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Brief an Fjodor Michailowitsch Dostojewski

von wietek

Dostojewski … … Fjodor Michailowitsch! – почему? – warum? – … … … … – was soll man über Dich, Du größter aller Romanschreiber dieser Welt, noch schreiben, was noch nicht geschrieben wäre? Die Wissenschaft hat Deine Werke zerpflückt, zerfieselt bis ins letzte Komma – und alles Mögliche herausgefunden und hineingelegt – Richtiges und Falsches … … oft das, was sie finden wollte … … und oft genug hat sie nur irgendeinen Teil von Dir angeschaut … … seziert – Freud hat sogar Deine Psyche seziert! … … die einen fanden in Dir das … … die anderen das Gegenteil … … „was hat er dabei gedacht?“ – „was hat er damit sagen wollen?“ tönt es … … hat je jemand gefragt: „was hat er dabei gefühlt?“ … … Dass Du ein Spieler warst, dass Du Schulden hattest, wird erwähnt – mit Verständnis für Deine Gläubiger, die Dich gejagt haben – aber – t-t-t-t – so etwas tut man aber auch nicht, hast schon ein bisschen selber Schuld! …. Aber, was hast Du gefühlt, als Du wieder einmal sahst, dass sich Dein Geld wieder einmal – warum auch immer – in Rauch aufgelöst hatte? … … wie war es, zu schreiben mit dem unerbittlichen Abgabetermin im Nacken, um nicht zu verhungern? … … was fühltest Du, wenn Du wieder einmal Deine Liebe NICHT gefunden hattest? … … was fühltest Du, als Du merktest, dass Du spielen musstest, um Großes zu schreiben? – es gab die Zeit, erinnere Dich … … an den Tod Deiner Kinder will ich Dich lieber nicht erinnern, von Deiner Hinrichtung und den schlimmsten Jahren danach gar nicht sprechen … … Selbst große Geister verstummen einfach devot vor Deinem Werk – fast keiner fragt, wie’s Dir ging, als Du dies oder jenes schriebst.
Also, sprich! … WER WARST DU – heute, ich weiß, bist Du ein Gott – wer warst Du, Mensch?
Warst Du ein Genie? … oder … ein Psychopath? … ein Süchtiger? … ein Revolutionär? … ein Gottsucher? … oder warst Du vielleicht nicht doch einfach nur ein Mensch mit wachem Auge und der Gabe, die Brücke zum Leser zu finden – was, wie ich weiß, nicht wenig ist.

Nun, da ich nicht weiß, ob mir Fjodor Michailowitsch antworten wird – sei es des Nachts in einem Traum oder durch einen Blitz der Erkenntnis, wie er viele „seiner“ Menschen trifft, will ich die wichtigsten Ereignisse der wichtigsten Zeit im Leben eines Menschen, in seiner Kindheit und Jugend, und die ersten Jahre seiner Schriftstellerzeit beleuchten.


   Fjodor M. Dostojewski (1872)

Zur Welt kam Fjodor Michailowitsch Dosto- jewski am 30. Oktoberjul / 11. Novembergreg 1821 in einem Armenhospital am Rande von Moskau, wo sein Vater Michail Andrejewitsch leitender Arzt war. Er war ein sehr ange- sehener Arzt, erhielt für seine Verdienste einen Orden und wurde 1830 mitsamt seinen Söhnen in das Buch des Moskauer Erbadels eingetragen – eine zu dieser Zeit nicht unwichtige soziale „Beförderung“. Privat aber war er weniger vollkommen, ein jähzorniger, geiziger, ehrgeiziger und vor allem verschlossener Despot, der die Familie mit militärischem Drill und der strengen Forderung nach Disziplin beherrschte; von Zuwendung, gar von Liebe – keine Spur.

