im Elsass geboren, und seine Herkunft prägt sein Schaffen entscheidend. Das Elsass und Straßburg als dessen wichtigste Stadt waren Anfang des Jahrhunderts in eine neue Phase ihrer Entwicklung getreten. Das Bewusstsein dafür, dass diese Region durch ihr Schweben zwischen den Erzfeinden Frankreich und Deutschland eine Sonderstellung in vielerlei Hinsicht einnahm, war erst bei der Generation der nach 1871 Geborenen wirklich erwacht. Eines, so Schickele, erhebe „das Elsaß über alle Provinzen von Deutschland“, nämlich „die Blüte zweier Traditionen.“ Schickele und enge Freunde wie Ernst Stadler oder Otto Flake erfanden den Begriff des „geistigen Elsäßertums“, mit dem sie die besondere Sensibilität der dort entstammenden Jugend für ihre Vermittlerposition zwischen den Kulturen diesseits und jenseits des Rheins zu bezeichnen suchten.
Beruflich schlägt sich Schickele zunächst als Journalist, Herausgeber und Übersetzer durch. Er ist zwar für ein Studium eingeschrieben, lässt sich jedoch – ganz in der Tradition seiner schulischen Laufbahn, die er auf dem Gymnasium, jedoch ohne Abitur beschloss – nur selten an der Uni blicken.
Von 1909 bis 1911 ist Schickele als Korrespondent in Paris und macht in jener Zeit einen entscheidenden Bewusstseinswandel durch. Ernst Stadler, sein guter Freund, den er in den Gräben des Ersten Weltkrieges verlieren wird, beschreibt die Veränderung so: „Was innerlich lange vorbereitet war (…), vollendet diese Stadt. Ein neues Ideal wird in seiner Seele wirksam: der politische Kampf. Die Ästhetenträume zerflattern.“
Aus Paris bringt Schickele auch ein Buch mit Reportagen mit, Schreie auf dem Boulevard, das ihn als seismographischen Beobachter seiner Zeit ausweist. Er ist nun Redakteur einer Zeitung in Straßburg und würde mit seinem neu erwachten politischen Bewusstsein gerne für den Reichstag kandidieren, kann dies jedoch auf Grund der Altersgrenze von 30 Jahren nicht tun.

1914 erscheint der Roman Benkal der Frauentröster, in dem Schickele noch vor Ausbruch des Krieges dessen Schrecken, Tod und Vernichtung vorher- und auch die Revolution bereits am Horizont aufziehen sieht. Kurz darauf erscheint das Drama Hans im Schnakenloch. Hauptfigur ist ein Elsässer, der zwischen den symbolisch durch zwei Frauen verkörperten Nationen schwankt. Die Vielschichtigkeit des elsässischen Wesens soll hier ebenso zum Ausdruck kommen wie das Fühlen zweier Seelen in der Brust. Schickele selbst bezeichnet sich zu jener Zeit als „zweisprachigen Grenzvogel“.
1915, mittlerweile nach Berlin übersiedelt und für den Wehrdienst untauglich erklärt, übernimmt Schickele die Leitung der Zeitschrift Die weißen Blätter, die als Konzentrationspunkt expressionistischer Bestrebungen gilt. Hier zeigt er seine ganze Könnerschaft als Herausgeber und Redakteur und macht die Weißen Blätter zur wichtigsten Zeitschrift der modernen Literatur. Unter den Mitarbeitern jener Zeit finden sich so illustre Persönlichkeiten wie Heinrich Mann, Gottfried Benn, Franz Kafka oder auch Johannes R. Becher. Immer wieder hat er auch in jener Zeit Probleme mit der Zensur, setzt jedoch letztlich immer seinen pazifistischen Anspruch internationalen Zuschnitts durch.
Nach dem Krieg fällt das Elsass wieder an Frankreich und René Schickele zieht nach Badenweiler. Von dort aus mehrt er seinen literarischen Ruhm; die 1920er- und 1930er-Jahre dürfen als Höhepunkt seines Schaffenskraft gelten. Der Erfolg kommt vor allem mit dem drei Romane umfassenden Werk Das Erbe am Rhein, welches das allgegenwärtige Grundthema Elsass erneut variiert.

Sanary-sur-Mer, Hauptstadt
der deutschen Exilliteratur
Schickeles visionäre Fähigkeiten lassen ihn auch zu Beginn der 1930er-Jahre nicht im Stich. Er sieht schon bald eine „politische Sonnenfinsternis“ heraufziehen, verlässt Deutschland und emigriert ins südfranzösische Sanary-sur-Mer, nach Ludwig Marcuse die „Hauptstadt der deutschen Literatur im Exil“. Dort verfasst er als Beobachter der Szenerie in Deutschland den Roman Die Witwe Bosca, über den Thomas Mann äußert, er sei „Crème, Blüte, Spitze, das Äußerste an heiterer und gesunder Verfeinerung“. Schickele selbst legt allerdings Wert darauf, dass es sich um eine „Auseinandersetzung mit dem in Mord und Tod verstrickten Europa“ handelt.
