Archiv für November 2008

Aravind Adiga: The White Tiger

18. November 2008

adiga_tiger Bemerkenswerter Erstling eines jungen indischen Autors, auf den ersten Blick eine Kombination aus Schelmenroman und monologischem Briefroman. Beim Ich-Erzähler bzw. Verfasser der »Briefe«, die vorgeblich als E-Mails daherkommen, handelt es sich um Balram Halwai, Sohn eines Rikscha-Wallahs aus der indischen Provinz, der nun als erfolgreicher Unternehmer in Bangalore lebt. Seine E-Mails sind an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao gerichtet, dessen Staatsbesuch in Indien unmittelbar bevorsteht. Ziel der E-Mails sei, dem Premier das Wesen freien Unternehmertums zu erklären, über das dieser sich angeblich in Bangalore unterrichten will.

Balram, der unter falschen Namen lebt, weil er wegen Mordes gesucht wird, präsentiert sich als ein Muster eines neuen indischen Unternehmertums. Seine Karriere beginnt, als es ihn aus seinem Dorf nach Delhi verschlägt, wo er zufällig eine Stelle als Fahrer im Haushalt eines seiner ehemaligen Grundherrn erhält. Er wird schließlich Fahrer des westlich beeinflussten, liberalen Sohnes der Familie, den er eines Tages ermordet, um mit 700.000 Rupien, die als Bestechungsgeld für die Regierung vorgesehen waren, nach Bangalore zu fliehen. Balram eröffnet dort ein Taxiunternehmen, besticht die örtliche Polizei, um sich einige Konkurrenten vom Hals zu schaffen, und etabliert sich als zwar korrupter, doch zugleich »moralischer« Mittelständler.

Die überraschende, aber überzeugende Erzählstrategie des Buches, seinen inzwischen zynischen Protagonisten sein Leben und seine private »soziale Revolution«, d. h. den Mord an seinem Brotherrn, in der Ich-Form erzählen zu lassen, erzeugt eine reizvolle ironische Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Und dass das Buch von seinen humoristischen und pittoresken Anfängen ausgehend am Ende bei einem tief schwarzen und pessimistischen Bild des heutigen Indien ankommt und aus seinem armseligen, naiven Narren einen »modernen« Geschäftsmann mit der Moral eines Mafiapaten macht, der den Tod zahlreicher Familienmitglieder als Folge seiner »Karriere« billigend in Kauf nimmt, ist eine überzeugende und nur konsequente Schlusspointe. Ein Schriftsteller geringeren Rangs  wäre hier in die Harmlosigkeiten eines letztlich unverbindlichen Humors ausgewichen – sapienti sat.

Ein mutiger Erstling eines Autors, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Das Buch hat in diesem Jahr den renommierten und verlässlichen Booker Prize gewonnen. Eine deutsche Übersetzung von Ingo Herzke ist gerade bei C. H. Beck in München erschienen.

Aravind Adiga: The White Tiger. New York u. a.: Free Press, 2008. Pappband, Fadenheftung, Buchblock mit Büttenkante vorn, 276 Seiten.  Ca. 15,– €.

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Herr Eichhorn und der Mond

8. November 2008

meschenmoser_mondWie versprochen, hier der Hinweis auf die erste Geschichte vom Herrn Eichhorn und seinen Freuden. Herr Eichhorn hat das Problem, dass er eines Tages vor seiner Wohnung den Mond findet, der direkt vom Himmel gefallen zu sein scheint. Herr Eichhorn macht sich große Sorgen, dass er beschuldigt werden könnte, den Mond gestohlen zu haben und versucht deshalb, ihn möglichst rasch los zu werden. Man kann sich denken, dass das nicht so einfach ist, besonders weil auch der Igel und der Bock und schließlich auch noch eine Gruppe von Mäusen in die Affäre verwickelt werden – wonach sich der Mond, offen gesprochen, in keinem guten Zustand mehr befindet. Mehr soll hier nicht verraten werden; aber das Buch wird ebenso wie Herr Eichhorn und der erste Schnee dringend zur Lektüre empfohlen.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn und der Mond. Esslingen: Esslinger Verlag, 22007. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 44 Seiten. 9,95 €.

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Christian Kracht: Ich werde hier sein …

2. November 2008

kracht_sonnenschein … im Sonnenschein und im Schatten.

Mein erstes Buch von Christian Kracht, und vorerst wohl auch mein letztes. Es handelt sich um eine merkwürdige Mischung aus alternativer Historie, Joseph Conrads The Heart of Darkness und Ambrose Bierces An Occurence at Owl Creek Bridge, wobei allerdings dessen Schlusspointe fehlt oder so versteckt ist, dass sie mir nicht aufgefallen ist.

