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Petr Alekseevic Kropotkin – Fürst und Anarchist

von wietek

Fürst und Anarchist, dieser Widerspruch klingt schon seltsam genug. Aber Pëtr Alekseevi&#269 Kropotkin war noch mehr.

Er war – aus einem der ältesten Adelsge- schlechter Russlands stammend – Kammerpage seiner Majestät des Kaisers Alexander II., Offizier der Berittenen Amur-Kosaken in Sibirien, oro- und kartografischer Forscher in Sibirien und Finnland (dessen Erkenntnisse noch heute Gültigkeit besitzen) und als Wissenschaftler Sekretär einer Sektion der Russischen Geo- grafischen Gesellschaft (deren Gesamtvorsitz
er ablehnte, da er sich entschlossen hatte, gesellschaftlich tätig zu werden), er war Reformer, er war Gefangener in der Peter-Pauls-Festung, er war Revolutionär, er war als Sozialist Theoretiker des Anarchismus und er war Schriftsteller.

Als Kammerpage folgte er dem Kaiser ein Jahr lang auf Schritt und Tritt, um persönliche Anordnungen entgegenzunehmen, und so lernte er das Leben bei Hofe aus allernächster Nähe kennen; als politischer Gefangener lebte er später auf Befehl desselben Kaisers im berüchtigten Kerker der Peter-Pauls-Festung, in dem schon viele große Männer vor ihm gefoltert und hingerichtet worden oder einfach verfault waren – und viele noch folgen würden. Nur durch eine waghalsige Flucht entging er ihrem Schicksal.
Als Offizier der Amur-Kosaken arbeitete er zu Beginn der Regierungszeit Alexanders II. an Reformen, die dann doch nicht umgesetzt wurden, und machte teils abenteuerliche Expeditionen durch Sibirien und die Mandschurei – später lernte er als Forscher die Einsamkeit des arktischen Winters in Sibirien, Schweden und Finnland kennen. Nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in den Westen wurde er zum gefeierten Sozialisten – und Gegner von Karl Marx –, lernte aber auch die französischen Gefängnisse kennen. Nach der Februarrevolution 1917 wurde ihm, wenngleich Gegner Lenins, von den Massen in St. Petersburg ein triumphaler Empfang bereitet; sein Begräbnis am 8. Februar 1921 geriet gegen den Willen der Regierung zur letzten großen Massenkundgebung von Regimegegnern in der damals neuen Sowjetunion: Ein Meer von schwarzen Fahnen, die Fahnen der Anarchisten, ließen die roten ganz einfach untergehen, nahezu hunderttausend Menschen folgten dem Sarg.

»Anarchist«. Dieses Wort heute zu hören, bereitet zumindest Unbehagen, bei manchem wird gar der Ruf nach Polizei und Staatsschutz laut (der auch mit Sicherheit sofort „auf der Matte stünde“). Aus Unwissen wird Anarchismus oft mit Terrorismus und Chaos gleichgesetzt, man denkt sofort an RAF, Stadtguerilla, Rote Brigaden und andere politische Terrororganisationen. Aber das Wort hat durch die Ereignisse in der öffentlichen Wahrnehmung einen unfreiwilligen Bedeutungswandel durchgemacht: Der Anarchismus war und ist nichts weniger und nichts mehr als eine Teilbewegung und -philosophie des Sozialismus; er wird auch libertärer Kommunismus genannt. Er propagiert, dass sich die Menschen freiwillig zu Vereinigungen und Genossenschaften zusammenschließen und diese wiederum freiwillig miteinander kooperieren sollen, wobei die Leitung der einzelnen Gruppen absolut volksdemokratisch zu sein hat. Eine alles bestimmende bürokratische Regierung – sei sie kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch – entfällt, denn jede Form der Regierung, wodurch auch immer sie sich legitimiert sieht, führt den Anarchisten zufolge automatisch zu einer Herrschaft (Diktatur) weniger über alle. Der Mensch soll frei und selbstbestimmt leben und arbeiten, ohne in die Knechtschaft anderer zu geraten. Gewalt wird nach Kropotkins Verständnis von Anarchie abgelehnt – wohingegen der als Urtyp eines Anarchisten berühmte russische Denker Michail Aleksandrovi&#269 Bakunin (*1814, †1876) als militanter Vertreter etwas anderer Meinung war.

Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf Gesellschaftsformen und -philosophien einzugehen, hier soll Kropotkin als Mensch und Schriftsteller im Vordergrund stehen. In Bezug auf den Schriftsteller muss allerdings gleich eine kleine Einschränkung gemacht werden: Kropotkin war – wenn auch die Beschreibungen seiner Reisen, seiner „Abenteuer“ und Expeditionen durchaus spannend und mit großem Gespür für die Natur und die Menschen geschrieben sind – kein Belletristiker und er wollte es auch nicht sein, er hat keine Erzählungen oder gar Romane verfasst. Fiktives war ihm fremd; er war einerseits Naturwissenschaftler und wollte nichts als Fakten schildern und hat andererseits als Gesellschaftsphilosoph die Theorie des Anarchismus begründet.
Für an russischer Geschichte und Literatur interessierte Leser sind seine beiden fast unpolitischen Werke von großer Bedeutung.

Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur
Im Jahr 1901 trat das Bostoner Lowell Institute an den schon seit 1876 im Exil lebenden Kropotkin mit der Bitte heran, er möge einen Gesamtüberblick über die russische Literatur schreiben. In den USA und in Westeuropa kannte man zwar einzelne Schriftsteller in manchmal recht mangelhaften Übersetzungen – Turgenjew war beispielsweise schon sehr zeitig, praktisch zeitgleich mit dem Erscheinen des russischen Originals, sehr gut übersetzt worden, Tolstois Krieg und Frieden war gerade in deutscher Sprache erschienen, Dostojewski kannte man zumindest in Auszügen – aber insgesamt war wenig von den russischen Schriftstellern und der russischen Literaturgeschichte bekannt.


   Gustav Landauer

Kropotkin hatte sich zu diesem Zeitpunkt in England, wo er seit 1886 lebte, schon nicht nur als Natur- und Sozialwissenschaftler, sondern auch als Historiker einen Namen gemacht. Für die berühmte Encyclopedia Britannica (Auflagen 10 und 11, erschienen 1902 und 1911) hatte er bis dahin schon 60 Artikel über das europäische und asiatische Russland geschrieben, und seit 1886 arbeitete er an seinem großen Werk über die Französische Revolution, das 1909 unter dem deutschen Titel Die Französische Revolution 1789–1793 herauskam, übersetzt von dem nicht minder berühmten deutschen Anarchisten, Pazifisten und Schriftsteller Gustav Landauer (*1870, † 1919; Mitglied der Münchner Räterepublik, von bayrischen Freikorpssoldaten in der Haft ermordet). Darin schildert Kropotkin die Französische Revolution aus der Sicht der Arbeiter, des einfachen Volkes, wohingegen die Historiker bis dato die Revolution stets aus der Sicht der herrschenden Klasse geschildert hatten – welch Wunder, gehörten sie doch selbst zu dieser –, was im Übrigen auch heute noch häufig die Regel ist (es gibt eben nicht die eine objektive Sichtweise – jede Sichtweise ist subjektiv).

