Der freie Wille der Kneipenphilosophen
von konecnyEine Weihnachtsgeschichte

Die alte Linde ächzt unter Zentnern von Schnee. Eine Schar Kinder schiebt ihre Schlitten die Straße hinauf zur Kapelle des Heiligen Johann, um eine Viertelstunde später wieder nach unten zu rasen, bis zum eingefrorenen Fluss. Hier streut man erst, wenn die Kinder den ersten Schönschnee zu Eis gefahren haben. Sogar ein Schellenschlitten kündigt sich mit seinem Läuten an. Hoffentlich rückt nicht wieder mal der Großvater Frost aus Russland an, um das Jesuskind aus der Stillen Nacht zu prügeln. Nein! Jetzt waltet der Winter in Mähren, nicht der Prager Frühling! Keiner nimmt dir dein Weihnachtsglück! Deine neue Heimat Deutschland liegt weit weg – München hockt auf dem Gipfel der gezuckerten Zugspitze. Du bist zu Hause! Durch das Fenster deiner alten Stammkneipe beguckst du die Schönheit der mährischen Weihnacht und erweiterst dein Bewusstsein mit Bier der Marke Radegast – nach einem Slawengott benannt. In Mähren ist jedes Glas Bier eine Opfergabe an Gott! Ja! Hier sind auch Götter Biertrinker, saufen öffentlich und aus Freude und nicht heimlich und vor lauter Frust über ihre Schäfchen wie der Gott der Katholiken, zu dem die Leute in Mähren auch gehören. Dass unser katholischer Gott hin und wieder besoffen irgendwo rum liegt, ist wohl klar – sonst ist manches in der Welt nicht zu erklären. Heiliger Abend am Vormittag in Mähren!
Eine vermummte Gestalt stürmte die Kneipe. „Alfons!“, brüllte Pepa und zeigte auf mich. „Guck! Der Deutsche ist wieder da!“
Der Steinmetz Alfons packte von der Wirtin sein Bier und hockte sich zu uns. „Na?“, fragte er. „Was machen die Germanen? Wollen sie wieder Rom einnehmen? Über den Limes marschieren? Auf ihren Schutzschilden die südlichen Alpenhänge herunter schlittern?“
„Die Germanen sind jetzt Apostel der Friedensbewegung!“, sagte ich und stieß mit Alfons an. „Also etwas Respekt, bitte!“
„Ich trink nur das eine!“, sagte Alfons. „Muss meiner Alten den Karpfen bringen. Sonst verdrischt sie mich wieder! Meine Frau wird mir zunehmend fremd. Je älter du bist, umso mehr wirst du durch fremde, dunkle Mächte gesteuert.“
„Du hast doch deinen freien Willen, Mann!“, sagte Pepa. „Von dem redest du ständig. Von deinem Onkel Schopenhauer und so! Hau deiner Alten einfach aufs Maul, wenn sie dir wieder mal brutal kommt!“
„Sie ist stärker als ich“, sagte Alfons. „Ich bin durchs Denken geschwächt. Den freien Willen gibt’s sowieso nicht mehr! Den haben die Gehirnforscher abgeschafft. Sie haben gemessen, dass der Mensch handelt, bevor er denkt. Nichts Neues für mich! Das war schon immer so. Auf jeden Fall bist du nicht der Schmied deines Glückes. Dein Leben ist eine irre Aneinanderkettung von unglücklichen Zufällen, die du dir in der Kneipe zu etwas Schönem dichten musst!“
„Eine etwas depressive Einstellung am Heiligen Abend!“, sagte ich.
