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SPUREN – Eine poetische Schatzsuche mitAnton G. Leitner. 1.Teil: Horst Bingel

von g.leitner

Bis 1997 war er für mich lediglich ein Name, der gelegentlich fiel:
Horst Bingel, Herausgeber einer erfolgreichen Anthologie im Deutschen Taschenbuch Verlag, „Deutsche Lyrik seit 1945“, oder Bingel, Ex-Vorsitzender der Schriftstellergewerkschaft. Bis ich ihn eines Mittags kennenlerne.

Minipressen-Messezeit in Mainz: Der Rhein strömt gemächlich an Zelten vorbei, die so verloren am Ufer stehen, als hätten Pfadfinder vergessen, sie abzubauen. Innen erinnern sie an Wigwams. Im Wigwam schälen sich die Silhouetten schmächtiger Verleger aus dem Zigarettenrauch. Sie tragen verwaschene Wollpullover und begrüßen per Handschlag korpulente Damen reiferen Alters oder untersetzte Herren mit gesenktem Blick, die sich als „Autoren“ vorstellen und deren Füße in Sandalen stecken. Die Autoren sind von weit angereist, kaufen den Kleinverlegern nichts ab, sondern wuchern mit pfundschweren Gedichtmanuskripten. Erst wenn sie sich um ein Lyrikbündel erleichtert haben, suchen sie den nächsten Verlagsstand auf. Ganze Versstapel verdrängen nach und nach jene bibliophilen Produktionen, die ursprünglich feilgeboten werden sollten. Die Mienen der Verleger verdüstern sich zusehends, weil ihnen dämmert, dass sie schwer beladen heimkehren werden…

Ein paar hundert Meter weiter bilden im Foyer des Mainzer Rathauses einige Männer im Anzug und Frauen im Kostüm einen Kreis. Bürgermeister und Kulturdezernent treten in die Mitte, um halb verhalten, halb amtlich, die Verleihung des „Victor-Otto-Stomps-Preises“ der Stadt Mainz anzukündigen. Sie bitten den Laudator im Cordsakko zu sich. Der Lobredner mit Professorentitel verhaspelt sich mehrmals, dann darf der Gelobte selbst hervortreten, um eine überdimensionale Preisurkunde nebst einem überschaubaren Scheck zu empfangen, woraufhin alle zaghaft klatschen, in der Hoffnung, sich nach einem Glas Sekt zum Mittagessen verabschieden zu können.

Am 8. Mai 1997 hat Horst Bingel die Mainzer Verleihungszeremonie durcheinandergebracht. Denn unmittelbar nach Übergabe der Urkunde stürmte er, als ich gerade zu meiner kurzen Dankesrede ansetzen wollte, in die Mitte. Dieser stattliche Mann mit grauem Haupthaar ruderte wild und entschlossen mit beiden Armen in der Luft und strahlte dabei eine solche Autorität aus, dass ich sofort mein Konzept einsteckte. Bei seiner Präsenz wagte es niemand, den Kreis zu verlassen. Noch im Fuchteln hob er zur Laudatio nach der Laudatio an, die im Wesentlichen aus Anekdoten über seine gemeinsamen Jahre mit Stomps bestand, den er „VauO“ nannte. Während er ohne Punkt und Komma sprach, klopfte er mir mehrere Male so fest auf die Schultern, dass ich alle Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Auch laut knurrende Mägen vermochten nicht, seinen Redefluss zu bremsen. Da er sich – im festen Glauben, alle wüssten, wer er sei – nicht vorgestellt hatte, dauerte es eine Weile, bis der außerplanmäßige Redner hinter vorgehaltener Hand als Horst Bingel aus Frankfurt, seines Zeichens ehemaliger „Stompsjünger“, identifiziert werden konnte.

Obwohl auch mein Magen zu rebellieren begann, zog mich dieser verrückte Bingel in seinen Bann. Denn aus seinen sehr persönlichen, detaillierten und bildreichen Schilderungen gewann für mich nach und nach jener Victor Otto Stomps, nach dem der Preis benannt ist, an Konturen. Bis ich schließlich „VauO“ wie er leibte und lebte vor Augen hatte. Bingel erläuterte, wie sich Stomps, der aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, vom Offizier der Artillerie zum Büchernarr, Dichter und Handpressendrucker verwandelt hatte. In seiner armseligen Werkstatt „Schloss Sans Souris“ (Schloss ohne Mäuse) mitten auf dem Land, im hessischen Stierstadt (Taunus), zauberte er mit einfachsten Mitteln und Entdeckertalent, mutig Literatur – insbesondere Lyrik – zwischen liebevoll gestaltete Buchdeckel. Unterstützt wurde er von unbezahlten Helfern wie dem jungen Bingel oder einer verschrobenen, lesbischen Prinzessin. Ironie des Schicksals, dass Verleger Stomps von der Hand in den Mund leben musste, während seine in Kleinauflagen produzierten Titel heute auf dem antiquarischen Markt ein kleines Vermögen kosten.