Erzählt wird eine alternative Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts durch einen Schwarzafrikaner aus der Schweizer Kolonie Nyasaland, das wir heute als Malawi kennen. Offenbar hat der Erste Weltkrieg kein Ende gefunden, sondern dauert seit inzwischen 96 Jahren an. Die Schweiz ist durch den in Zürich gebliebenen Lenin in eine Sowjetrepublik verwandelt worden und hat zudem ihre Neutralität verloren und ist aktiver Kriegsteilnehmer. Der Erzähler hat als politischer Komissar der Schweizer Sowjet Republik (SSR) den Auftrag, einen polnischen Offizier im Dienst der Schweizer Armee, Oberst Brazhinsky, zu verhaften. Brazhinsky entzieht sich jedoch der Verhaftung und flieht ins Réduit, wo er vom Erzähler nach einer abenteuerlichen Verfolgung schließlich gestellt wird. Allerdings erweist sich Brazhinsky als eine so faszinierende und schillernde Persönlichkeit (Wunderheiler, Sprachzauberer, Wahnsinniger), dass der Erzähler auf die Verhaftung verzichtet. Er flieht – nachdem sich Brazhinsky selbst geblendet hat – vor einem massiven Bombardement der Alpenfestung nach Süden, gelangt über das Tessin nach Genua und von dort aus zurück nach Afrika, wo inzwischen eine andere Form der Revolution ausgebrochen ist: Die Schwarzafrikaner verlassen die von den Schweizern errichteten Städte und kehren in ihre Dörfer zurück, während Europa wahrscheinlich im Chaos des Krieges untergeht.

Niedlich an der ganzen Geschichte ist allein das Gedankenspiel, was vielleicht geschehen wäre, wenn Lenin sich 1917 nicht nach Petersburg hätte verfrachten lassen, sondern stattdessen die Schweiz kommunistisch revolutioniert hätte. Alles andere ist entweder ziemlicher Humbug oder so offensichtlich anderswo entliehen, dass man, wie der Dichter sagt, die Absicht fühlt und verstimmt ist.

Grundsätzlich reagiere ich allergisch auf Bücher, in denen Mumpitz wie der folgende zu finden ist:

„Wir, die wir früher im Frieden viel gelesen haben, Bücher geschrieben, Bücher gedruckt, Bibliotheken besucht haben, bilden uns evolutionär von der Schrift weg, sie wird immer unwichtiger. Es entsteht eine Privatsprache, wenn Sie so wollen.“
„Unsere Mundarten sind schon immer ausschliesslich orale Sprache gewesen, es gab die Niederschrift nur in Hochdeutsch. Die Mundarten sind unser Koiné, der Grund, warum wir nicht Deutsch sprechen.“
„Exakt. Und so entfernen wir uns dank des Krieges nicht nur vom Hochdeutsch, sondern auch vom Schriftdeutsch. Sprache ist eine Ansammlung symbolischer Geräusche, sie entstammt einem Kosmos unerkennbarer und vor allem nie wissbarer Formen.“
„So.“
„Unser Verlernen des Schreibens ist, wenn Sie so wollen, ein Prozess des absichtlichen Vergessens. Niemand ist mehr im Frieden geboren. Die Generation, die nach uns kommt, ist der erste Baustein zum neuen Menschen. Es lebe der Krieg.“
[…]
„Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen. Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon. Viele Urvölker haben diese Fähigkeiten entwickelt; die lange ausgerotteten Ureinwohner des Grossaustralischen Reichs beispielsweise besprachen und besangen die Welt, die sie mit ihren Schritten durchmassen.” [S. 43 f.]

Dies ist eine Erklärung für die »Rauchsprache« des Buches, über die Bashinsky verfügt und die es ihm erlaubt, anderen unmittelbar durch das Sprechen seinen Willen aufzuzwingen. In dieser Passage werden nahezu alle Fachbegriffe falsch verwendet: evolutionär, Privatsprache, Noumenon – einzig Koiné kann man mit einigem guten Willen durchgehen lassen.

Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

Lässt es sich aber nicht. Nun zweifle ich nicht daran, dass das alles postmoderne Absicht ist und so gehört und nur ich ein alter Esel bin. Dennoch reiht sich für mich das Buch nahtlos in die Reihe von Unfug ein, der mir in den letzten Jahren so über den Weg gelaufen ist.

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. Leinen, Lesebändchen, 149 Seiten. 16,95 €.