„Aber wahr!“, sagte Alfons. „Den Heiligen Abend vor einem Jahr hatte ich bis ins Detail geplant: in Ruhe und Frieden und mit selbst gebranntem Sliwowitz am Abend und einem Karpfen im Bauch, nach dem es sich schön philosophieren lässt. Stattdessen hat’s Terror gegeben!“
Die Wirtin stellte vor uns frische Biere. „Ich muss gleich nach Hause!“, sagte Alfons. „Sonst tobt meine Frau wieder!“
„Soll ich das Bier dann wieder wegnehmen?“, fragte die Wirtin, doch Alfons riss es ihr aus der Hand und hob das Glas hoch. Er wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe und legte los: „Letztes Jahr hat meine Alte mich gleich in der Früh zum Metzger geschickt, den Karpfen zu holen. Ich wollte eigentlich Sliwowitz schmecken! Und dabei an den großen Boltzmann denken, den Kleingeister in den Selbstmord getrieben hatten! Wie viel Entropie wird beim Austrinken einer Flasche Sliwowitz dem Weltall zugeführt? Wie viel Wärme wird dabei freigesetzt? Stattdessen musste ich in die Kälte! Wo war da mein freier Wille geblieben, verdammt? Nach dem Willen meiner Alten sattelte ich mein Mofa und fuhr los. Leider waren die frischen Karpfen bei unserem Metzger aus. Ich rief meine Alte an, ob ich einen eingefrorenen Fisch bringen könnte, aber nein, sie will einen frischen. ‚Wir werden doch keinen Karpfen aus der Gefriertruhe essen!“, kreischte sie. „Warum hast du den Karpfen nicht früher gekauft? Den haben wir doch jedes Jahr ein paar Tage in der Badewanne.’

‚Weil ich meine Badewanne nicht mehr mit Fischen teilen will!’, sagte ich, hockte mich aufs Mofa und fuhr nach Ostrava. Saukalt! Der eisige Wind peitschte auf die Haut an meiner Brust!“
„Was?“, fragte Pepa. „Bist du auf dem Mofa nackt gefahren?“
„Nö!“, sagte Alfons. „Ich hatte aber nur das Hemd unter dem Mantel, hab ja gedacht, dass ich gleich wieder heim bin. Genau hinter den Lücken zwischen den Knöpfen meines Mantels befanden sich aber auch die Lücken zwischen den Hemdknöpfen und drunter kein Unterhemd. So raste ich auf meinem Mofa, der eisige Wind blies mir entgegen und geißelte durch diese Lücken meine nackte Haut. Ich hielt an und zog mir den Mantel mit der Rückseite nach vorne an, also mit den Knöpfen nach hinten. Gleich war mir wärmer. In Krmelin stand vor der Bäckerei eine Schlange, daneben eine Menge Leute ums Bäckereifenster herum, sie schlürften Glühwein aus ihren dampfenden Tassen. Der Teufel flüsterte mir zu: halte an und trink eine heiße Tasse Wein, doch der freie Wille meiner Alten, der bei mir im Hirn eine kleine Sendeanstalt hat und nonstop sendet, sagte mir: fahr weiter, sonst gibt’s Schläge! Auch mein freier Wille mischte sich ein: Bleib standhaft, sagte er mir, gleich trinkst du zu Hause Sliwowitz! Ich fuhr also weiter! In Ostrava kaufte ich den Karpfen und bretterte auf dem Mofa zurück. Es schneite wie verrückt. Und wieder Krmelin und die Bäckerei. Ich wollte auch jetzt auf dem Rückweg dem Glühwein widerstehen, mein freier Wille bildete zusammen mit dem freien Willen meiner Alten eine unbeugsame Front gegen die Einflüsterungen des Teufels – ich blicke nur schnell zu dem Bäckereifenster rüber, ob die Glühweintassen immer noch so hübsch dampfen würden, gucke zurück auf die Strasse, zucke dabei UNGEWOLLT nur ein bisschen mit dem Lenker, und der frische Schnee auf dem Asphalt wird zur Todesfalle. Das Mofa rutscht aus! Das Vorderrad macht eine Pirouette um 180 Grad, der Impuls von 40 Kilometern pro Stunde wirkt plötzlich gegen mich, ich fliege über den verdrehten Lenker, schlage Saltos und lande auf dem Rücken im großen Schneebett am Rand der Straße: Ein frisch aufgeschütteltes Bett – weich wie in Daunen lande ich und liege. Schön! Hoch fliegen und… liegen! Auf dem Rücken in den Schneeflocken, sie fallen dir in den Mund, bedecken deine Augenlider, als streuten Götter Blütenblätter weißer Rosen auf den Körper der toten Schneekönigin! Liegen bleiben ist die vornehmste Äußerung des freien Willens eines Mannes! Bald würde der Schnee über mir einen Grabhügel bilden: hier liegt Alfons, dessen freier Wille nie so richtig wusste, was er wollte, doch schon eilten die Glühweintrinker von der Bäckerei zu mir. Keiner hob mich aber hoch! Sie blieben vor mir stehen, und beglotzten mich mit Schreck in den Augen! Wie ich da in meinem Mantel lag, den ich wegen des eisigen Windes mit der Rückseite nach vorne angezogen hatte. ‚Schaut!’, sagte plötzlich eine Frau. ‚Er muss sich das Genick gebrochen haben. Sein Gesicht ist verkehrt rum!’ Das sagte sie und fiel auch gleich in Ohnmacht.
