Tschechensport
von konecnyIch war schon zehn, aber noch nie hatte mir eine Frau so viel bedeutet wie Natascha! Leider lebten wir einige Tausend Kilometer voneinander entfernt. Ich in einem Städtchen in Mähren, Natascha in einem Dorf bei Leningrad. Ihre Adresse hatte mir unsere Russisch-Lehrerin gegeben, damit ich mit einer Genossin aus der Sowjetunion „ДРУЖБА“ – Freundschaft pflegte.

Nataschas Briefe flatterten regelmäßig herein – wie die Friedenstauben auf den Plakaten sozialistischer Feiertage. Als sie mir mit 11 ihr Foto schickte, stellte ich’s auf meinen Schreibtisch und baute drum herum aus Gablonzer Glasbijouterie einen kleiner Altar der Liebe: Das klug-schöne Gesicht in einem barocken Rahmen aus ihren langen Zöpfen und bunten Perlen aus Glas. Ich liebte sie! Auch wenn sie dachte, dass die sowjetische Eishockey-Mannschaft die beste der ganzen Welt sei! Wie gerne hätte ich Nataschas Eishockey-Weltbild erschüttert! Aber wie? Die Tschechoslowaken hatten bis dahin jedes Spiel gegen die sowjetische Sbornaja verloren! Dabei ist das Eishockey der tschechische Nationalsport schlechthin. Aus Nationaltrotz gegen die österreichische Herrschaft entstanden! Schon 1908 traten die Tschechen der internationalen Eishockeyföderation bei, um die österreichischen Behörden zu ärgern. Obwohl kein Tscheche Eishockey spielen konnte. Doch jeder Tscheche kennt den Schlachtruf der Hussiten: „Vor den Feinden schrecket nicht, ihre Anzahl beachtet nicht!“ Die Tschechen stellten eine Mannschaft auf und fuhren zu einem internationalen Eishockey-Turnier nach Frankreich. Bei ihrer Ankunft in Chamonix sahen die frisch gebackenen Eishockey-Spieler zum ersten Mal richtige Schläger, Schlittschuhe und einen Puck und waren ganz überrascht, dass die Tore nicht am Feldrand standen wie beim Fußball sondern mitten auf dem Eisfeld. Die Tschechen verloren alle Spiele und erklommen mühsam den letzten Platz. Doch schon im Jahr 1911 wurden wir in Berlin Europameister!
Oh, Natascha! Eishockey ist der Stolz unseres Landes! Unser Schicksal! 1938 musste sich die Tschechoslowakei auf dem Eis gegen Hitlers Hetzkampagne wehren. Mit einem 3:0 Sieg über Deutschland. 1948 im Jahr des kommunistischen Putsches in Prag starb die Hälfte der tschechischen Eishockeymannschaft bei einem Flugzeugabsturz. Im Jahr 1950 wanderte unser ganzes Nationalteam statt zur WM nach London in den Knast. Nach einem konstruierten Spionageprozess. Die kommunistischen Machthaber hatten Angst, dass die ganze Mannschaft in London in der Emigration bleiben würde.
Am 21. August 1968 besetzten die Armeen des Warschauer Paktes angeführt von der Sowjet Union die Tschechoslowakei und zerschlugen unseren Traum von Eishockey mit menschlichem Gesicht. Daragaja Natascha, patschemu? Eine sinnlose Frage! Natascha hat keinen Brief mehr von mir beantwortet.
1976, im Jahr der Eishockey-WM in Katowitz, warst du, Natascha, Dank deiner Briefe, die nicht kamen, nur eine wage Erinnerung in meinem Kopf. Ich war 20 und somit ein vollendeter tschechischer Held, der seine Kämpfe vor der Glotze austrug. In der Grundgruppe siegten wir über die Russen 3:2. Die besetzte Tschechoslowakei tobte.
Während des Finalspiels zwischen uns und der Sowjet Union war ich mit ein paar Freunden beim Schifahren in der Slowakei! Vor der Glotze in unserem großen Berghotelrestaurant versammelten sich etwa hundert fanatische Zuschauer. Davon etwa dreißig Russen. Sicher wussten die russischen Winterurlauber nicht, dass wir sie nicht als Brüder sondern als Okkupanten ansahen. Das Hotel kochte. Etwa in der Mitte des Restaurants hockte ein Behinderter, der sich jeden Abend auf seinen Krücken mühsam zum Biertrinken schleppte. Er ließ sich schwerfällig in seinen Stuhl plumpsen und stellte erst dann seine Krücken am Tisch ab. Heute jedoch hüpfte er bei jeder Attacke der tschechischen Stürmer von seinem Stuhl wie ein Hecht, der aus dem Wasser nach einer Fliege schnappt. Leider immer daneben! Nur ein Mädchen, etwa so alt wie ich, an einem Tisch der Russen schien dem Eishockey nicht viel abzugewinnen. Sie sah aus, als würde sie lieber ein Buch lesen. Lange guckte sie mich an, doch ich riss mich brutal von ihrem Blick los und glotzte in die Flimmerkiste. Wie in die Augen der Kobra. Auch beim Bierholen ließ mich die Glotze nicht los. Als ich mich mit den schäumenden Krügen am Tisch der Russen vorbei zu unserem Tisch drängte, blieb ich bei dem Mädchen jedoch kurz stehen. Aus den abgestorbenen Gehirnleitungen, die früher mal für Natascha geglüht hatten, kratzte ich ein paar russische Wörter heraus. „Kak tjebja zavut?“, fragte ich sie.