Kropotkin war also auch als Historiker eine anerkannte Persönlichkeit. Aber nicht nur das: Schon in seiner Kindheit wurde großer Wert auf eine literarische Erziehung gelegt und außerdem war er quasi Zeitzeuge des großen Jahrhunderts der russischen Literatur; viele Schriftsteller kannte er persönlich oder lebte zumindest in ihrem engen zeitlichen Umfeld. Und er kannte Russland und seine politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe.
Durch das Zusammentreffen all dieser Umstände wurde seine Literaturgeschichte Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur zu einem damals wie heute großartigen Werk, auf das es sich immer lohnt zurückzugreifen.

Nun zu Pëtr Alekseevi&#269 Kropotkins Memoiren eines Revolutionärs (im Original Memoirs of a revolutionist, 1899;um 1900 von Max Pannwitz ins Deutsche übersetzt, in der russischen Werksausgabe von 1907 Zapiski revolju&#269ionera, zu deutsch: Revolutionäre Aufzeichnungen).
Der deutsch schreibende dänische Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller Georg Brandes (*1842, †1927) schreibt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe (also noch zu Kropotkins Lebzeiten) – und besser kann man Pëtr Kropotkin wahrscheinlich nicht charakterisieren:

Kropotkin nennt sich selbst einen Revolutionär. Selten ist unstreitig ein Revolutionär so human gewesen und – seines Widerwillens gegen das Bürgertum ungeachtet – so mild. Er war nie ein Rächer, oft ein Märtyrer; er hat nie anderen, stets nur sich selbst Opfer auferlegt. Sein ganzes Leben hindurch hat er Opfer gebracht, doch solcherweise, dass man meinen sollte, sie wären ihm gar nicht schwergefallen, so wenig Aufhebens macht er davon. Er ist bei all seiner Strenge so wenig rachsüchtig, dass er jemand, den er am schärfsten verurteilt, einen Gefängnisarzt, dessen Namen er verschweigt, einzig mit den Worten brandmarkt: ›Je weniger man von ihm sagt, desto besser.‹ […]
Er ist ein Revolutionär ohne Pathos und ohne Embleme, der alles theatralische Zubehör der Revolution verlacht. Er braucht den Vergleich mit keinem Freiheitsmanne dieses Jahrhunderts, welchen Landes auch immer, zu scheuen. Keiner besaß höhere Geistesgaben, keiner tat es ihm an Uneigennützigkeit zuvor.

aus Peter Urbans Nachwort zu Pëtr Kropotkin: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur (Diogenes Verlag, 2003)

Die Memoiren Kropotkins sind in mehrfacher Hinsicht interessant und wichtig: Einmal natürlich, weil wir seinen Lebensweg (zumindest bis 1890) kennen lernen; darüber hinaus aber zeichnet er ein Bild des alten Moskauer Hochadels – also der Kreise, die schon lange (seit dem Herrschaftsbeginn der Romanows), schon vor dem Aufkommen des Petersburger Dienstadels unter Peter dem Großen, „dazugehörten“ (und zu dem auch Kropotkin gehörte) – ein Bild des Lebens bei Hofe mit seinen Intrigen und dem vorherrschenden Neid. Auch über die Ausbildung junger Adeliger ist vieles zu erfahren; und ganz wesentlich sind die Aufzeichnungen zu politischen Entwicklungen, Einflussnahmen und Entscheidungsvorgängen. Zu guter Letzt sind Kropotkins Memoiren noch eine kleine Entwicklungsgeschichte des Sozialismus in Westeuropa. Dass er angesichts verschiedener Situationen auch politische Gedanken und Einstellungen äußert, ist zwangsläufig, wenngleich nicht unbedingt für jeden Leser interessant. Man sollte deswegen aber nicht vor dem Werk zurückscheuen, denn das Wichtigste ist: Es ist interessant, in belletristischer Manier geschrieben; es ist keine trockene Aneinanderreihung von Daten und Fakten, sondern ähnelt streckenweise einem autobiografischen Roman.

Eine ausführliche Biografie Kropotkins gibt es zumindest in deutscher Sprache meines Wissens nicht, ja selbst im Russischen muss man sich Daten und Fakten mühsam zusammensuchen – nach 1920 wurde er dort aus der Literaturgeschichte getilgt und seine Werke wurden (wie die Werke der meisten anarchistischen Schriftsteller) eingesammelt und vernichtet.
Dabei wären seine Gedanken gerade heute in Ost und West interessant, in einer Zeit, wo über Ethik in der Politik und in der Gesellschaft heiß diskutiert wird, in einer Zeit der Neufindung nach der Selbstvernichtung des real existierenden Sozialismus und des Kommunismus – die er vorausgesagt hat –, in einer Zeit, in der sich der Kapitalismus durch ungezügelte Gewinnmaximierung ohne jegliche soziale Komponente selbst diskreditiert hat und weiter diskreditiert, einer Zeit, in der neue Wege für die Entwicklung in der „Dritten Welt“ gesucht und ausprobiert werden, in einer Zeit, in der es für die ehemals kommunistischen Staaten gälte, mit der Erfahrung aus der Vergangenheit und im Angesicht einer sich selbst diskreditiert habenden Gesellschaftsform ehrliche neue Wege zu suchen, anstatt den angeblich siegreichen Gegenentwurf einfach zu übernehmen.
Nicht heißt es, die Gedanken Kropotkins aus einer vergangenen Zeit eins zu eins zu übernehmen, aber sie wären es wert, neu durchdacht zu werden.

