Archiv für Juli 2010

Allen Lesern ins Stammbuch (35)

31. Juli 2010

Dann wird mit einem Mal der Staub auf den Büchern sichtbar. Sie sind alt, stockfleckig, riechen moderig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruß, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich. Bücher machen kurzsichtig und lahmärschig, ersetzen, was nicht ersetzbar ist. So entsteht aus Stickluft, Halbdunkel, Staub und Kurzsichtigkeit, aus der Unterwerfung unter die Surrogatfunktion, die Bücherwelt als Unnatur. Und gegen Unnatur sind allemal Jugendbewegungen gerichtet. Bis dann die Natur wieder in deren Büchern steht.

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt

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Émile Zola: Die Sünde des Abbé Mouret

30. Juli 2010

zola_rougonDer fünfte Roman der Rougon-Macquart schließt nahezu unmittelbar an den vierten, »Die Eroberung von Plassans«, an. Im Mittelpunkt steht Serge, der Sohn von François und Marthe Mouret, der im vorangegangenen Buch bereits das Priesterseminar besucht hatte und nun in dem winzigen Ort Les Artaud Priester ist. Bei ihm lebt auch seine Schwester Désirée, die zwar geistig etwas zurückgeblieben zu sein scheint, nichtsdestotrotz aber der wohl glücklichste Mensch im ganzen Roman ist. Serge Mouret scheint zuerst nur ein etwas schüchterner, den Ansprüchen seiner bäuerlich-robusten Gemeinde nicht ganz gewachsener Geistlicher zu sein, doch erweist er sich rasch als Opfer eines tiefen religiösen Wahns, der sich in einem privaten Kult der Marienverehrung manifestiert.

Überfordert von seinen seelsorgerischen Pflichten und überspannt durch seinen Wahn bricht er eines Nachts zusammen und wird von seinem Onkel, dem Doktor Pascal aus Plassans, zur Pflege in ein nahe gelegenes Refugium gebracht: das Paradou, einen ehemaligen herrschaftlichen Garten, der inzwischen verwildert ist. Dort lebt Albine, ein kaum 16-jähriges Mädchen, mit ihrem Onkel Jeanbernat, einem eingefleischten Atheisten, der das Mädchen ebenso hat verwildern lassen wie den Garten. Serge ist durch seinen Zusammenbruch seines Gedächtnisses beraubt worden und so in einen Zustand der Unschuld zurückversetzt worden. Der Prozess seiner Genesung ist eng verknüpft mit der Erforschung des riesigen Gartens und dem Wachsen der Liebe zwischen Albine und ihm. Dieser Prozess gipfelt darin, dass Albine eine geheimnisvolle Lichtung im Park entdeckt, in deren Zentrum ein uralter Baum steht. Dort lieben sich Albine und Serge zum ersten Mal, und Serge, auf diese Weise wieder vollständig gesundet, findet sein Gedächtnis wieder und muss in die Welt zurück.

Der dritte Teil des Romans resümiert den angerichteten Schaden: Serge hat sowohl seinen religiösen Glauben des ersten, als auch den unreflektierten Zugang zur Natur des zweiten Teiles verloren. Zwar erfüllt er auch weiterhin die Pflichten als Pfarrer, doch hat er seinen Marienkult zugunsten eines Kreuzkultes aufgegeben. Doch die scheinbar wiedererlangte Normalität seines Lebens wird durchbrochen, als Albine ihn in der Kirche aufsucht. Diese Begegnung löst in Serge eine massive Vision aus, in der das Kirchengebäude von der Natur angegriffen und vollständig zerstört wird. Serge ist daraufhin bereit, zu Albine ins Paradou zurückzukehren, doch erweist sich natürlich die einmal verlorene Unschuld als unwiederbringlich. Albine bereitet sich ein Sterbelager aus Blumen und vergeht zwischen ihnen. Serge nimmt zu seine Pflichten als Pfarrer wieder auf und mit der Beisetzung Albines endet der Roman.