Nach seiner 30-minütigen Überraschungsrede, die soviel Zeit beanspruchte wie die Preisverleihung, schloss sich uns Bingel zum Mittagessen in einer Mainzer Altstadtkneipe an. In bereits bekannter Manier gab er dort weiter Geschichten aus dem Literaturbetrieb zum Besten, die alle in den 60er oder 70er Jahren spielten. Er erzählte so lebhaft, dass man glauben konnte, dies alles hätte sich erst gestern ereignet. Horst Bingel holte bis zu seiner Lehrzeit im Frankfurter Verlagsbuchhandel aus, streifte sein Studium der Malerei und Bildhauerei, kam wieder mit leuchtenden Augen auf die Zeit bei Stomps (1958 bis 1960) zurück, in dessen Eremiten-Presse er 1956 mit dem Gedichtband „Kleiner Napoleon“ debütiert und 1960 eine zweite Lyriksammlung („Auf der Ankerwinde zu Gast“) nachgelegt hatte. Drastisch schilderte er den Skandal um seinen dritten Versband mit dem provozierenden Titel „Wir suchen Hitler“, der 1965 im Scherz Verlag erschienen war, durcheilte jene turbulenten Jahre als Herausgeber der legendären „Streit-Zeit-Schrift“ (1957 bis 1969), bis er schließlich, sichtlich bewegt, seine kurze Amtszeit als Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller (1974 bis 1976) kommentierte – zwei Jahre voller Intrigen und Eifersüchteleien unter Kollegen.

Unserer ersten Begegnung in Rheinland-Pfalz folgten ein Dutzend weiterer Treffen in Bayern, weil Bingel gerne in Dießen Ferien machte und dabei vielleicht auch im Kopf hatte, dass ich in der Ammerseeregion lebe. Natürlich ärgerte es mich gelegentlich, dass er sich nur selten nach meiner Arbeit erkundigte und mir immer wieder dieselben Geschichten auftischte. Manchmal mischten sich aber neue darunter, etwa jene über eine entwürdigende Steuerprüfung, die ihn, Träger der „Wilhelm-Leuschner-Medaille“ des Landes Hessen (1984), zum Hobbyschriftsteller herabzustufen versuchte.

Horst Bingel war ein geborener Geschichtenerzähler mit dem Langzeitgedächtnis eines Elefanten. Viele seiner Anekdoten waren mir so vertraut, weil ich sie – Jahre später – genauso erlebte wie er. Als 1969 ein Themenheft seiner „Streit-Zeit-Schrift“ zur „Pornografie“ erschien (Jg. 7, Heft 1), traten ebenso Moralapostel auf den Plan, wie 30 Jahre später, als ich das erste „Erotik-Special“ von DAS GEDICHT unter dem Titel „Vom Minnesang zum Cybersex – geile Gedichte!“ (DAS GEDICHT Nr. 8, Okt. 2000) herausgab und damit einen Sturm der Entrüstung auslöste. Wie hatte doch Rolf Dieter Brinkmann in Bingels Pornografie-Nummer gemutmaßt: „Die wohl ,unaufgeklärteste‘ literarische Gattung im deutschsprachigen Raum dürfte das Gedicht sein.“

Oft ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass Bingel mir gegenüber vielleicht nur soviel über sich redete, weil er davon ablenken wollte, dass er in Wirklichkeit mein Leben beschrieb. Bei jedem Besuch brachte er ein Buch von sich mit und übergab es mir wie eine Neuerscheinung. Da ich mehrere seiner – durchwegs vergriffenen – Bände selbst besorgt hatte, darunter die Anthologie „Zeitgedichte. Deutsche politische Lyrik seit 1945“ (Piper-Bücherei, München 1963) und seine Erzählbände „Die Koffer des Felix Lumpach“ (Insel-Verlag, Frankfurt a. M. 1962; für die ARD 1966 verfilmt) sowie „Herr Sylvester wohnt unter dem Dach“ (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1982), lernte ich ihn und sein Werk immer näher kennen. Mich beunruhigte die Tatsache, dass er sich ab 1986 „ganz zum Schreiben zurückgezogen“, aber seitdem, außer verstreuten Veröffentlichungen von Gedichten in Anthologien und Zeitschriften, keine selbstständige Publikation mehr auf den Weg gebracht hatte.