Typisch für Fjodor Michailowitsch – und für viele, die eine solche Kindheit mitgemacht haben: Er sprach zeit seines Lebens nicht über den Vater; erst kurz vor seinem Tode bildete er das grausame Familienoberhaupt in der Figur des alten Karamasow in Die Brüder Karamasow (1878 – 1880) ab.
Was er nicht wissen konnte, weil auch wir es erst seit einigen zehn Jahren wissen: Die Kontakt- und Liebesfähigkeit eines Menschen wird schon im Mutterleib und den ersten Monaten des Lebens geprägt; wer keine Zuwendung erfährt, wird es schwer haben, Zuwendung zu geben und Liebe zu erfahren.
Nun, Dostojewskis Mutter Maria Fjodorowna war zwar das genaue Gegenteil ihres Mannes, stand aber unter dessen unerbittlicher Fuchtel; immerhin konnte sie ihre Liebe zur Literatur an Fjodor Michailowitsch weitergeben. In der Erzählung „Ein kleiner Held“ (1849) beschreibt er sie als Madame M., die die große erste Liebe des kleinen Helden ist:

Sie war vielleicht ein wenig schweigsam, vielleicht auch verschlossen, obwohl es zugleich schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab als sie, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und welch ein Allverzeihen in manchen Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere lieben, aber die eigenen Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen, denn tiefes Leid schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt weder die Tiefe der fremden Wunde noch ihre Fäulnis ab: Wer an sie mit seinem Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert; aber sie sind ja auch, nebenbei bemerkt, wie eigens zum Helfen geboren.

Die ersten zehn Jahre verbrachte Fjodor Michailowitsch in dem Armenhospital, in dem er geboren wurde; seine und seines Bruder Kammer war ein fensterloser kleiner Raum, der durch eine Bretterwand von der Eingangshalle des Krankenhauses abgetrennt war, Tagtäglich waren sie umgeben von kranken Armen, die teilweise gespenstisch und ziellos umherwanderten. Diese Welt der Armen wird Dostojewski sein Leben lang beschäftigen; er wird sie wieder und wieder beschreiben. 1831 kaufte sein Vater ein kleines Landgut etwa 200 km südlich von Moskau, wo die Familie zukünftig die Sommermonate verbringen würde. Im selben Jahr hatte Fjodor Michailowitsch auch sein erstes großes Theatererlebnis: Als Zehnjähriger besuchte er in Moskau die Aufführung von Schillers Räuber. Das romantische Erleben der Natur auf dem Gut und die aufwühlenden Eindrücke aus dem frühromantischen, idealistischen Theaterstück bestimmen für die nächsten Jahre sein Weltbild. Es sind die Jahre, in denen der vergötterte Puschkin seine Triumphe feiert, und als Puschkin 1837 im Duell getötet wird und auch seine geliebte Mutter stirbt, weiß er nicht, über welchen Verlust er mehr trauern soll.

In Folge des Todes seiner Mutter traf Dostojewski ein weiteres Unglück: Da sein Vater nicht alle sieben Kinder versorgen konnte, mussten er und sein Bruder aus dem Haus; Fjodor Michailowitsch wurde auf die militärische Ingenieurschule nach St. Petersburg geschickt. Als romantischer Träumer und rebellischer Geist sah er sich im kalten Norden erneut mit Drill und Disziplinierungsmaßnahmen konfrontiert und musste sich mit ungeliebten – um nicht zu sagen verhassten – Unterrichtsfächern herumschlagen.