Vielleicht macht diese Inhaltsangabe schon deutlich, dass es sich bei »Die Sünde des Abbé Mouret« um einen ungewöhnlichen Roman Zolas handelt. Neben seiner grundlegenden naturalistischen Tendenz weist er zusätzlich klar symbolistische Strukturen auf. Besonders im zweiten, mittleren Teil des Romans geraten der zur Natur verwilderte Garten und die zur Unschuld zurückgekehrten Kinder zu einer Allegorie des Paradieses. Die reine Liebe zwischen Albine und Serge verkommt aber im Laufe von Serges Gesundung, bis sich die Natur ihr Recht verschafft. In Zolas Paradies gibt es keinen personifizierten Verführer, sondern die Natur selbst ist es, die die Unschuldigen zur Sünde verführt. Wie wichtig Zola diese Allegorie war, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er aus dem in der Dorfschule unterrichtenden Klosterbruder zugleich einen Erzengel – Bruder Archangias – macht, der denn auch pünktlich am Ausgang des Paradou steht, um in Serge Adam zum zweiten Mal aus dem Paradies hinauszuweisen. Auch Désirée ist in diese allegorische Ebene des Romans eingebunden: Sie betreibt bei der Pfarre selbstständig einen kleinen Wirtschaftshof und steht mit ihrem pragmatischen Umgang mit der nützlichen Natur in der Mitte zwischen  Serges Naturphobie und Albines romantisierender Unschuld. In Désirées Welt sind Geburt und Tod notwendige Elemente im Prozess alles Lebendigen.

Es wäre aber verfehlt, »Die Sünde des Abbé Mouret« aufgrund dieser symbolistischen Tendenzen für einen nicht-naturalistischen Ausrutscher Zolas zu halten. Gerade im zentralen allegorischen Teil des Buches frönt Zola ausgiebig einem überschwänglichen Realismus: Weite Passagen der Beschreibung des Paradou lesen sich wie ein umgestülptes botanisches Bestimmungsbuch; ebenso herrscht bei der Darstellung des Gottesdienstes und der dafür nötigen Zurüstungen und Gerätschaften eine minutiöse Detailversessenheit, die nahtlos an »Die Beute« und »Der Bauch von Paris« anschließt. Und auch bei der Schilderung des Dorfes Les Artaud und seiner Bewohner lässt Zola seinen präzisen Blick nicht vermissen: Ehen sind auch hier in erster Linie eine Frage des Geldes und erst in zweiter oder dritter eine der Moral, heidnische Rituale und christlicher Glaube existieren fröhlich Seite an Seite, und in der Kirche bewundern die Bauern mehr die Eloquenz des Priesters oder die frisch gestrichenen Möbel als die gepredigten Glaubensinhalte. Und nicht zuletzt dürfte die handfeste Schlägerei zwischen Bruder Archangias und dem Atheisten Jeanbernat ein Bild von der Lage der katholischen Kirche in Frankreich zeichnen, das weder dem Bürgertum noch der Geistlichkeit gefallen haben dürfte.

»Die Sünde des Abbé Mouret« erweist sich als eine überraschende Mischung zeitgenössischer Stile und liefert trotz aller Allegorie mit der innerlich und äußerlich kleinen Welt, die er präsentiert, einen weiteren wesentlichen Mosaikstein zum umfassenden soziologischen Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

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Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit

25. Juli 2010

978-3-446-23418-5Breit angelegter Essay über den Rückgang bürgerlicher Freiheit seit dem 11. September 2001. Der Darstellung ist in allen wesentlichen Punkten nur zuzustimmen. Wie so oft haben es die konservativen Kräfte in den westlichen Gesellschaften verstanden, eine äußere – um nicht zu schreiben »äußerliche« – Bedrohung dazu zu benutzen, den Zugriff der abstrakten und konkreten Gewalt des Staates auf seine Subjekte auszubauen. Einerseits muss man den Autoren für den gut lesbaren Überblick über die Veränderungen des letzten knappen Jahrzehnts dankbar sein, andererseits zeigen die Veröffentlichung und der Erfolg des Buches, dass es noch viel schlimmer ist, als sie annehmen. Die Durchdringung unserer Gesellschaft durch die Kontrollorgane ist soweit gediehen, dass auch eine offene Kritik an diesem Zustand ihn nicht mehr gefährden kann. Einmal mehr ist eine Gesellschaftsordnung an einem Punkt angelangt, an dem sich politische Freiheit und Unfreiheit auch mit bewaffnetem Auge kaum mehr voneinander unterscheiden lassen.

Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte. München: Hanser, 22009. Broschiert, 173 Seiten. 14,90 €.