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Richard Dawkins: Der Gotteswahn

1. November 2008

dawkins_gotteswahnWieder einmal mehr ein Beleg dafür, dass es einem Autor gar nichts nützt, Recht zu haben. Dawkins, seit vielen Jahren einer der lautstarken Vertreter der Evolution als naturwissenschaftlicher Übertheorie – im Grunde lässt sich alles durch die Evolution erklären und sollte sich tatsächlich etwas nicht durch die Evolution erklären lassen, so lässt sich wenigstens diese Unmöglichkeit aus der Evolution erklären –, hat hier zu einer breiten Polemik gegen »die Religion« angesetzt, behandelt aber hauptsächlich die Auswüchse des Christentums und des Islams. Das ist besonders im zweiten Teil ganz witzig, wenn Dawkins seitenweise christlich-fundamentalistischen Unfug zitiert. Natürlich ist das alles pro domo geschrieben, wenn auch immer wieder behauptet wird, es gehe um »die Wahrheit«. Es geht im Gegenteil um Forschungsgelder und Projektmittel, die durch kreationistischen Blödsinn gefährdet sind, wenn christliche Fundamentalisten sich mit Politikern in wichtigen Schaltstellen verbünden.

Die Schwäche von Dawkins’ Standpunkt zeigt sich an einer Frage, die er selbst so formuliert:

Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute [der Religionsvertreter] um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt? [S. 36]

Ja, warum tut die Gesellschaft das? Diese Frage bleibt im Buch letztlich unbeantwortet, was Dawkins aber nicht groß zu stören scheint. Unverkennbar haben Religionen eine unverzichtbare Funktion in ihren Gesellschaften, da sie die Angriffe der Aufklärung in den letzten 300 Jahre ansonsten kaum so gut überstanden hätten, wie sie es getan haben. Sicherlich haben sie in der weitgehend säkularen Realität der westlichen Welt nicht mehr die Macht und den Einfluss, der sie einst ausgezeichnet hat, aber sie sind offenbar immer noch recht aktive Teilnehmer an den Diskursen um Moral, Menschen- und Weltbild. Zum Verständnis dieses Phänomens ist es wenig hilfreich, den entsprechenden Standpunkt gebetsmühlenartig immer erneut als »irrational« zu bezeichnen. Damit rennt man nur offene Türen ein: Selbstverständlich ist der Glaube an Gott als Schöpfer der Welt und an seine Vertreter auf Erden als moralische Instanzen irrational, aber was schadet das? Angesichts der Tatsache, dass es der Rationalität weder gelungen ist, eine rationale Letztbegründung der Moral zu leisten, noch sie in der Lage ist, dem Laien die Frage nach der Herkunft des Universums verständlich zu beantworten, ist es nur wenig verwunderlich, dass irrationale Konzepte der Religionen weiterhin weltweit erfolgreich sind.

Selbstverständlich ist Dawkins darin zuzustimmen, dass es am Ende nur den Wissenschaften gelingen wird, ein Weltbild zu erzeugen, das wenigstens in irgendeiner Weise eine Annäherung an die Wirklichkeit darstellt. Aber wozu soll das gut sein, wenn dieses Weltbild mehr als 99 Prozent aller Menschen – und darunter eben auch politische Entscheidungsträger – von einem Verständnis eben dieses Weltbildes ausschließt? Für den »normalen Menschen« heißt es schon heute, sich zu entscheiden zwischen zwei Glaubensrichtungen: Der der Religionen oder der der Naturwissenschaft – die eine ist ihm so rational oder irrational wie die andere. Und die Naturwissenschaften werden noch unverständlicher werden, sich immer noch weiter von einem alltäglichen Verstehen der Welt entfernen. Was geht uns der Urknall an? Was soll daran vorteilhaft sein, dass die Urknall-Theorie angeblich besser mit irgendwelchen »Tatsachen« und »Belegen« übereinstimmt als die Schöpfungsgeschichte? Sicherlich: Für diejenigen, die der Bruder- oder meinetwegen Schwesternschaft der Wissenschaft einmal beigetreten sind, liegt alles glasklar auf der Hand. Aber was ist mit denen, die außen vor stehen und immer außen vor stehen werden? Für sie ist es wenig hilfreich, wenn sie von Herrn Dawkins über vielen Seiten hinweg als Idioten beschimpft werden.

Insgesamt scheitert das Buch an seinem Thema, da es Dawkins nicht gelingt, ein ausreichendes Verständnis für die Funktion der Religion in der Gesellschaft zu entwickeln. Seine Polemik bleibt selbstverliebt und oberflächlich. Dawkins entwickelt keinen Sinn dafür, dass die Wissenschaften den meisten Menschen kryptischer und irrationaler erscheinen als die Religionen und dass eine andere große Gruppe heute an die Wissenschaft genau so glaubt, wie sie früher an eine Religion geglaubt hätte. Dawkins entwickelt keinen Sinn für die Grenzen und Mängel des wissenschaftlichen Weltbildes und für dessen nur mangelhafte Leistungen, wenn es darum geht, dem Leben des Einzelnen einen Sinn zu vermitteln. Natürlich gelingt das auch einer Religion nicht »wirklich«, aber es scheint vielen Menschen doch besser zu sein als nichts.

Dass aber auch das Denken so gar nichts helfen will!

Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Berlin: Ullstein, 2007. Pappband, 575 Seiten. 22,90 €.

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