Ich stand auf, um sie zu beruhigen. ‚Auch seine Füße sind verkehrt rum!’, kreischte ein Kind, und eine andere Frau wurde ohnmächtig. Ich schritt auf die Leute zu, und sie liefen vor mir davon. ‚Ich hab mir nur den Mantel mit der Rückseite nach vorne angezogen!’, brüllte ich. ‚Wegen des eisigen Windes!’“
Wir lachten. Die Wirtin brachte neues Bier. „Ich muss gleich heim!“, sagte Alfons. „Meine Alte wartet auf den frischen Karpfen!“
„Dann hast du doch alles gut überstanden!“, sagte ich.
„Die Geschichte ist noch nicht zu Ende!“, sagte Alfons. „Der Zufall hat wieder mal gesiegt! Der freie Wille meiner Alten und mein freier Wille mussten sich dem Zufall und den neuen und unvorhergesehenen Umständen beugen! Die Leute in Krmelin wollten mich einfach nicht gehen lassen. ‚Du musst ein paar Tassen Glühwein trinken!’, riefen sie. ‚Damit wir uns von dem Schock erholen!’ Konnte ich das ablehnen? Das wäre doch unhöflich gewesen! Mein Mofa war sowieso hin. Nach etwa zwei Stunden war mir dank des Glühweins warm genug, und so wanderte ich über den Hügel zu Fuß nach Hause. Meine Alte war schon ziemlich ungehalten wegen des langen Wartens. Sie riss mir die Tüte aus der Hand, und als ihr meine Glühweinfahne entgegen schlug, wurde sie noch wütender. ‚Vier Stunden warst du weg!’, kreischte sie. ‚Du Nichtsnutz, du!’ Sie holte den Karpfen aus der Tüte. ‚Der ist ja ganz eingefroren! Ich wollte einen frischen!’ Vor lauter Wut schlug sie mit dem Karpfen gegen die Tischkante und machte dort eine Delle damit! Während meiner Glühweinreha und des langen Marsches über den Hügel war der Scheißfisch eingefroren. ‚Du Versager, du!’, schrie meine Frau. ‚Jetzt ist wegen dir unser neuer Tisch kaputt!’ Sie musste Dampf ablassen, wollte aber keine Möbel mehr beschädigen, so schwang sie den eingefrorenen Karpfen gegen mich wie eine Keule, und brachte mir damit eine Platzwunde am Kopf bei. Der Schwager hat mich zum Nähen nach Ostrava in die Klinik gefahren. Auf dem Rückweg machten wir dann in Krmelin zusammen eine Glühweinpause, weil’s der freie Wille meines Schwagers so wollte, und die Medizin sowieso – der Schwager meinte, bei meinem Blutverlust müsse ich Rotwein trinken – damit sich neue rote Blutkörperchen bilden konnten. Nach dem Glühwein mit dem Schwager war der Heilige Abend auf jeden Fall gelaufen.“
Der Steinmetz Alfons trank sein drittes Bier aus und drehte sich zur Wirtin. „Gib mir noch eins!“, sagte er. „Dann muss ich aber gleich heim! Sonst kriegt meine Alte wieder Kollaps.“ Er guckte auf seine Uhr. „Auch heute konnte sich mein freier Wille irgendwie nicht durchsetzen. Die Kneipe stand uns im Wege!“
Nach dem vierten Bier stand Alfons aber tatsächlich auf. Durchs geöffnete Fenster konnte ich noch seine Schimpfkanonade draußen vor der Kneipe hören. „Verhurte Arbeit!“, brüllte er. „Jetzt ist der Karpfen wieder eingefroren. Ich hätte ihn doch in die Kneipe mitnehmen sollen!“ Und dann tuckerte sein Mofa schon davon, nach Hause, wo auf Alfons und den eingefrorenen Weihnachtskarpfen sein freier Wille in der Kochschürze wartete.

