So genial wie maßlos – Hans Henny Jahnn, der große Außenseiter in der deutschen Literatur
von tergastVor einiger Zeit war der Dichter Oskar Loerke Gegenstand dieser Kolumne, die der Würdigung fast vergessener Autoren gewidmet ist (hier geht’s zur Kolumne über Oskar Loerke). Doch Loerke schrieb nicht nur selbst, er goutierte auch, was andere schrieben, und überreichte sogar Preise dafür. So beispielsweise im Jahr 1920, als der nicht gerade unwichtige Kleist-Preis für ein völlig unbekanntes Buch eines völlig unbekannten Schriftstellers verliehen wurde. Das Buch hieß Pastor Ephraim Magnus, der Autor Hans Henny Jahnn.
Geschrieben hatte Jahnn das preisgekrönte Drama, das vom Rezensenten Julius Bab als „Ausbruch des Wahnsinns“, dem der Verbleib im „Giftschrank der Menschheit“ zu wünschen sei, bezeichnet wurde, bereits in den Jahren 1916/1917, als er sich gemeinsam mit seinem Freund und ehemaligen Mitschüler, dem späteren Musikschriftsteller Gottlieb Friedrich Harms, in Norwegen befand. Harms, mit dem Jahnn eine homoerotische Beziehung verband, war während des Ersten Weltkriegs mit ihm in das skandinavische Land emigriert, um sich der drohenden Einberufung zu entziehen. Die Liebe zwischen den beiden Männern, die weder von der einen noch von der anderen Familie akzeptiert wurde, gilt bis heute als Schlüssel zur Interpretation des Lebenswerkes von Hans Henny Jahnn.
Das Leben, das dieses Werk hervorbringen sollte, begann kurz vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1894 vor den Toren Hamburgs, im heutigen Stadtteil Stellingen. Vom Vater, einem Schiffstischler, erbte der Sohn den Sinn für Genauigkeit, für die Präzision des – in seinem Falle schriftstellerischen – Handwerks.
In Norwegen reifte Jahnn langsam zum ernst zu nehmenden Dichter heran, der auf der Basis einer zutiefst heidnisch-antichristlichen Einstellung in seinen Werken mit der gängigen Kultur und den sie gestaltenden Menschen abrechnete. Gemeinsam mit Gottlieb Harms schmiedete er hochtrabende Pläne für kultisch-archaische Bauten, die nie umgesetzt wurden. Sie sollten zum Lebensraum der kultischen Gemeinschaft Ugrino werden, die die beiden Liebenden nach ihrer Rückkehr in Eckel am Nordrand der Lüneburger Heide gemeinsam mit dem Bildhauer Franz Buse gründeten. Realisiert haben sie dort immerhin den Ugrino-Verlag für die Musik barocker und vorbarocker Komponisten, der die Gesamtausgaben von Arnolt Schlick, Samuel Scheidt, Claudio Merulo oder auch Dietrich Buxtehude publiziert hat. Spuren dieser Verlegertätigkeit finden sich auch in Jahnns literarischem Schaffen wieder, wenn etwa die mehrstimmige Musik jener Komponisten als Medium der Erinnerung eingesetzt wird.
Obwohl die Liebe zu Gottlieb Harms groß und sehr tiefgehend gewesen sein muss – nicht umsonst sind beide auf dem Friedhof Nienstedten nebeneinander bestattet –, ging Jahnn im Jahr 1926 die Ehe mit Ellinor Philips ein, die ebenfalls in Eckel gewohnt hatte, und zog mit ihr zurück nach Hamburg. Ein öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität ist ihm bis zu seinem Tode nie über die Lippen gekommen.
Nach der Rückkehr in die Hansestadt nimmt Jahnns dichterisches Schaffen richtig Fahrt auf. Der Roman Perrudja entsteht; er wird 1929 vollendet. Man hat seine epische Darstellungsweise in diesem und späteren Büchern mit jener Alfred Döblins und James Joyce’ verglichen. Die Polyphonie, die Bildgewalt, die ungebändigte Sprachmacht suchen ihresgleichen. Wie auch in Fluß ohne Ufer, einer Trilogie, deren Entstehung sich über viele Jahre hinzog, ist es hier vor allem die Ursprünglichkeit der Naturerfahrung, die den Menschen in Jahnns Denken und Schaffen immer wieder auf sich selbst, auf sein Ausgeliefertsein an nicht zu bändigende Mächte zurückwirft.