Um ein wenig mehr über die außerordentlich interessante Persönlichkeit Pëtr Kropotkins zu erfahren, hier einige Stationen seines Lebenswegs:
Am 27. November jul. / 9. Dezember greg. 1842 kam Pëtr Alekseevi&#269 Kropotkin im Alten Marschallviertel von Moskau zur Welt und verbrachte dort und auf dem Landsitz der Familie die ersten 15 Jahre seines Lebens. Seine Familie ist von ganz altem Hochadel und lässt sich bis in die Zeiten des warägischen Fürsten Rurik (*um 830, †um 879), den die slawischen Stämme gerufen hatten, um über sie zu herrschen, zurückverfolgen. In seinen Memoiren schreibt Kropotkin:

Unser Vater war auf die Herkunft seiner Familie sehr stolz und wies mit großem Selbstgefühl auf eine Pergamentrolle, die in seinem Studierzimmer an der Wand hing. Es prangte darauf unser Wappen – das Wappen des Fürstentums Smolensk mit dem Hermelinmantel darüber und der Monomachenkrone – und die vom heraldischen Amte beglau- bigte Erklärung, dass unsere Familie von einem Enkel Rostislav Mstislavi&#269s des Kühnen (eines alten, auf den Blättern der russischen Geschichte viel genannten Großfürsten von Kiew) abstammte, und dass unsere Vorfahren Großfürsten von Smolensk gewesen wären.
»Dreihundert Rubel hat mich dieses Pergament gekostet«, pflegte unser Vater dabei zu sagen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen war er mit der russischen Geschichte wenig vertraut, weshalb er den Wert der Rolle mehr nach ihrem Preise als nach ihrer historischen Bedeutung bemaß.

Als Kropotkin dreieinhalb Jahre alt war starb seine Mutter:

So blieben wir, Aleksandr und ich, in dem kleinen Hause und in den Händen Frau Burmans und Uljanas. Die gute alte Deutsche, die heimatlos und völlig allein in der weiten Welt dastand, suchte uns nach ihrer Weise die Mutter zu ersetzen. Sie zog uns auf, so gut sie konnte, kaufte uns von Zeit zu Zeit eine Kleinigkeit als Spielzeug und stopfte uns mit Gewürzküchlein voll, so oft ein anderer alter Deutscher, der mit diesen Leckerbissen handelte und der wahrscheinlich ebenso heimatlos und verlassen wie Frau Burman selbst war, in unser Haus kam. Unsern Vater sahen wir selten, und im übrigen gingen die beiden nächsten Jahre dahin, ohne einen dauernden Eindruck in meinem Gedächtnis zu hinterlassen.

Zwei Jahre später heiratete der Vater auf Befehl seines Vorgesetzten General Timofeev, Chef des sechsten Armeekorps und Günstlings von Nikolaus I., die Tochter eines Admirals der russischen Flotte im Schwarzen Meer. Auch sie kümmerte sich wenig um die Kinder, die von einem französischen Lehrer und einem russischen Studenten erzogen wurden.
Bedeutsam wurde für den kleinen Pëtr, als er acht Jahre alt war, ein Kostümfest des Adels anlässlich des 25. Jahrestages der Thronbesteigung von Nikolaus I., der aus diesem Anlass nach Moskau kam. Da der kleine Pëtr liebreizend anzuschauen war mit seinen Locken und einem persischen Kostüm, wurde er zum Kaiser gerufen und verbrachte den Rest des Festes teils schlafend auf dem Schoß der Frau des Thronerben und Nikolaus I. bestimmte ihn schon als Knabe für den späteren Eintritt ins Pagenkorps in Petersburg – eine Gunst, die er dem Moskauer Adel nur sehr selten zuteil werden ließ. Damit war Pëtr Aleksandrovi&#269s Weg erst einmal vorgezeichnet.

1855, mitten während des Krimkrieges, starb Nikolaus I, und da

[ …] geschah es in Petersburg, dass Leute der gebildeten Klassen, die einander die Nachricht mitteilten, auf offener Straße einander in die Arme fielen. Jeder fühlte, dass der Krieg und die schrecklichen Zustände, die unter dem ›eisernen Despoten‹ geherrscht hatten, bald zu Ende seien. Man munkelte von Gift, besonders da der Körper des Zaren auffallend schnell der Auflösung verfiel, aber die Kenntnis der wahren Ursache sickerte nach und nach durch: Nikolaus hatte eine übermäßige Dosis eines stärkenden Arzneimittels genommen.

In diesen ersten fünf Kapiteln seiner Memoiren (»Die Kindheit«) malt Kropotkin ein beeindruckendes Bild des alten Moskau, des Alten Marschallviertels, des Lebens auf dem Landgut, der gesellschaftlichen Gepflogenheiten und auch der sozialen Situation zu Zeiten der Leibeigenschaft – natürlich aus einer kindlichen Perspektive, nichtsdestotrotz aber die Ungerechtigkeiten erkennend. Es war ein unbeschwertes, sorgenfreies, kindliches Leben.

In den nächsten sieben Kapiteln (»Das Pagenkorps«) schildert er die fünf Jahre in St. Petersburg (von 1857 bis 1862), die Zeit seiner militärischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung.
Es war die Zeit des Umbruchs, als der liberale Alexander II. auf dem Thron folgte; die Aufhebung der Leibeigenschaft, die „Befreiung“, fand endlich statt. Da die Kadetten des Pagenkorps neben ihrer Ausbildung zum Offizier regelmäßige Dienste bei Hofe, in allernächster Nähe zur oder gar bei der kaiserlichen Familie zu verrichten hatten, schaute Kropotkin zwangsläufig hinter die Kulissen. Als Bester der obersten Klasse des Pagenkorps war er sogar ein Jahr lang der persönliche Kammerpage des Kaisers.

In der ersten Zeit meines kaiserlichen Dienstes als Kammerpage war ich von hoher Bewunderung Alexanders, des Sklavenbefreiers, erfüllt. Die Einbildungskraft führt uns in jenem Lebensalter oft über die Wirklichkeit hinaus, und ich würde damals den Kaiser mit meinem Leibe gedeckt haben, hätte man in meiner Gegenwart ein Attentat auf den Zaren unternommen.

Bald aber sah er die Rivalitäten der Interessenvertreter und auch, wie diese den Kaiser auf skrupellose Weise beeinflussten, und so begann der Glorienschein, den er Alexander II. anfänglich aufgesetzt hatte, nach und nach zu verblassen.
Am Ende seiner Pagenzeit war Kropotkin klar, dass er nicht als Offizier in ein Garderegiment bei Hofe eintreten wolle.