Bild von Malene Thyssen
Der freie Wille meines Kumpels Pepa und mein freier Wille bestellten noch ein Bier. Wir wollten einfach nichts mehr dem Zufall überlassen. Darauf hatten wir uns geeinigt. Unsere Zufälle mussten durch unseren freien Willen in Gang gesetzt und gesteuert werden. Egal was die Gehirnforscher dazu sagten! Mit unseren Karpfen waren wir vom Metzger sowieso gleich und in voller Absicht in die Kneipe gegangen – uns der Folgen dieser Tat bewusst – und hatten die armen Fische auch mit hinein genommen. Damit sie uns nicht einfroren. Jetzt beglotzten uns die Karpfen andächtig aus dem Wasser in ihren Plastiktüten und überlegten wohl, was heute gegen ihren Willen noch alles passieren würde. So am Heiligen Abend!
19. December 2008Stichwörter:
Altpapiergeschichten, Bier, freier Wille, Jaromir Konecny, Karpfen, Kneipe, philosophie, Weihnachten12 Kommentare
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G. Pantelouris schrieb am January 1, 2009:
Wunderbare Geschichte, bin beim Stöbern auf diesen Autor gestoßen.
Marc Bischoff schrieb am January 5, 2009:
ach, danke Jaromir. Nun ist Weihnachten bereits vorüber, aber ich habe trotzdem herzlich gelacht.
Jaromir Konecny schrieb am January 8, 2009:
Vielen Dank, G. Pantelouris. Das freut mich immer, wenn ich so schön aufgestöbert werde.
Liebe Grüße
Jaromir
Jaromir Konecny schrieb am January 8, 2009:
Danke für den Zuspruch, Marc! Ich hoffe, dass wir uns am 1.02. beim Poetry Slam im Rosenau/Stuttgart sehen. Melde Dich auf jeden Fall bei mir, wenn Du dort auftauchst.
Liebe Grüße
Jaromir
Martini schrieb am January 9, 2009:
Schlicht und… genial!
Marc Bischoff schrieb am January 12, 2009:
he jaromir, ich komme auf jedenfall mit meiner frau und dann trinken wir ein bier zusammen. die oma ist als babysitter gebucht
Gisela Klemann-Dannecker schrieb am January 14, 2009:
Diese Geschichte hätte ich am liebsten in Hörversion, kann mir einige Anlässe vorstellen, bei denen sie gut ankäme … spätestens auf der nächsten Weihnachtsfeier.
Gruß aus Hamburg
Jaromir Konecny schrieb am January 14, 2009:
Vielen Dank für den schlichten Kommentar, Martini! Solch Lob beflügelt mich sehr! Auf meiner Homepage ist (unter Aktuelles) jetzt eine andere Geschichte mit dem Kneipenphilosophen Alfons gepostet:
http://www.jaromir-konecny.de/Aktuelles.htm
Die mährischen Kneipenphilosophen inspirieren mich zu Zeit so, dass ich mit ihnen einen ganzen Geschichtenband füllen könnte. Die nächsten zwei dieser Geschichten hab ich auf jeden Fall im Kopf und schreibe sie auch bald auf.
Liebe Grüße
Jaromir
Jaromir Konecny schrieb am January 14, 2009:
Lieber Gisela,
die Weihnachtsgeschichte wurde sogar bei unserem “Tschechenabend” im Substanz (München) mit Kameras aufgenommen. Wenn Du – ich hoffe, wir können uns duzen – also interessiert bist, kann ich Dir mal die DVD damit schicken. Oder den Link, sollte sie irgendwo im Netz gepostet werden. Leider ist sie für YouTube wohl zu lange. Bis ich die Aufnahme habe, wird’s aber sicher etwas dauern, weil’s der Kameramann noch schneiden muss. Ich weiß auch nicht, ob die Aufnahme gelungen ist.
Liebe Grüße
Jaromir
Rainer Müller-Broders schrieb am January 27, 2009:
Was für eine wunderbare Geschichte. Die Zeit läuft rückwärts und heute abend werde ich bei Kerzenlicht die Geschichte meiner Frau vorlesen. Und wenn wir wieder erwacht sind ist Weihnachten.
Jaromir Konecny schrieb am January 29, 2009:
Vielen Dank, Rainer Müller-Broders, für den Zuspruch und den poetischen Kommentar! Ich war in einer sehr hübschen Stimmung als ich die Geschichte schrieb.
Liebe Grüße
Jaromir
Maria Geir schrieb am February 20, 2009:
Hallo Jaromir!
Habe Deinen blog erst heute gelesen. Ich rieche förmlich das Bier und den süßen Glühwein-Duft.Das macht den Winter erträglich.
Liebe Grüße
Maria