Die Zeit des Nationalsozialismus bringt für Jahnn wie für so viele Kollegen einen Bruch im künstlerischen Schaffen mit sich, wenngleich er sich nie dezidiert Exil-Kreisen angeschlossen oder offen gegen die Nazis opponiert hat. Diese misstrauten ihm, durchsuchten mehrfach seine Hamburger Wohnung, gingen jedoch nie direkt gegen den in der nationalsozialistischen Presse als „Kommunist“ und „Pornograph“ Geschmähten vor; selbst die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer blieb bestehen. Die zwölf dunklen deutschen Jahre verbrachte Jahnn größtenteils auf der zu Dänemark gehörenden Insel Bornholm; auch während der deutschen Besatzung Dänemarks gibt es für ihn keinen Grund, zu fliehen.
Auf Bornholm entsteht auch das schon erwähnte Großwerk Fluß ohne Ufer, das heute als Hauptwerk des eigenwilligen Dichters angesehen wird. Nach dem Krieg verlässt Jahnn Bornholm; es geht wieder zurück nach Hamburg, wo der umtriebige Autor versucht, sich ins literarische Leben der jungen Bundesrepublik einzubringen. Er ist Mitglied im PEN sowie in mehreren Akademien, engagiert sich aber auch und vor allem in der Frage der atomaren Bedrohung der Menschheit, was sich in seinem unvollendeten Atomdrama Die Trümmer des Gewissens – Der staubige Regenbogen (1961) widerspiegelt.
Jahnns literarisches Werk ist alles: großartig, hermetisch, anspruchsvoll, mystisch, maßlos, kenntnisreich. Vor allem hat es wohl zu allen Zeiten viele Leser überfordert und auch deshalb nie die Bedeutung zugesprochen bekommen, die ihm gebührt. Gleichwohl vermag es bis heute und sicher auch in Zukunft die Leseerfahrung jedes geübten Lesers zu bereichern.
Bibliographie (Auswahl)
Pastor Ephraim Magnus (Drama, 1919)
Die Krönung Richards III. (Tragödie, 1921)
Der Arzt / Sein Weib / Sein Sohn (Drama, 1922)
Der gestohlene Gott (Tragödie, 1924)
Medea (Tragödie, 1926; 2. Fassung 1959)
Perrudja (Roman, 1. Teil 1929, 2. Teil unvollendet)
Straßenecke (Drama, 1931)
Armut, Reichtum, Mensch und Tier (Drama, 1933; 2. Fassung 1948)
Fluß ohne Ufer (Romantrilogie)
– Das Holzschiff (1949, überarbeitete Fassung 1959)
– Die Niederschrift des Gustav Anias Horn
nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war (1949/50)
– Epilog (1961 aus dem Nachlass veröffentlicht)
Die Nacht aus Blei (Roman, 1956)
Spur des dunklen Engels (Drama, 1952)
Thomas Chatterton (Tragödie, 1955)
Die Trümmer des Gewissens – Der staubige Regenbogen
(Drama, 1961)
Ugrino und Ingrabanien (Romanfragment, 1968 aus dem Nachlass veröffentlicht)
Stichwörter:
Atomkraft, Barock, Drama, Heidentum, Homosexualität, Kult, Musik, Musikverlag, Natur, Naturerfahrung, Polyphonie, Roman, Tragödie, Zu gut zum Vergessen2 Kommentare
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Arno Abendschön schrieb am November 30, 2009:
Diese Einschätzung Jahnns teile ich in vollem Umfang. Im vorliegenden Text sind allerdings einige Unrichtigkeiten enthalten. So hielten sich Jahnn und Harms im 1. Weltkrieg in Norwegen auf, um der Einberufung zu entgehen. Die Entstehung der Trilogie “Fluss ohne Ufer” ist falsch datiert: Der größte Teil des Textes ist in der Bornholmer Zeit entstanden, vor allem während des 2. Weltkriegs. – Arno Abendschön
Carsten Tergast schrieb am December 2, 2009:
Hallo Herr Abendschön,
danke für das Lob und die Anmerkungen. Die Datierung von “Fluss ohne Ufer” war so natürlich falsch, da sind Erscheinungs- und Entstehungsdaten durcheinander geraten. Der Emigrationsgrund ist jetzt präzisiert.
Vielen Dank fürs aufmerksame Mitlesen und -denken!
Carsten Tergast