[….] Es war mein Traum, die Universität zu besuchen, mich dem Studium zu weihen, ein Studentenleben zu führen. Das bedeutete natürlich einen völligen Bruch mit meinem Vater, dessen Ehrgeiz ganz andere Ziele hatte, und ich hätte dann meinen Lebensunterhalt nur durch Stundengeben erwerben können. Tausende von russischen Studenten leben so, und eine solche Existenz hatte für mich ganz und gar nichts Schreckliches. Aber wie sollte ich über die erste schwierigste Zeit hinwegkommen? [….]
So wendeten sich meine Gedanken mehr und mehr Sibirien zu. Die Amurgegend war kurz vorher von Russland in Besitz genommen worden. Ich hatte alles über jenen Mississippi des Ostens gelesen, über die Gebirge, die er durchbricht, die subtropische Flora seines Nebenflusses, des Usuri, und meine Gedanken schweiften weiter – zu den tropischen Gegenden, die Humboldt geschildert hatte, und zu Ritters großartigen Theorien, deren Lektüre mich entzückte. Außerdem, sagte ich mir, bietet Sibirien ein ungeheures Arbeitsfeld zur praktischen Durchführung von großen bereits beschlossenen oder noch zu erwartenden Reformen: Nur wenige sind dort an der Arbeit, und ich werde einen Wirkungskreis nach meinem Geschmacke finden. [….] So hatte ich nur noch das Regiment in der Amurgegend auszuwählen. Der Usuri zog mich am meisten an, aber ach! am Usuri stand nur ein Regiment Kosaken-Infanterie. Ein Kosak ohne Pferd – das war für den Knaben, der ich immer noch war, unerträglich, und ich entschloss mich für die berittenen Amur-Kosaken. Dies schrieb ich zur größten Bestürzung aller meiner Kameraden auf das Verzeichnis. »Es ist soweit«, sagten sie, während mein Freund Daurov das Offiziersbuch zur Hand nahm und daraus zum Entsetzen aller Anwesenden vorlas: »Uniform, schwarz mit einfachem rotem Kragen ohne Borte; Pelzkappe aus Hundefell oder anderm Pelz; Beinkleid grau.«
»Betrachte nur diese Uniform!« rief er aus. »Bitt’ dich, die Kappe! Nun, du kannst eine aus Wolfs- oder Bärenpelz tragen; aber denk nur an das Beinkleid! Grau, wie beim Trainsoldaten!« Die Bestürzung stieg nach dieser Schilderung der Uniform auf den Gipfel.

1862 kam Kropotkin nach Sibirien, wie er es gewünscht hatte. Es war für ihn eine wichtige Zeit und er schreibt darüber in den vier »Sibirien« betiteln Kapiteln:

Die fünf Jahre, die ich in Sibirien zubrachte, bildeten für mich eine wahre Schule des Lebens und des Charakters. Ich kam mit Leuten jeder Gattung in Berührung, den besten und den schlechtesten, mit den Spitzen der Gesellschaft wie mit den Tief stehenden, den Vagabunden und sogenannten unverbesserlichen Verbrechern. Es bot sich mir reiche Gelegenheit, das tägliche Leben der Bauern, ihre Lebensweise und Gewohnheiten, zu beobachten, und noch mehr Gelegenheit zu der Erkenntnis, wie wenig ihnen die Staatsregierung, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt war, zu bieten vermochte. Dazu stählten die ausgedehnten Reisen, auf denen ich mehr als achttausend Meilen im Wagen, im Dampfboot, im Kahn, zumeist aber zu Roß durchmaß, meine Gesundheit in wunderbarer Weise. Sie lehrten mich auch, wie wenig der Mensch wirklich nötig hat, sobald er aus dem Bannkreis der konventionellen Zivilisation hinaustritt. Mit wenigen Pfund Brot und wenigen Unzen Tee im Lederbeutel, einem Kessel und einem Beil am Sattelknopf und einem Filztuch unterm Sattel, das man am Lagerfeuer über ein Bett von frisch geschnittenen Tannenzweigen breitet, fühlt man sich, auch mitten unter unbekannten dicht bewaldeten oder schneebedeckten Bergen wunderbar unabhängig. Es ließe sich über diesen Abschnitt meines Lebens ein ganzes Buch schreiben [….].

Kropotkin wurde Adjutant (und auch Freund) eines liberal gesinnten Generals und Sekretär der Ausschüsse für die Reform des Gefängnis- und gesamten Verbannungswesens und für die Vorbereitung eines Systems der städtischen Selbstverwaltung – Reformen, die von Alexander II. angeregt worden waren. In dieser Eigenschaft bereiste er weite Teile Sibiriens. 1863 erhob sich jedoch das von Russland besetzte Polen, der Aufstand wurde grausamst und blutig niedergeschlagen und zigtausend Polen wurden nach Sibirien verbannt. Die Politik Alexanders II. begann reaktionärer zu werden und Kropotkins Reformvorschläge landeten allesamt in der Schublade. Im selben Jahr wurde er Attaché des Generalgouverneurs von Ostsibirien für Kosakenangelegenheiten und bekam dadurch in den folgenden Jahren die Gelegenheit, geologische sowie oro- und kartografische Forschungsexpeditionen durch Sibirien und die Mandschurei und entlang des Amurs zu unternehmen. Was er im Pagenkorps bei der Ausbildung zum Offizier gelernt hatte, konnte er nun für nichtkriegerische Zwecke gut gebrauchen. Seine Berichte wurden durch die Sibirische Geographische Gesellschaft veröffentlicht und begründeten seinen Ruhm auf diesem Gebiet.

Elftausend Polen, Männer und Frauen, hatte man nach dem Aufstande von 1863 allein nach Ostsibirien geschleppt. Es waren zumeist Studenten, Künstler, frühere Offiziere, Edelleute und besonders Handwerker aus der intelligenten und hoch entwickelten Arbeiterbevölkerung Warschaus und anderer polnischer Städte. Zum großen Teil mussten sie schwere Arbeit verrichten, während der Rest im ganzen Lande zerstreut in Dörfern lebte, wo es keine Arbeit für sie gab und sie nicht einmal genug verdienten, ihren Hunger zu stillen.

Diese Verbannten waren keine dem Schicksal ergebenen Verbannten wie die meisten Russen. Ein Teil von ihnen erhob sich 1866 mit dem Ziel, über die Berge und durch die Mongolei nach China zu flüchten. Dieser Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, Beteiligte und Unbeteiligte grausam misshandelt und die Anführer erschossen.

Für meinen Bruder und mich brachte dieser Aufruhr eine große Lehre. Wir erkannten klar, was die Zugehörigkeit zum Heere bedeutete. [….] Wir beschlossen daher, die militärische Laufbahn ohne weitere Verzögerung aufzugeben und nach Russland zurückzukehren. Dies war keine so einfache Sache, zumal da Aleksandr in Sibirien geheiratet hatte; doch schließlich waren alle Schwierigkeiten überwunden, und im Anfang des Jahres 1867 befanden wir uns auf dem Wege nach Petersburg.