Noch hatte er diese Schläge nicht verarbeitet, da traf ihn schon der nächste: Sein Vater, der sich nach dem Tod seiner Frau ganz auf das kleine Landgut zurückgezogen und dort natürlich ebenfalls despotisch regiert hatte, wurde von seinen eigenen Bauern erschlagen. Dass der Vater aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur seinen Kindern seine Liebe – wenn sie denn in welcher Form auch immer vorhanden war – nicht zeigen konnte, ist sehr wahrscheinlich; dass Fjodor Michailowitsch seinen Vater nicht so lieben konnte wie seine Mutter, ist sicher ebenso verständlich. Doch der Vater war immerhin sein Vater und Dostojewski war ganz sicher noch nicht in der Lage gewesen, seine Beziehung zu ihm aufzuarbeiten. Es ist sicher eine Art Hassliebe gewesen, die ihn mit seinem Vater verband, wie Freud sie 1928 in seinem Essay „Dostojewski und die Vatertötung“ beschreibt. Für Fjodor Michailowitsch wurde der Mord an seinem Vater zu einem Trauma, aus dem heraus er heftige Schuldgefühle entwickelte – bis hin zum Selbstvorwurf, für den Tod des Vaters (mit) verantwortlich zu sein. Sicher, weil er ihm manchmal aus gegebenem Anlass den Tod gewünscht hatte. An anderer Stelle wird beschrieben, er habe geglaubt, dass der Vater seine Bauern immer weiter ausgepresst habe, um seine, Fjodors, Ausbildung zu finanzieren – bis sie ihn letztendlich erschlugen.
Was nun auch immer ihr Grund gewesen sein mag – seine Schuldgefühle hat Dostojewski sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Sie wurden zum zentralen Thema des letzten großen Werkes, das er kurz vor seinem Tod geschrieben hat: Die Brüder Karamasow (1878 – 1880).

1843 beendete Fjodor Michailowitsch mit Erfolg sein Studium und trat in den Staatsdienst ein. Trotz heftiger Geldsorgen und Schulden – er hatte nie gelernt, mit Geld umzugehen, und gab Geld, sobald er welches hatte, genau so schnell aus, wie er es bekommen hatte – entschloss er sich 1844, den Dienst zu quittieren und als freier Schriftsteller zu leben. Und so sollte er – abgesehen von den letzten paar Jahren – zeit seines Lebens von Geldsorgen geplagt sein.

Aus dem romantisch-idealistischen kleinen Rebellen, der er als Zehnjähriger war, war ein romantischer, sozialkritischer Geist geworden, der seine geliebten Vorbilder verschlungen und ihre Überzeugungen verarbeitet hatte. Seine ersten Erzählungen, Novellen und kleinen Romane spielen – wie könnte es anders sein – im Milieu der armen Leute und haben die Liebe zum Thema. Sein erster veröffentlichter Roman, mit dem er auch über Nacht berühmt wurde, heißt sogar Arme Leute (1846).

Wenn man Dostojewskis Frühwerke in drei Gruppen einordnet, kann man seine Entwicklung gut erkennen. Zu Beginn seines Schreibens – zwischen 1844 und 1846 entstandene Texte (Erscheinungsjahr in Klammern) – steht stets irgendein Beamtentyp im Mittelpunkt, eine unglückliche Gestalt, die mit ihrem Umfeld nicht zurecht kommt:
Arme Leute (1846), Der Doppelgänger (1846), „Der ehrliche Dieb“ (1848), Ein Roman in neun Briefen (1845), „Herr Prochartschin“ (1846).

In den darauffolgenden anderthalb Jahren verstärkt sich das sozialkritische Element. Im Mittelpunkt steht jetzt der isolierte jugendliche Held, dessen Glück und Erfüllung an den Umständen seiner Existenz scheitert. Die Erzählungen sind – ausgenommen „Ein kleiner Held“ – in der Zeit von Ende 1846 bis Mitte 1848 geschrieben:
„Die Wirtin“ (auch: „Ein junges Weib“, 1847), „Ein schwaches Herz“ (1848), „Polsunkow“ (auch: „Polsunkoff“, 1847), „Netotschka Neswanowa“ (1849), „Weiße Nächte“ (1848) und die während seiner Untersuchungshaft entstandene Erzählung „Der kleine Held“ (1849). Letztere handelt von Missbrauch und Manipulation der Liebe und war für lange Jahre die letzte, die Fjodor Michailowitsch schreiben sollte.

Zeitgleich und im Anschluss – von Herbst 1847 bis Herbst 1848 – entstanden auch „Weihnacht und Hochzeit“ (1848) und „Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige Gatte“, die Dostojewski unter dem Titel „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ (1848) zusammenfasste. Diese Erzählungen haben die Ehe und im besonderen die dümmlichen bis habgierigen Ehemänner zum Thema.