Das Mädchen guckte mich lange an, lächelte, wohl etwas belustigt über meinen tschechischen Zungenschlag. „Natascha“, sagte sie. Bumm! Ein russischer Stürmer knallte mir seinen Puck gegen die Stirn und brachte eine Erinnerungsbombe zur Explosion. Natascha?.. Bin wieder 12, kurz vor dem sowjetischen Einmarsch: Ich stehe an unserem Gartentor und warte auf den Briefträger! Gütiger Gott der Atheisten! Bist du meine Natascha? Sicher gab’s Hunderttausende Nataschas in der Sowjet Union, aber die da war die echte, das spürte ich. Den Rest des Spiels guckte ich Natascha von unserem Tisch aus in ihre tiefbraunen sibirischen Augen. Statt die tschechische Mannschaft in der Glotze zu unterstützen, ich Schuft, ich Verräter! So gewannen die Russen die erste Runde 3:1. Die Tschechen in der Kneipe wurden ganz still und ließen sich von den mitschauenden Russen großbrüderlich auf die Schultern klopfen. In der zweiten Runde schoss Martinec aber gewaltig den Puck in das russische Tor und dadurch die Kneipe in den Himmel der Tschechen: Nur noch 3:2 für die Sowjets – die Hoffnung blühte auf wie ein spät gekommener Frühling. Ich riss meinen Blick von Natascha und kreischte mit den anderen Tschechen antirussische Parolen. „Was bedeutet ‚Jetzt hauen wir der Sowjetunion den Arsch wund!’“, fragte mich in der Pause auf Russisch der Nachbar von Natascha.
„Mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten!“, sagte ich. Natascha lächelte mich dankbar an. Als in der dritten Runde Novak den Puck für die Tschechen zum dritten Mal ins russische Tor schob, damit das Unentschieden erkämpfte und den Weltmeistertitel für die Tschechen, wurde die Kneipe von einem Erdbeben jenseits der Richterskala erschüttert. Das Hotel schaukelte hin und her wie ein Schiff auf stürmischer See! Der Behinderte sprang vom Stuhl auf, hüpfte plötzlich wie ein junger Hirsch herum, packte seine Krücke und zerschlug vor lauter Freunde alle Biergläser auf den benachbarten Tischen. Ein Wunder! Sein Pilgergang nach Lourdes hatte ihn geheilt – die Erscheinung des heiligen Eishockeys. Auf dieser konterrevolutionären Basis fing die große tschechisch-russische Sauferei in der Kneipe an.
Natascha stand auf, packte mich mit ihrem Blick und schleppte mich aus dem Glotzensaal. Eine halbe Stunde später, in meinem Hotelzimmer, durfte ich endlich entdecken, was der wahre Tschechensport war. Von unten rauschte die russisch-tschechische Völkerschlacht zwischen Wodka und Bier. Ich beugte mich über Nataschas nackten Nabel, doch bevor ich ihre Haut küsste, flüsterte ich ihr auf Russisch das geflügelte Wort von Karl Marx ins Ohr: „Die Religion ist das Opium fürs Volk!“
„Charascho!“, sagte Natascha. „Nur werden die Religionen unserer Tage nicht durch die Bibel und die Pfaffen an uns herangetragen sondern durch die Sportstadien und die Glotze!“ Dann sagte sie nichts mehr, die kleine russische Philosophin. Und ich? Ich war geheilt vom Eishockey. Warum sollte ich auch den tschechischen Helden vor der Glotze spielen, wenn ich den Puck selbst ins Torchen schieben konnte? Seitdem habe ich mir kein Eishockeyspiel mehr angeschaut. Nur manchmal träume ich von Nataschas puckgroßen braunen Augen!
2. November 2009Stichwörter:
Altpapiergeschichten, Eishockey, Jaromir Konecny, Russland, tschechien4 Kommentare
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Hagen Jäger schrieb am November 10, 2009:
Lieber Herr Konecny, ich liebe Ihre Geschichten, die Sie hier veröffentlichen! Danke für den eigenartigen Witz und die Heiterkeit, die Sie mit ihnen verbreiten. Fliegende Hamster und schäumende Bierkrüge begeistern mich plötzlich ebenso wie die unbekannte Natascha, die man doch jedem Eishockeyspiel vorziehen sollte. Sport ist eben doch Opium für das Volk!
Jaromir Konecny schrieb am November 10, 2009:
Lieber Herr Jäger,
Ihr Kommentar hat mich so gefreut, dass mir gleich eine neue Geschichte eingefallen ist. Vielen Dank!
Liebe Grüße aus München
Jaromir Konecny
Bücherlei Weblog » Blog Archive » #327 schrieb am April 13, 2010:
[…] Italienisch für Machos Elvis lebt Ich möchte mit dir Sex haben Die süße Tüte des Vergessens Tschechensport Ich sammle Joghurtdeckel Urbane Legenden Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben Der Mensch und […]
Eishockey-Fan schrieb am July 28, 2014:
Klasse Geschichte, wie romantisch!