In den folgenden fünf Jahren (1867–1872) konnte Pëtr Alekseevi&#269 endlich das tun, wovon er immer schon geträumt hatte: Er studierte Mathematik an der physisch-mathematischen Fakultät in St. Petersburg und konnte sich außerdem in Geografie weiterbilden. Gleichzeitig veröffentlichte er weitere Ergebnisse seiner Forschungen in Sibirien und konnte im Auftrag der Geografischen Gesellschaft Forschungsreisen nach Schweden und Finnland zur Untersuchung der glazialen Ablagerungen unternehmen. Während er 1871 die Freuden des Forschens in Finnland genoss, erreichte ihn ein Telegramm der Geografischen Gesellschaft: „Der Vorstand ersucht Sie, die Stellung des Sekretärs der Gesellschaft anzunehmen.“ Eigentlich hatte er damit sein Traumziel erreicht, aber er hatte während der vergangenen Jahre in Petersburg viel gesehen und erlebt, das ihn nachdenklich gemacht hatte:

Die Wissenschaft ist etwas Herrliches. Ich kannte und schätzte ihre Freude vielleicht mehr als viele von meinen Kollegen. Auch jetzt stiegen neue und schöne Theorien vor meinem geistigen Auge auf, während ich auf die Seen und Hügel Finnlands schaute. [….]
Aber welches Anrecht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn ich um mich herum nur Elend sah und den Kampf um ein schimmeliges Stück Brot, wenn alles, was ich ausgab, um in jener erhabeneren geistigen Welt weilen zu können, notwendigerweise denen vor dem Munde weggenommen werden musste, die den Weizen bauten und kein Brot für ihre Kinder hatten? [….]
Die Massen sind es, die des Wissens bedürfen, sie wollen lernen, sie können auch lernen. [….] [S]ie sind bereit, ihr Wissen zu erweitern; biete es ihnen nur! Schaff ihnen nur die Mittel zur Muße! In dieser Richtung und für diese Leute muss ich tätig sein! Alle diese tönenden Redensarten von Wirken für den Fortschritt der Menschheit, während die Fortschrittsförderer sich fern von denen halten, die sie angeblich vorwärts bringen, sind nichts als Sophismen, die nur das Bewusstsein eines peinigenden Widersinns beseitigen sollen. Und ich sandte an die Geographische Gesellschaft eine ablehnende Antwort.

Kropotkin war entschlossen, mit den Narodniki „ins Volk“ zu gehen, um von der Basis her eine Umgestaltung der Gesellschaft zu erreichen.

Wie erwähnt hatte Kropotkin in der Petersburger Zeit viel gesehen und erlebt. In den sieben Kapiteln mit dem Titel »Petersburg / Erste Reise nach Westeuropa« beschreibt er die revolutionären Tendenzen und die reaktionären Antworten darauf, die herrschende Korruption, die Reformbewegung in der russischen Jugend und den Untergang des einst so bedeutenden Alten Marschallviertels. Auch bringt er u.v.a. eine sehr durchdachte Charakteristik von Alexander II. zu Papier:


   Zar Alexander II.

Gewiss war Alexander kein gewöhnlicher Mensch, aber es lebten zwei verschiedene völlig entwickelte, einander widerstrei- tende Naturen in ihm; und dieser innere Zwiespalt wurde um so klaffender, je älter er wurde. Jetzt von entzückender Liebens- würdigkeit entwickelte er im nächsten Augenblick eine empörende Rohheit. Angesichts einer wirklichen Gefahr voll ruhigen besonnenen Mutes, zitterte er beständig vor eingebildeten Gefahren. Sicher war er kein Feigling, er trat dem Bären Auge in Auge entgegen, und als das Tier einmal seiner ersten Kugel nicht erlag und der mit einer Lanze hinter ihm stehende Mann beim Vorwärtsstürzen von dem Bären niedergeschlagen wurde, kam ihm der Zar zu Hilfe und streckte die Bestie, ihr die Flinte fast auf die Schnauze setzend, nieder (wie ich von dem betreffenden Manne selbst gehört habe). Dennoch verfolgten ihn sein Leben lang die Schreckbilder seiner eigenen Fantasie und seines unruhigen Gewissens. Gegen seine Freunde bewies er eine außerordentliche Güte, aber Hand in Hand damit ging die furchtbare, kaltblütige Grausamkeit, wie sie den Despoten des siebzehnten Jahrhunderts eigen war und wie sie Alexander bei der Unterdrückung der polnischen Revolution und später im Jahre 1880 betätigte, als die aufrührerische russische Jugend durch ähnliche Maßregeln niedergeschmettert wurde – eine Grausamkeit, deren ihn niemand hätte für fähig halten sollen. So führte er ein Doppelleben, und in der Periode, von der ich eben rede, unterzeichnete er mit lächelnder Miene die reaktionärsten Erlasse, die ihn nachmals zur Verzweiflung brachten. Gegen das Ende seines Lebens verschärfte sich noch, wie man bald sehen wird, der innere Kampf und nahm fast einen tragischen Charakter an.

Um die sozialistischen Ideen besser kennen zu lernen, reiste Kropotkin zunächst noch in die Schweiz, in der sich damals viele Reformer und Revolutionäre aufhielten. Zuerst fuhr er nach Zürich, anschließend nach Genf und zuletzt in ein kleines Dorf im Schweizer Jura. Besonders sein Aufenthalt im Schweizer Jura sollte für ihn lebensverändernd werden.

Im nächsten Jahre, als der Winter kaum vorüber war, machte ich meine erste Reise nach Westeuropa. Beim Überschreiten der russischen Grenze empfand ich, sogar noch in höherem Maße, als ich erwartet hatte, was jeder Russe, wenn er sein Vaterland verlässt, empfindet. Solange der Zug auf russischem Boden durch die dünnbevölkerten nordwestlichen Provinzen fährt, hat man den Eindruck, als käme man durch eine Wüste. Wohl hundert Meilen weit ist das Land mit niedrigem Baumwuchs bedeckt, der kaum als Wald bezeichnet werden kann. Hier und da entdeckt das Auge ein in Schnee vergrabenes kleines, elendes Dorf oder eine unwegsame, kotige, enge und gewundene Dorfstraße. Aber alles, die Landschaft und was dazu gehört, ändert sich mit einem Schlage, sobald der Zug ins Ausland gelangt, nach Preußen, mit seinen sauberen Dörfern und Höfen, seinen Gärten und gepflasterten Straßen; und das Gefühl des Gegensatzes wird immer stärker, je weiter man in Deutschland eindringt. Sogar das tote Berlin kommt einem nach unsern russischen Städten belebt vor.

