Amok in der Schule: Morton Rhues „Ich knall euch ab!“
von bardola
„Wenn wir nichts daran ändern, wie wir andere innerhalb und außerhalb der Schule behandeln, wird es nur noch mehr – und schrecklichere – Tragödien geben“, schreibt Rhues fiktive Herausgeberin Denise Shipley, Journalistik-Studentin und Stiefschwester von Gary, dem tragischen Protagonisten, mit dessen Abschiedsbrief der Roman Ich knall euch ab! von Morton Rhue beginnt:
Ich hätte mich auch ganz still aus dem Staub machen können, aber das wäre ja noch sinnloser gewesen. Wenn ich so gehe und bei meinem Abgang die Leute mitnehme, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben, dann kommt vielleicht eine Botschaft rüber. Vielleicht ändert sich dann etwas, und irgendwo wird irgendein anderer Junge, der so unglücklich ist wie ich, besser behandelt und findet vielleicht einen Grund weiterzuleben.
Die Geschichte von Gary und Brendan, zwei Außenseitern, die an ihrer Schule gemobbt und geschlagen werden, ist ausgedacht, basiert aber auf verschiedenen Ereignissen, die sich tatsächlich an amerikanischen Schulen zugetragen haben. Sie wird von vielen Stimmen erzählt, von Freunden, Mitschülern, Eltern und Verwandten, Lehrern und Nachbarn. Ergänzt werden die O-Ton-Beiträge um Briefe, E-Mails, Chat-Mitschnitte, Tagebuchaufzeichnungen und Zeitungsartikel. Am Ende dieses Textpuzzles werden die Ursachen für die zunehmende Gewalt an den Schulen immer deutlicher: „Die Geschichte handelt von Leid, Angst und Reue. Vor allem aber soll sie als Warnung dienen. Gewalt hat viele Gesichter“, schreibt Denise Shipley.
Der sensible Gary, der die Scheidung seiner Eltern nicht überwunden hat, und der vorlaute Ballerspiele-Freak Brendan, der nicht nur mit Grammatik und Rechtschreibung Schwierigkeiten hat, werden von den Football-Stars der Schule schikaniert und gedemütigt. Die Lehrer greifen nicht ein, sondern überlassen die Schüler dem Gesetz des Stärkeren. Gary und Brendan sehen keinen anderen Ausweg als Gegengewalt und hecken nach dem Vorbild des realen Amoklaufs zweier Schüler an der Columbine High School in Littleton, Colorado im Jahr 1999 (damals wurden 12 Schüler und ein Lehrer getötet) einen mörderischen Plan aus. Am Tag des Abschlussballs nehmen die schwer bewaffneten Jungen viele ihrer Mitschüler und Lehrer in einer Turnhalle als Geiseln. Doch der Plan gerät außer Kontrolle: Gary erschießt sich selbst und Brendan liegt am Ende mit unheilbarem Hirnschaden im Koma.
Ich knall euch ab! ist zugleich spannende und beängstigende Faction. Aus vielen Mosaiksteinchen ergeben sich die Psychogramme zweier verzweifelter Schüler und es schält sich ein regelrechtes Ursachengeflecht heraus.
Da heutzutage oft beide Elternteile arbeiten und weniger Zeit zu Hause verbringen, liegt es zunehmend in der Verantwortung der Schule, die Kinder zu erziehen und ihnen Werte zu vermitteln. Man erwartet von uns längst nicht mehr nur reine Wissensvermittlung; heute sollen wir die Schüler auch hegen und pflegen, verhätscheln, schützen, ermuntern, bestrafen, wir sollen ihnen Körperpflege und Tischmanieren beibringen. Wenn man als Lehrer sechs Klassen mit jeweils etwa dreißig Schülern hat – wie soll man das dann eigentlich schaffen?,
sagt die ratlose Leiterin der High School, die Gary und Brendan besuchen. Und der Biologielehrer fügt hinzu:
Wir lesen in den Zeitungen, dass heutzutage, wo Eltern alle arbeiten und die Großeltern in Altersheimen leben, nicht mehr so viele Erwachsene da sind, an denen sich die Jungen orientieren können. … Das Fehlen echter erwachsener Vorbilder könnte tatsächlich dazu führen, dass die Jugend sich die Darsteller aggressiver Fernseh- und Videofilme als Ersatzbilder nimmt.