1938 schließlich, zwei Jahre vor seinem Tod in Vence, erscheint Le Retour, Schickeles einziges Buch in französischer Sprache: Erinnerungen eines Schriftstellers, der sein Heimatland und seine Muttersprache nur noch im Herzen besitzen kann.
Eine Beschäftigung mit dem Werk René Schickeles ist im Hinblick auf den europäischen Gedanken und die Versöhnung zwischen den Völkern heute mehr denn je zu empfehlen.
René Schickele im ZVAB
Sommernächte (1902)
Der Ritt ins Leben (1906)
Der Fremde (1909)
Weiß und Rot (1910)
Meine Freundin Lo (1911)
Das Glück (1913)
Schreie auf dem Boulevard (1913)
Benkal der Frauentröster (1914)
Die Leibwache (1914)
Trimpopp und Manasse (1914)
Aissé (1915)
Hans im Schnakenloch (1915)
Mein Herz, mein Land (1915)
Der neunte November (1919)
Die Genfer Reise (1919)
Der deutsche Träumer (1919)
Am Glockenturm (1920)
Die Mädchen (1920)
Die neuen Kerle (1920)
Wir wollen nicht sterben! (1922)
Das Erbe am Rhein (1926 – 1931)
Symphonie für Jazz (1929)
Die Grenze (1932)
Himmlische Landschaft (1933)
Die Witwe Bosca (1933)
Liebe und Ärgernis des D.H. Lawrence (1934)
Die Flaschenpost (1937)
Stichwörter:
19. Jahrhundert, Deutschland, Elsass, Europa, Frankreich, Krieg, Pressefreiheit, Schickele, Versöhnung3 Kommentare
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Albert M. Debrunner schrieb am May 29, 2008:
Wunderbar, dass wieder einmal jemand Schickele ausführlich würdigt und dazu aufruft, sich mit diesem Autor und seinem Werk zu beschäftigen. Schade nur, dass Schickeles Schweizer Jahre unerwähnt bleiben. Schickele hat von 1915 bis 1919 in der Schweiz gelebt und sich unermüdlich für den Frieden eingesetzt. Im Schweizer Exil wurden die von ihm herausgegebenen “Weissen Blätter” zum bedeutendsten Forum des Pazifismus während des 1. Weltkrieges.
Hans-J. Singer schrieb am July 9, 2008:
Danke auch für den Schickele-Artikel. Ich halte ihn für einen der besten Erzähler des zwanzigsten Jahrhunderts (habe nach langen Mühen vor einigen Monaten antiquarisch “Das Erbe am Rhein” aufgetrieben und mit Begeisterung gelesen) – so kann kaum noch einer heute erzählen.
Annemarie Post-Martens schrieb am July 1, 2017:
Hallo, Ihr Lieben, sehe dies erst jetzt…
Schickeles besondere Art zu schreiben, hatte ich damals bewusst „Mach-Art“ genannt, um auf das Appellative seines Schreibens zu verweisen (mach Art!). Heute ist diese Kunst/Art erst in die Niederungen unserer Kultur-Szene gedrungen – nicht immer sehr gelungen, wenn im Theater der Zuschauer zu Kommentaren oder Ähnlichem animiert wird. Doch manchmal gelingt der Einbezug, so dass der Rezipient/Konsument zum Eingreifen oder Mitmachen bewegt werden kann, um so selber in die Rolle des Produzenten zu geraten (und die Bedeutung dieses Vorgangs hoffentlich reflektiert!).
Der Appell der Dichtung, selber aktiv zu werden, zeigt sich – wie Schickele bemerkt – auch (nicht nur, nicht erst) schon bei Hölderlin. Dessen Dichtkunst provoziert den Leser geradezu zum Nach-denken und Mit-vollziehen.
Leider reichte bisher die Zeit nicht, mein Vorhaben, nämlich Schickeles Erkenntnis, wohin die wunderbare Dichtkunst Hölderlins schließlich im sog. Dritten Reich der Nazis führte, unter dem Titel: „Vom Traum zum Albtraum: Von Hölderlin zu Schickele“ zu (be)schreiben. Schaut Euch doch bitte, bitte einmal genauer Schickeles „Der Preuße“ an und vergleicht mit Hölderlins Ideen: angefangen im Tübinger Stift mit Hegel und Schelling und dem Losungswort „Reich Gottes“, in dem die Kunst Königin werden sollte. Der Lehrer in Schickeles Roman (wie Grand’Maman, in den 30ger Jahren geschrieben, aber erst aus dem Nachlass veröffentlicht) heißt sicher nicht zufällig „Herder“ und behandelt in kritischer Stunde Hölderlins „Patmos“. („Direktor Schnurr“ in Kap. VIII – kein Fingerzeig auf Schnurrer, dem 1777 die Leitung des Tübinger Stifts von Herzog Carl Eugen von Württemberg übertragen wurde?) …
Es ist wie ein Spurenlesen: der Autor setzt uns auf die Fährte und wir sind gezwungen, unsern Geist anzustrengen. Nicht umsonst spricht Schickele von der „Verkalkung der herrschenden Klasse“ (WIII, S. 1001); der gilt es – wie schon Hölderlin versuchte – vorzubeugen… Schaffen wir das??