In Zürich lernte er zunächst die russische Studentenkolonie kennen, konnte endlich die sozialistische Literatur studieren und trat sofort der Internationalen Arbeiterassoziation bei. Nach Genf fuhr er, um mit sozialistischen Arbeitern zu leben. Dort wurde er auch mit den Werken Bakunins bekannt. Die „großen Reden“ der Sozialistenführer empfand er als falsch, verlogen und aufgeblasen; er wollte das Leben der „Bakunisten“ (das Wort Anarchist war zu dem Zeitpunkt noch ungebräuchlich) kennenlernen. Zu diesem Zweck fuhr er in den Schweizer Jura, in dem in mehreren Dörfern Uhrmacher nach diesen Regeln lebten. Rückblickend schreibt Kropotkin über seinen Aufenthalt:

[U]nd als ich die Uhrmacher des Jura, nachdem ich etwa zwölf Tage unter ihnen geweilt hatte, verließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.

Vor seiner Rückkehr nach Russland deckte er sich reichlich mit sozialistischer, in Russland natürlich verbotener Literatur ein, die er nur durch professionelle Schmuggler über die Grenze bringen lassen konnte.
Es gelang.

Am nächsten Tage fuhr ich von Krakau ab; und auf der bestimmten russischen Station trat ein Gepäckträger an meinen Wagen und sagte so laut, dass es der auf dem Bahnsteig auf- und abgehende Polizist hören konnte, zu mir: »Hier ist der Koffer, den Eure Hoheit gestern hinterlassen haben«, und händigte mir mein wertvolles Paket ein.
Ich freute mich so, es in Händen zu haben, dass ich nicht einmal in Warschau Halt machte, sondern meine Reise ohne Aufenthalt nach Petersburg fortsetzte, um meinem Bruder meine Siegesbeute zu zeigen.

[Das Großherzogtum Krakau gehörte seit 1846 zu Österreich und das übrige Polen ausgenommen das Großherzogtum Posen, das zu Preußen gehörte, war seit 1867 (Kongresspolen seit 1815) ein Gouvernement Russlands, somit war Warschau „russisch“; die Grenze zu „Russland“ verlief wenige Kilometer nördlich von Krakau.]

Zurück in Petersburg setzte Kropotkin offiziell seine wissenschaftliche Arbeit für die Geografische Gesellschaft fort, suchte und fand aber sofort Kontakt zu den sozialistischen Gruppen im Untergrund. Er schloss sich dem Tschaikowski-Kreis an, einer Narodniki-Gruppe um Nikolai Tschaikowski, den Bruder des Komponisten Peter Tschaikowski; Nikolai wurde später zwar mehrmals verhaftet, kam aber immer wieder frei, und kämpfte während der Revolution auf der Seite der Weißen und Alliierten, weil ihm die Gewalt der Oktoberrevolution zuwider war. Auch war er zeitweilig Präsident der Regierung von Nordrussland. Als ehemaliger Kämpfer gegen den Zaren, der dann Kollaborateur der Alliierten wurde, wurde er in Stalins Werken mit beißendem Spott bedacht. Kropotkin agitierte in Petersburg insgeheim unter dem Decknamen Borodin und war offiziell ein anerkannter Geologe, so anerkannt, dass er im April 1874 als Vorsitzender der Sektion für Physische Geografie vorgeschlagen wurde. Aber schon auf der Heimfahrt von der Sitzung ahnte er, dass man ihm auf der Spur war. Noch in der selben Nacht wurde er verhaftet und nach kurzem Verhör am nächsten Tag in eine Zelle der Peter-Pauls-Festung gebracht. Alexander II. gestatte ihm, in seiner Zelle seine Forschungsberichte fertig zu schreiben und Ende des Jahres kam sogar der Großfürst Nikolaus, Alexanders II. Bruder, in seine Zelle, um ihn – ihn an seine hohe Stellung bei Hofe erinnernd – auszufragen (und ihm vielleicht zu helfen). Kropotkin blieb jedoch verschwiegen.

Mit der Zeit ging es ihm gesundheitlich immer schlechter. Im April 1876 waren die Voruntersuchungen beendet und er wurde ins Untersuchungsgefängnis verlegt. Zu diesem Zeitpunkt war er jedoch schon so krank, dass man ihm keine zwei Monate mehr gab und seiner Schwester gelang es, die Obrigen davon zu überzeugen, ihn ins Petersburger Garnisonshospital zu verlegen. Wenn überhaupt, war das die einzige Möglichkeit, Kropotkin zu befreien, und seine Freunde nahmen die Chance wahr. Nachdem Kropotkin wieder einigermaßen gesundet war, konnte er im Rahmen einer groß angelegten Aktion und unter Mitwirkung vieler Freunde fliehen: Bei seinem täglichen Hofspaziergang rannte er an der Schildwache vorbei, sprang in eine wartende Kutsche und jagte auf einer von weiteren Freunden gesicherten Route davon.

Kaum hatte ich aber ein paar Schritte getan, als die das Holz am andern Ende des Hofes aufschichtenden Bauern schrien: »Er läuft fort! Haltet ihn! Fangt ihn!« und mir am Tore den Weg verlegen wollten. Da flog ich, als gälte es mein Leben. An nichts anderes dachte ich mehr als schnell zu laufen – nicht einmal an das Loch, das die Karren am Tore ausgefahren hatten: »Renne! Renne, was du kannst!« tönte es in mir.
Wie mir meine Freunde, die der Szene vom grauen Häuschen zuschauten, später erzählten, lief die Schildwache samt den drei Soldaten, die auf den Türstufen saßen, hinter mir her. Die Wache war mir so nahe, dass sie sicher glaubte, sie könnte mich fangen. Mehrmals stieß sie mit dem Gewehr nach vorn, um mich mit dem Bajonett in den Rücken zu stechen, und einen Augenblick dachten meine Freunde, sie hätten mich. Offenbar war mein Verfolger so überzeugt, auf diese Weise meiner habhaft werden zu können, dass er nicht schoss. Aber ich behielt meinen Vorsprung, und am Tore musste er die Hoffnung, mich einzuholen, aufgeben. Sobald ich das Tor glücklich hinter mir hatte, bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass in dem Wagen ein Zivilist mit einer Militärkappe saß, der sein Gesicht mir nicht zuwendete. Verkauft! war mein erster Gedanke. Meine Kameraden hatten geschrieben: »Bist du erst in der Straße, so gib dich nicht verloren, es werden Freunde da sein, die dich im Falle der Not verteidigen«; ich wollte daher nicht in den Wagen springen, wenn sich ein Feind darin befand. Als ich aber dem Wagen näher war, sah ich, dass der Mann einen blonden Backenbart trug, der wie der eines guten Freundes von mir aussah. Er gehörte zwar unserm Kreise nicht an, aber wir waren persönlich befreundet, und ich hatte mehr als einmal Gelegenheit gehabt, seinen kühnen Mut kennenzulernen und zu sehen, wie seine Kraft, wenn es not tat, auf einmal wahrhaft herkulisch wurde. Warum sollte er hier sein? Ist es möglich? dachte ich, und wollte schon seinen Namen rufen, als ich noch zur rechten Zeit an mich hielt und stattdessen, während ich noch lief, in die Hände klatschte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er wandte mir sein Gesicht zu, und nun wusste ich, wer es war. »Spring herein, rasch, rasch!«, schrie er mit schrecklicher Stimme und einen Revolver schussbereit in der Hand haltend, trieb er mich und den Kutscher mit heftigen Worten zur Eile an. »Fahre! Fahre schnell oder ich schieß’ dich nieder, Kerl«, rief er dem Kutscher zu. Das Pferd, ein schöner erprobter Traber, den man zu diesem Zwecke erstanden hatte, setzte in vollem Galopp ein. »Haltet sie! greift sie!«, klang es gellend von zahlreichen Stimmen hinter uns, während mein Freund mir inzwischen behilflich war, mich mit einem Zylinder und einem eleganten Überrock zu bekleiden.