Autor Morton Rhue
Eine Besonderheit dieses Buches liegt darin, dass die verschiedenen Stimmen ein atmosphärisch dichtes Netz bilden, in dem der Leser von einem Querverweis zum nächsten gelangt. Bestürzt und vielleicht sogar verstört stellt er fest, wie sehr am Ende alles zusammenpasst. „Kam mir vor, als wären wir zwei so ein Verbrecherpärchen wie die in Natural Born Killers“, erinnert sich beispielsweise Garys und Brendans Freundin Allison.
Im Nachwort der deutschen Ausgabe schreibt Klaus Hurrelmann: „Mit dem Buch liegt eine Rekonstruktion und dramaturgische Bearbeitung vor, die besser und unmittelbarer als jede wissenschaftliche Analyse nachvollziehen lässt, wie es zu Gewaltausbrüchen an Schulen kommen kann.“ Hurrelmann macht die Differenzen zwischen der Situation in Deutschland und in den USA deutlich (vor allem die Verfügbarkeit von Schusswaffen in den USA), weist jedoch deutlich darauf hin, dass auch an deutschen Schulen sozial inakzeptable und unzivilisierte Gewalt gewachsen ist. Dabei nimmt er Rhues Argumentationsfaden auf:
Die Ausgangsbedingungen für die Entstehung von Aggressivität bei Schülerinnen und Schülern liegen zunächst außerhalb, Gewalt wird in die Schule gewissermaßen importiert. Viele Familien sind heute in schwierigen Situationen, wirtschaftlich und sozial. … Das Aggressionspotenzial ist dann besonders hoch, wenn der soziale Halt der Familie fehlt. … Den beiden Schülern Gary und Brendan werden in keinem Bereich des schulischen Alltags Anerkennung und Identifizierungsmöglichkeiten eingeräumt, im Gegenteil werden diese sogar systematisch abgeschnitten. Die Familien sind für sie zu schwach, um einen Gegenpol zu bilden.
Vielleicht hätte Rhue die eine oder andere Gewaltszene mildern können und vielleicht hätte er die Täter weniger freundlich porträtieren können, doch trotz derartiger Kritikpunkte ist dieses Buch wichtig, wichtig gerade auch für Schulen, die bisher das Thema Gewalt aus Image-Gründen ängstlich gemieden haben. Nur wer sich dem Thema stellt, kann die Situation verbessern und ein Frühwarnsystem entwickeln, das jene verzweifelten Schüler ausfindig machen kann, für die Gewalt der letzte Ausweg zu sein scheint.

Unterrichtsmaterial
Ich knall euch ab!
Vor dem Massaker von Erfurt 2002 sind kritische Besprechungen von Rhues Buch erschienen: C…die pädagogisch wertvolle Botschaft überschattet von der ersten Seite an jedes literarische Lesevergnügen“, hieß es in einer Rezension. In dieselbe Kerbe schlugen mehrere Literaturkritiker, die sich im selben Jahr auf der Buchmesse in Leipzig zu Rhue äußerten. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt, denn das Thema und die Aussage des Buches sind viel zu bedeutsam, um elitäre Feuilleton-Erwartungen zu befriedigen. Rhue geht es nicht um Lorbeeren, sondern um die Sache. Und wie es der tragische Zufall wollte, wurde Rhues Text damals durch Erfurt auf furchtbare Weise aktuell – und wird es heute wieder, durch Winnenden.
Rhues Basic-Prosa zielt nicht auf stilistischen Hochgenuss und schielt auch nicht auf literarische Auszeichnungen. Dafür versteht es der von Werner Schmitz gut übersetzte amerikanische Autor, auch junge Leute zum Nachdenken anzuregen, die nie eine Chance hatten, Leseratten zu werden, und sie mit einer Montagetechnik, mit einer Sprache und mit Überlegungen zu fesseln, die ihnen vertraut sind. Dieses Buch ist die beste Gewaltprävention.
Jugendbücher von Morton Rhue im ZVAB
Morton Rhue ist ein Pseudonym. Die englischsprachigen Originalausgaben sind in der Regel und dem bürgelichen Namen des Autors – Todd Strasser – erschienen.
Die Welle (1984; Originaltitel: The Wave)
Gib Power (1986; Originaltitel: Turn It Up!)