Lediglich eine Literaturzeitschrift aus der Schweiz, „orte“, widmete Bingel im Jahr 2000 unter dem Titel „Aufs Rad geflochten“ ein Sonderheft (orte Nr. 118). Ich selbst nahm einzelne seiner neuen Gedichte in DAS GEDICHT auf (zuletzt die Kindheitserinnerung „Vor dem Fenster“ in DAS GEDICHT Nr. 13, Okt. 2005) oder druckte ihn in Anthologien wie „SMS-Lyrik“ („Die Post eine einzige Schnecke, / die Eselsohren in Liebesbriefe knickt“). Bingel reichte mir etliche Gedichte ein, die knapp an unseren Aufnahmehürden scheiterten, oft nur, weil ein einzelnes Bild zu dick aufgetragen oder ein Wort schief im Ausdruck war. Kleine Verbesserungen im Wege des Lektorats hätten ausgereicht, um die meisten seiner Texte zur Druckreife zu bringen; ich fühlte diesbezüglich mehrmals vorsichtig bei ihm vor, aber stieß dabei stets auf eine Wand aus Beton.

Apropos Beton: „Lied für Zement“ heißt eine Sammlung von 55 Gedichten Bingels, die 1975 als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen ist und einen Querschnitt seines lyrischen Schaffens bietet. Lyrik-Großmeister Karl Krolow verfasste das Nachwort dafür. Er charakterisiert Bingel als einen melancholischen Lyriker, dessen Beute die „Zeit auf Widerruf“ sei, „in ihren flüchtigsten Momenten“. Bingel verstehe es, ironisch, leicht, aber nie leichtfertig, „die Grazie der Desillusion“ gewissermaßen „en passant“ anzubringen, wobei er zu „verbalen Handstreichen“ neige und sich gerne des Mittels der „Überraschung“ bediene.

Zement ist das Bindemittel für Beton, ein feingemahlener Stoff, der nach dem Anrühren mit Wasser selbständig erstarrt, erhärtet und nach dem Erhärten raumbeständig bleibt. „Wir biegen das Blech, / nicht Blume, nicht Baum; / die Straßen vermauert, bis / dann die Männer kommen / am Abend, am / Morgen der Umzug“, heißt es in Bingels „Lied für Zement“, und „Was steht ihr herum?“, fragt er dann ganz plötzlich den Leser, der sich vom Autor ertappt fühlt. Im Gedicht „Widmung für Lerchen“ empfiehlt Bingel, das Singen besser gleich bleiben zu lassen: „Überlaßt die Lieder den Lerchen, / sie überleben durch Gesang.“

Horst Bingel ist am 14. April 2008 im Alter von 74 Jahren in Frankfurt am Main gestorben. Am 6. Oktober 2008 wäre er 75 Jahre alt geworden. Seine Lieder sollten nicht nur im Gesang der Lerchen überleben!

Ausgewählte Titel von Horst Bingel:

Gedichtbände:
Kleiner Napoleon. Eremiten-Presse, Stierstadt 1956
Auf der Ankerwinde zu Gast. Eremiten-Presse, Stierstadt 1960
Wir suchen Hitler. Scherz Verlag, München / Bern / Wien 1965
Lied für Zement. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 1975

Prosa:
Die Koffer des Felix Lumpach. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1962
Herr Sylvester wohnt unter dem Dach. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1967; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1982

Anthologien:
Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1961; Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1963 ff. (Sonderreihe)
Deutsche Prosa. Erzählungen seit 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1963; Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1965 ff. (Sonderreihe)
Zeitgedichte. Deutsche politische Lyrik seit 1945. Piper-Bücherei, München 1963

Zeitschriften:
Streit-Zeit-Schrift. Thema Pornografie. Dokumente, Analysen, Fotos, Comics. Jg. 7, Heft 1, Heinrich Heine-Verlag, Frankfurt am Main 1969

13. October 2008

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