Über Finnland und Schweden flüchtete Kropotkin unter dem Decknamen Levašev nach England.


   Pëtr Kropotkin um 1900

In den fünf Jahren nach seiner Flucht, von 1876 bis 1881, lebte er hauptsächlich in Frankreich und der Schweiz. Nach dem Tod Bakunins (1876), den er nie persönlich getroffen hatte, war er das unerklärte Haupt der anarchistischen Bewegung; er hielt agitatorische Vorträge und verstand sich als Propagandist des Anarchismus. 1878 musste er aufgrund dieser Aktivitäten aus Frankreich in die Schweiz fliehen; dort wurde er 1881, nach der Ermordung Alexanders II., auf Druck der russischen Regierung ausgewiesen und ging über London zurück nach Frankreich. Frankreich aber hätte er besser meiden sollen, denn prompt wurden er und weitere Anarchisten 1882 – nach einem Bombenattentat, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hatten – wegen Zugehörigkeit zu einer internationalen Arbeiterassoziation verhaftet; Kropotkin wurde 1883 zur Höchststrafe von fünf Jahren Haft verurteilt, was in ganz Europa für Empörung sorgte. Nach drei Jahren wurde er dann auch – gegen den Willen Alexanders III., der intervenierte – vorzeitig entlassen. Der ganze Prozess war eigentlich eine Farce, hier wollte der Staat ganz einfach seine Macht gegenüber den Sozialisten demonstrieren. Da Argumente und Fakten fehlten, kam es zu den lächerlichsten Szenen:

Dieser Brief [Kropotkin erklärt darin einem Arbeiter die Grammatik- und Interpunktionsregeln, hmw] wurde vom Ankläger vor Gericht verlesen und verleitete ihn zu einem höchst pathetischen Kommentar. »Meine Herren, Sie haben diesen Brief gehört«, begann er, zum Gerichtshof gewendet, seine Rede. »Sie haben ihn vernommen. Auf den ersten Blick scheint nichts Verfängliches darin zu sein. Er erteilt einem Arbeiter Unterricht in der Grammatik… Aber« … und hier zitterte seine Stimme vor tiefer Erregung – »dies geschah nicht, um einem Arbeiter Kenntnisse beizubringen, die er sich in der Schule anzueignen wahrscheinlich aus Faulheit versäumt hatte. Es geschah nicht, um ihn in den Stand zu setzen, sein Brot ehrlich zu verdienen… Nein, meine Herren… er lehrte es ihn nur, um ihn mit Hass gegen unsere erhabenen und herrlichen Einrichtungen zu erfüllen, um ihm nur um so besser das Gift des Anarchismus einzuflößen, um ihn nur zu einem furchtbareren Feinde der Gesellschaft zu machen… Verflucht sei der Tag, an dem Kropotkin seinen Fuß auf Frankreichs Boden gesetzt hat!« rief er mit wunderbarem Pathos.
Wir mussten während der ganzen Rede lachen wie Schuljungen, und die Richter warfen ihm Blicke zu, als wollten sie sagen, er tue in seiner Rolle des Guten zu viel. Er schien aber nichts zu merken und sprach, von seiner Beredsamkeit hingerissen, mit immer theatralischeren Bewegungen und Tönen weiter. Wahrhaftig, er tat sein Bestes, sich eine Belohnung von der russischen Regierung zu verdienen.

In den letzten zehn Kapiteln seiner Memoiren eines Revolutionärs schildert er die Zeit der Agitation, der Verhaftung und des Prozesses, die Zustände im französischen Gefängnis, seine Entlassung 1886 und seine endgültige Übersiedlung nach London. Das letzte Kapitel – es endet 1890 – ist eine Rückschau, Analyse und ein vorsichtiger Blick in die Zukunft des Sozialismus.

In den nachfolgenden 30 Jahren in England (von 1876 bis 1917) kehrte er trotz seiner Beziehungen zur englischen Anarchisten- und Arbeiterbewegung nicht zurück zur Agitation. Stattdessen widmete er sich ganz seiner Arbeit an Publikationen und Vorträgen zur Philosophie und Moral des Anarchismus und zur Soziologie; außerdem veröffentlichte er mehrere populäre naturwissenschaftliche Arbeiten. Sein Leben entsprach dem eines Privatgelehrten.

Noch während seiner Haft hatte sein Freund Élisée Reclus 1885 die Worte eines Rebellen, eine Sammlung von mit Seele geschriebenen Gedanken und Artikeln Kropotkins herausgebracht. In der Zeitschrift The Nineteenth Century erschienen viele seiner Artikel, unter anderem auch Mutual Aid Among Animals, in Buchform später unter dem deutschen Titel Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt erschienen, eine Abrechnung mit Darwin, in deren Verlauf Kropotkin zeigt, dass sich im Kampf ums Überleben immer die Gruppen durchgesetzt haben, in denen Zusammenhalt und gegenseitige Hilfeleistungen zentral waren – ein wesentlicher Grundgedanke des Anarchismus. 1892 erschien die Textsammlung Die Eroberung des Brotes, in der er die Voraussetzungen für eine anarchistische Gesellschaft an einigen Grundbedürfnissen für die menschliche Existenz wie Lebensmittel, Wohnen, Kleidung, Arbeit usw. zu klären versucht, 1898 Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. In seinem Buch Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1913 in deutscher Sprache erschienen; auch: Der Anarchismus) skizziert er die Geschichte der Naturwissenschaften und des anarchistischen Denkens in der Absicht, eine Legimitation des Anarchismus zu erreichen. 1896 bringt Kropotkin Die historische Rolle des Staates und 1913 Der moderne Staat heraus, Werke, in denen er gesellschaftliche Einrichtungen naturwissenschaftlich untersucht, um daraus Schlüsse für seine Auffassung von Anarchismus zu ziehen. Nach seinem Tod erscheint noch das nicht mehr fertig gestellte Werk Ethik. (Alle Veröffentlichungen Kropotkins aufzulisten, ist hier nicht möglich, eine gute Übersicht bietet Heinz Hug in seiner Bibliographie Peter Kropotkin 1842–1921)
Aus den Vorträgen, die Kropotkin auf ausgedehnten Vortragsreisen durch die USA 1897 und 1901 hielt, gingen das schon oben erwähnte Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur und die besprochenen Memoiren eines Revolutionärs hervor.