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Alan Weisman: Die Welt ohne uns

23. Juli 2010

978-3-492-25305-6Etwas zu breit geratenes, dennoch interessantes Gedankenspiel über die Zukunft der Erde unter der Voraussetzung, dass alle Menschen auf einen Schlag verschwinden. Weisman spielt das Thema an immer neuen Beispielen durch: Häuser, Städte, die New Yorker U-Bahn, Industriekomplexe, Pipelines, Kernkraftwerke, Atomwaffen und nicht zuletzt dem Panamakanal. Auch die Auswirkungen von Überfischung, Müllentsorgung und Klimaveränderung auf die Weltmeere werden thematisiert. Zugleich mit der Vergänglichkeit menschlicher Bauwerke stellt Weisman die Fähigkeit der Natur dar, besiedelte Gebiete zurückzuerobern und die Spuren der Zivilisation mehr oder weniger rasch zu beseitigen.

Wenn auch der ein oder andere Fall ein wenig zu theatralisch dargestellt wird und sich der Autor hie rund da einer überzogenen Sprache bedient, handelt es sich um ein informatives und – trotz der offenbar flüchtigen Übersetzung – insgesamt gut lesbares Sachbuch, das insbesondere die dramatische Zuspitzung des menschlichen Eingriffs in die Natur in den letzten Jahrzehnten gut dargestellt. Dass der Autor dabei letztlich sentimental bleibt und sich vor der letzten Konsequenz seiner eigenen Darstellung scheut, ist kaum anders zu erwarten.

Alan Weisman: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde. Piper Taschenbuch 5305. München: Piper, 52010. 383 Seiten. 9,95 €.

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Allen Lesern ins Stammbuch (34)

21. Juli 2010

Allgemein habe er dann noch kritisiert, wie das – seiner Ansicht nach wichtigste – Problem überhaupt nicht berührt worden sei: »’s Honno=rar natürlich! Das’ss ooch so was, was die Verleger nie lern’n: wenn se 3 Tausnd Mark für ’ne Übersetzunk blechn, kriegn se ’ne 3=Tausnd=Mark= Übersetzunk; wenn se 6 Tausnd schmeißn, eene für 6 Tausnd: dann kann ich neemlich de doppelte Zeit dran wendn!«. Auf das vorsichtige Bedenken seines – verständlicherweise ungenannt bleiben wollenden – Bekannten: daß die meisten ‹Künstler› unter sotanen Umständen dann eben wohl doch nur die für 3 herstellen, und für die übrigen 3 schlicht faulenzen würden: ob die Gefahr nicht nahe läge?, habe er kaltblütig erwidert: die läge freilich verdammt nahe.

Arno Schmidt: Piporakemes!

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Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung

18. Juli 2010

978-3-492-25220-1Eine bildungspolitische Polemik gegen die Strukturreformen der Universitäten, der in sehr weiten Teilen zugestimmt werden kann. Liessmann zeigt die Schwächen der Hochschulreformen der letzten Jahre gründlich auf, kritisiert mit guten Gründen den Quantifizierungswahn bei der Beurteilung von Forschung und Lehre, der sich in völlig nichtssagenden Ranglisten manifestiert, die dann der Vergabe von Geldern zugrunde gelegt werden. Das Buch nimmt je länger, desto mehr an Fahrt auf und ist besonders im letzten Teil höchst vergnüglich zu lesen. Dass Liessmann selbst Universitätsprofessor ist und daher in weiten Teilen pro domo argumentiert, braucht einen nicht zu stören.

Mangelhaft bleibt das Buch im Wesentlichen aufgrund folgender Umstände:

1. Jedem Akademiker – gleich ob ehemalig oder aktiv – ist klar, dass sich eine ähnlich schmissige Kritik auch gegen jegliche andere Verfasstheit von Universitäten führen lässt. Wenn Liessmann etwa die heutigen Universitäten dadurch vorführt, dass er sie an den Blaupause des Humboldtschen Universitätsideals misst, so ist dagegen natürlich nur zu sagen, dass es niemals und zu keiner Zeit tatsächlich eine Universität gegeben hat, die diesem Ideal genügt hätte. Auch hat nie und nirgends je eine Studentenschaft existiert, die der Humboldtschen Vorstellung auch nur annähernd nahe gekommen wäre. In diesem Sinn bleibt Liessmanns Polemik beliebig.