Der neue Sound (1988; Originaltitel: Rock’n’Roll Nights)
Ich knall Euch ab! (2002, Originaltitel: Give a Boy a Gun)
Asphalt Tribe – Kinder der Strasse (2004; Originaltitel:Can’t Get There from Here)
Boot Camp (2006; Originaltitel: Boot Camp)
Ghetto Kidz (2008; Originaltitel: If I Grow Up)
Stichwörter:
Amok, Amoklauf, Eltern, Familien, Filme, Gewalt, Gewaltdarstellung, Ich knall euch ab!, Lehrer, Lies doch mal!, Massaker, Mobbing, Nicola Bardola, Rhue, Schule, Strukturen8 Kommentare
RSS-Feed für Kommentare dieses Beitrags.
christian schrieb am March 18, 2009:
Merkt eigentlich niemand, dass es ein originäres Problem der Lehranstalten ist? Nur die Schule bringt Menschen zu diesem Handeln. In Ausbildungsbetrieben oder gar beim Militär wo auch junge Menschen gemobbt werden, Stress vorherrscht, Computerspiele gespielt werden oder Waffen verfügbar sind geschieht solches nicht. Lediglich Lehranstalten produzieren diesen Hass, diese Angst, diese Hilflosigkeit. Unsere staatlichen Schulen mißachten zum Großteil die Würde des Menschen.
Gudrun schrieb am March 23, 2009:
Wenn die Mütter (und auch Väter) nur einen Tag ihr Arbeit niederlegen würden – das wär was….aber so lange das nur ein “Armutsrisiko” ist, kommen wir nicht weiter.
Pablo schrieb am June 17, 2009:
Gudrun ich stimme leider nicht mit deiner Meinung überein. Ich bin zwar noch nicht Erwachsen aber ich weiss das es wichtig ist zu arbeiten.Ich sehe das wie Christian. Lehrer sind ja in gewisser weise “Pädagogen”
und wenn ich sehe was in unserer Klasse so an mobbing von den Lehrern geduldet wird denke ich mir das sowas eigentlich bestraft werden müsse.In sofern sind die mobbingopfer hilflos wenn sie nicht unterstützt werden…
Natürlich sollten dafür Eltern auch bereit stehen aber die müssen ja auch irgendwie ihre Arbeit verrichten und nicht den Job der Pädagogen übernehmen.
yasmameen sabrina schrieb am January 22, 2010:
Wir finden das Buch einfach toll.. sehr spannend, Vielfältig, interessant, traurig und erschreckend.
Wir können das Buch nur empfehlen für alle Leute die Spaß am lesen haben. P S : viel Spaß beim lesen.
Christian Neu schrieb am February 24, 2010:
Nicht schlech das Buch.Ich hatte teilweise das Gefühl ich wäre live dabei.Es ist schon traurig das es soweit schon mehrfach vorgefallen ist.Eigentlich hat jeder dazubeigetragen das es soweit gekommen ist.Es hätte ja auch ein Schüler das Maul aufreißen können, oder nicht?
Johanna schrieb am March 3, 2010:
Ich stimmt Pablo in seiner Meinung zu, dass Lehrer ja in gewisser Weise Pädagogen sind. Allerdings sollte hierbei beachtet werden, dass Lehrer in ihrer Ausbildung wenig davon erfahren, da das Fachwissen eben im Vordergrund steht.
Zu dem Kommentar von Christian Neu “Es hätte ja auch ein Schüler das Maul aufreißen können” möchte ich anmerken, dass es nicht so einfach ist mit Mobbing umzugehen, da die Opfer die Schuld zunächst erst mal bei sich suchen und ihr Selbstbewusstsein häufig stark zerstört wird. Und selbst wenn er sich überwinden könnte, etwas zu sagen: an wen soll er sich wenden und würde es etwas ändern? Vermutlich würde ein Gespräch zwischen Täter und Opfer des Mobbings arrangiert, was aber meines Erachtens nichts verbessern, sondern eher die Abneigung der Täter verstärken und die Sache somit eher noch verschlimmern würde.
Urlaub schrieb am March 8, 2010:
Ich habe dieses Buch in der Schule gelesen. Ich finde dieses Buch sehr gut. Das Thema “Amok” nimmt immer mehr Platz in der Gesellschaft ein. Dieses Buch zeigt die Auswirkungen von Mobbing. Es zeigt ebenfalls,dass auch solche Probleme von den Lehrern ignoriert werden. Es muss immer erst etwas passieren, bevor jemand handelt. Es ist aber ein sehr gutes Buch, in das man sich wirklich rein versetzen kann. Ich kann es nur empfehlen!
passii0n- schrieb am September 4, 2010:
ich finde dass sehr toolll l 🙂 das hat meiner literaturarbeit gehollffen :))