Als einen Bruch in seiner Biografie – ähnlich wie Gorkis „Sündenfall“, als er sich zur Verniedlichung des GULAG hergab – muss man Kropotkins Entscheidung für den Ersten Weltkrieg sehen. Er, der wie seine Freunde und Mitstreiter ein eingeschworener Antimilitarist war – schließlich war der Antimilitarismus auch Grundlage der von ihm formulierten Theorie des Anarchismus –, war plötzlich der Meinung, dass erst nach dem „Endsieg über den germanischen Militarismus“ der Anarchismus Verwirklichung finden könnte. Damit stieß er alle Anarchisten, insbesondere die russischen, vor den Kopf. Sehr schnell fand er sich allein und isoliert.


   Kropotkin auf dem Totenbett

Zwar wurde er bei seiner Rückkehr nach Petersburg im Jahr 1917 von Zigtausenden triumphal empfangen, bei Lenin und seinen Mitstreitern aber war diese Einstellung ein weiteres Malus, das zu seiner Theorie des Anarchismus, die ja einen Staat wie ihn die Bolschewiki wollten ablehnt, hinzukam. Lenin wollte, gerade um seinen Staat bilden zu können, den Krieg so schnell wie möglich und ohne Rücksicht auf Verluste beenden. Auch die Oktoberrevolution 1917 verurteilte Kropotkin, denn sie sollte zu einer Diktatur führen; und eine Diktatur – egal wer über wen – stand Kropotkins Vorstellungen von einem libertären Kommunismus (Anarchismus) diametral gegenüber.

Aus Krankheitsgründen konnte Kropotkin nicht in Petersburg bleiben und fand sich sehr schnell im kleinen Dorf Dmitrov nahe Moskau wieder. Hier waren ihm seine Abgeschieden- und Ausgeschlossenheit nahezu unerträglich. Zwar wetterte er ähnlich wie Vladimir Korolenko in Briefen an Lenin gegen die unhaltbaren Exzesse der Revolutionäre und 1919 kam es sogar zu einem Treffen in Moskau, aber er war ein Rufer in der Wüste, eine Persona non grata geworden. Dass er in den letzten Jahren an seinem Werk Ethik (1923 unter dem Titel Ethik. Erster Band: Ursprung und Entwicklung der Sittlichkeit im Berliner Verlag »Der Syndikalist« erschienen) arbeitete, war sicher die Folge dieser Ereignisse.

Am 8. Februar 1921 starb Kropotkin an den Folgen einer Lungenentzündung, nachdem er schon durch Nahrungsmangel geschwächt war.
Die Konfrontation mit Lenin und seinen Revolutionären hatte dazu geführt, dass sein Ansehen auch bei den russischen Anarchisten in seinen letzten Lebensjahren wieder gestiegen war, und so kam es, dass bei seiner Beerdigung nahezu hunderttausend Menschen und ein Meer von schwarzen Fahnen dem Sarg folgten. Das Ansehen Kropotkins in der Bevölkerung war so groß, dass Lenin einigen Quellen zufolge sogar allen gefangenen Anarchisten für den Tag der Beerdigung „Urlaub“ aus den Gefängnissen geben musste.

Pëtr Alexeevi&#269 Kropotkin ist ohne Zweifel eine ganz große Persönlichkeit aus und für Russland und ein wichtiger Theoretiker des Sozialismus. Sein Konzept des Anarchismus ist ganz sicher nicht eins zu eins umsetzbar und schon gar nicht in die heutige Zeit übertragbar, es gilt jedoch, vielleicht mehr denn je, seine Vorstellungen von einer gerechten Welt neu zu durchdenken. Um dabei zu positiven Ergebnissen zu kommen, müssen lieb gewordene oder einfach nur eingefahrene Verhaltensweisen hinterfragt werden – und das tut bekanntlich weh.

Literatur

Die Zitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus:
Memoiren eines Revolutionärs (Insel Verlag, 1969; autorisierte Übersetzung von Max Pannwitz, um 1900)

Im Jahr 2002 sind die Memoiren im Unrast Verlag in 2 Bänden von Heiner Becker und Nicolas Walter neu übersetzt herausgegeben worden. Die Übersetzung ist ganz unwesentlich modernisiert; ausgezeichnet ist die Einleitung, die ein sehr gutes Bild von Kropotkin und seinen Memoiren zeichnet, und geradezu hervorragend und ausführlich sind die Fußnoten zum Text, die ganz wesentlich zum Verständnis beitragen.

Weitere Werke von Pëtr Alekseevi&#269 Kropotkin (Auswahl):

Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur (Diogenes Verlag, 2003; herausgegeben und kommentiert von Peter Urban)

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt
(Ullstein Verlag, 1975; englisches Original 1902: »Mutual Aid. A Faktor of Evolution«)

Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1978)

Der Anarchismus – Ursprung, Ideal und Philosophie (Trotzdem Verlagsgenossenschaft, 2002; Neuübersetzung aus dem Französischen von Heinz Hug)

Die Eroberung des Brotes (Edition Anares und Trotzdem Verlag, 1999; französisches Original »La Conquête du Pain« 1892, deutsche Fassung 1919 im Verlag »Der Syndikalist«, neu herausgegeben von Heinz Hug)

Der Staat und seine historische Rolle, neu herausgegeben im Unrast Verlag 2008. Es enthält Kropotkins Schriften Die historische Rolle des Staates (1896) und Der moderne Staat (1913) mit einer sehr guten Einleitung von Teo Panther.

Ich danke dem Unrast Verlag für seine wohlwollende Unterstützung.

Sekundärliteratur

Alphons Thun: Die Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (1883)

19. February 2010

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1 Kommentar

  1. Joachim Winsmann schrieb am February 19, 2010:

    Ich freue mich, wieder etwas von Herrn Wietek zu lesen, der mit seinem Essay einem Dino der Demokratisierungsgeschichte Europas kurzzeitig wieder Leben eingehaucht hat.


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