Es ist hier nicht der Raum, auf jede Erzählung, Novelle oder jeden kleinen Roman aus dieser Zeit im Einzelnen einzugehen; wichtig ist: Wir begegnen hier einem ganz anderen Dostojewski als dem, den man aus seinen weltberühmten Romanen kennt. Bezeichnenderweise wird über diesen Teil seines Werkes kaum gesprochen. Zu Unrecht! Hier gibt es noch hervorragende Schilderungen von (Stadt-)Landschaft und Milieu, es finden sich Humor und Satire, die Personen sprechen noch jede in ihrer eigenen Sprache (gemäß dem von Gogol kreierten und von Leskow zur Vollendung gebrachten Stilmittel skaz) – alles Dinge, die Dostojewski später zugunsten von Psychologie und Seelentiefe vernachlässigt hat. Dazu sind diese weniger umfangreichen Werke ebenso packend und mitreißend wie seine späteren.
Um selbst die Probe aufs Exempel zu machen, finden Sie am Ende Auszüge aus: „Ein junges Weib“, „Weihnacht und Hochzeit“ und „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“.

Aber worauf trieben die Ereignisse zu?
Oben schrieb ich, dass „Der kleine Held“ – übrigens eine wunderschöne und ergreifende Erzählung: Mit viel Einfühlung schildert Dostojewski die erwachende Liebe eines Jungen! – aus dem Jahr 1849 für lange Jahre das letzte war, das er verfasste. Schon im Jahr 1846, zunehmend vereinsamend in dieser ungeliebten Stadt, in der es nur Männer zu geben schien (die meisten waren Regierungsbeamte, der weibliche Einwohneranteil lag bei nur 25 %), lernte er die drei Brüder Beketow kennen; sie waren überzeugte Anhänger der Utopischen Sozialisten und begeisterten ihn für das Konzept eines humanistischen Sozialismus, der Gerechtigkeit und Ausgleich unter den Menschen auf friedliche Weise hervorbringen sollte. Nach dem Konzept Charles Fouriers, Vater der Sozialutopisten, gründeten sie eine – heute würde man sagen – Kommune und führten euphorische Diskussionen über die Möglichkeiten zur Weltverbesserung. Leider rief die Pflicht lauter als die Ideale und die Brüder Beketow mussten zum Studium nach Kasan. Als „Ersatz“ bot sich der Kreis um Petraschewski an, ebenfalls ein utopischer Sozialist, allerdings von weit schwererem Kaliber. Petraschewski war ein hoher Regierungsbeamter und hatte Zugang zu dem Archiv, in dem die verbotenen und beschlagnahmten ausländischen Schriften lagerten; und er verteilte sie großzügig an seine Freunde. Zu seinem Kreis gehörte auch Nikolai Speschnjew, der sich als Radikaler profilierte. Bei ihm war nicht mehr von humanistischem Sozialismus die Rede, bei ihm hieß die Parole immer mehr „Sozialismus, Atheismus, Terrorismus“. Von Speschnjew war Dostojewski fasziniert – außerdem hatte er 500 Rubel Schulden bei ihm, von denen er nicht wusste, wie er sie zurückzahlen soll. Und ihn hat er später in seinem Roman Die Dämonen (auch: Die Besessenen – und neuerdings: Böse Geister) in der Person Nikolai Stawrogins verewigt.)

Erinnere Dich, Fjodor Michailowitsch, Du überzeugter Jünger Christi, wie Du damals immer wieder beteuertest, dass Du für die Befreiung der Bauern auch mit der Waffe in der Hand kämpfen würdest! Und wie Du mit zehn anderen den Durow-Kreis gründetest, um die radikalen Absichten zu verwirklichen.

Der Petraschewski-Kreis war aber längst von der Geheimpolizei mit Spitzeln durchsetzt worden und am 23. April 1849 wurden alle 34 Mitglieder verhaftet und in das Verlies der Peter-Paul-Festung geworfen. In monatelangen Verhören wurden sie ausgequetscht und am 16. November wurden 15 von ihnen, darunter Dostojewski, zum Tode durch Erschießen verurteilt. Hinrichtungstermin in fünf Wochen, am 22. Dezember. Die offizielle Begründung für Dostojewskis Todesurteil war, dass er den von Nikolaus I. verbotenen Brief Belinskis an Gogol verlesen hatte, in dem Belinski Gogol als „Prediger der Knute“ und „Lobsinger tatarischer Sitten“ verflucht, die Religion scharf angreift und Gesellschaftsreformen verlangt.

Fjodor Michailowitsch, so irrwitzig es klingt: Du hast bei allem Unglück noch Glück gehabt! Du hast es geschafft, Deine Aktivitäten vor der Untersuchungskommission so weit wie möglich zu verschleiern – wer hätte anders gehandelt! es ging um Dein Leben! – und so wurdest Du „nur“ wegen des vorgelesenen Briefes verurteilt. So kann man es noch heute allenthalben lesen. Wir aber wissen, dass die Untersuchungskommission ganz einfach die Papiere des Durow-Kreises nicht gefunden hatte. Wer weiß, ob sonst eingetroffen wäre, was Du später berichtetest:

Heute … wurden wir alle nach dem Semjonower Platz gebracht. Dort verlas man uns das Todesurteil, ließ uns das Kreuz küssen, zerbrach über unseren Köpfen den Degen und machte uns die Todestoilette (weiße Hemden). Dann stellte man drei von uns vor dem Pfahl auf, um das Todesurteil zu vollstrecken. Ich war der Sechste in der Reihe; wir wurden in Gruppen von je drei Mann aufgerufen, und so war ich in der zweiten Gruppe und hatte nicht mehr als eine Minute noch zu leben … Ich hatte noch Zeit, Pleschtschejew und Durow, die neben mir standen, zu umarmen und von ihnen Abschied zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt, die an den Pfahl Gebundenen wurden zurückgeführt, und man las uns vor, dass seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenkte.

Diese Scheinhinrichtung, bei der einer der Todeskandidaten verrückt wurde, sollte aber nicht das letzte grausame Ereignis in Dostojewskis Leben sein. Am 24 Dezember 1849 trat er mit Ketten an den Beinen auf einem offenen Pferdeschlitten seine „Reise“ in die vierjährige Verbannung nach Sibirien an, in das Zuchthaus und Straflager bei Omsk, und was ihn hier erwartete, konnte sich damals niemand vorstellen; und auch heute, wo wir es wissen, kann unser Gefühl es nicht erfassen.

Nun, lieber Fjodor Michailowitsch, ich hatte keinen Traum. Mich durchzuckte kein Blitz der Erkenntnis. Ich habe alles, was ich bis hierhin von Dir weiß, gewissenhaft aufgezeichnet, und ich hoffe, dass Du später noch zu mir „sprechen“ wirst. Vielleicht im nächsten Brief, wenn es um Dein „nächstes Leben“ geht?

До скорого
Dein
Iwan Gendrichowitsch

Hier finden Sie Auszüge aus einigen frühen Erzählungen (PDF-Format):
„Ein junges Weib“ (auch: „Die Wirtin“, 1847)
„Weihnacht und Hochzeit“ (1848)
„Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ (1848)

19. May 2009

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2 Kommentare

  1. Tilman Jens schrieb am December 25, 2009:

    Lieber Herr Wietek,

    nur gschwind eine winzige Anmerkung zu Ihrem schönen Dostojewski-Essay. Der erwähnte Freud-Aufsatz heisst “Dostojewski und die Vatertötung” (nicht “Vatermord”).

    Dank übrigens für Ihre freundliche Rezension meines viel geschmähten Vaterbuchs.

    Beste Grüße
    Ihr
    Tilman Jens

  2. Hanns-Martin Wietek schrieb am December 25, 2009:

    Danke lieber Herr Jens,

    freue mich, dass Ihnen “mein” Dostojewski gefällt.
    Aus dem -mord habe ich natürlich wieder eine -tötung gemacht.

    Vielen Dank und beste Grüße
    Ihr
    hmw


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