2. Es ist immer billig, eine Polemik gegen bestehende Missstände zu schreiben, da die Polemik sich der wesentlichen Aufgabe konstruktiver Kritik entzieht. Die Polemik versucht nicht zu begreifen, warum sich die Dinge in einem Prozess befinden, sondern sie tut so, als sei das Überwundene erhaltenswert gewesen und als müssten wir nur dorthin zurück, damit alles in Ordnung ist. Liessmann weiß es als Universitätsprofessor, noch dazu einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, besser, sagt das aber nicht. Natürlich versuchen die Reformen, etwas zu leisten, was das alte System nicht leisten konnte. Und wie immer ist dieser Versuch als Teil des historischen Prozesses fehlbar. Aber auf exakt die gleiche Weise ist der durch die Reform überwundene Zustand entstanden und exakt deshalb wird er zurückgelassen. Es mag sogar so sein, dass der jetzige Zustand dem davor in wesentlichen Punkten unterlegen ist, er ist ihm aber in anderen auch überlegen, sonst würde er nicht existieren. Kritik – im Gegensatz zur Polemik – macht es sich zur Aufgabe, zuerst einmal zu begreifen, warum das Faktische entstanden ist, und macht dann Vorschläge, wie es sich verbessern lässt. Liessmann teilt nur aus, ohne eine andere Alternative anzubieten, als eine idealistische Berufung auf eine sehr vage Vorstellung von Aufklärung, die er noch dazu durch einen Nietzscheanischen Fleischwolf dreht. Das ist zwar witzig, bleibt aber substanzlos.

Wer etwa feststellt,

Fraglos könnte man für dieses zentrale Bestimmungsstück der Humboldtschen Universität, die Einheit von Lehre und Forschung, zeitgemäße Realisationsformen finden, die dem komplexen Organisationsgrad moderner Wissenschaften und den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen angemessen wären.

es dann aber bei diesem Satz belässt und auch nicht eine Silbe darüber zu sagen weiß, wie denn eine solch »zeitgemäße Realisationsform« aussehen könnte, bleibt bei aller intellektuellen Finesse letztlich am Stammtisch sitzen.

Unter den genannten Einschränkungen eine flotte und vergnügliche Lektüre für all jene Unglücklichen, die sich mit der akademischen Welt herumzuschlagen haben.

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Piper Taschenbuch 5220. München: Piper, 42010. 175 Seiten. 8,95 €.

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Benjamin Stein: Die Leinwand

12. Juli 2010

978-3-406-59841-8-1Einer der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre. Es beginnt damit, dass es sich bei diesem Buch um einen sogenannten Zwillingsband oder ein Dos-à-dos handelt, also ein Buch, das zwei Texte enthält, die Rücken an Rücken einen Einband teilen. Das Buch hat daher zwei vordere Buchdeckel, zwei Titelblätter etc.; aus Sicht des einen Textes steht der jeweils andere auf dem Kopf. Durch diese ungewöhnliche Präsentation der beiden Texte, die sich zu einem Roman fügen, erscheinen beide tatsächlich gleichberechtigt, und der Autor überlässt es dem Leser ausdrücklich, wo er mit dem Lesen anfängt, ja auch, ob er zuerst den einen Text zur Gänze und dann den anderen oder ob er seiner Lektüre sonst eine (Un-)Ordnung zugrunde legen will.1 Natürlich hält man dergleichen auf den ersten Blick für einen Manierismus des Autors (was es in vielen ähnlich gelagerten Fällen auch ist), doch leuchtet es nach der Lektüre ein, dass kaum eine andere Form dem Roman angemessen wäre.

978-3-406-59841-8-2Die bedeutendste Schwierigkeit für eine Rezension scheint mir zu sein, die Fabel auch nur andeutungsweise nachzuerzählen, ohne dem Leser einen Teil des Spaßes an der Lektüre zu nehmen. Vielleicht nur soviel: Der Roman erzählt das Leben zweier Juden nach, die sehr unterschiedliche Biographien haben, deren Leben aber durch die Bekanntschaft mit einer dritten Person unlösbar miteinander verschränkt werden. Amnon Zichroni stammt aus Israel, zieht aber als Jugendlicher zu einem Nenn-Onkel nach Zürich, der für seine Ausbildung sorgt. Zichroni hat die ungewöhnliche Gabe, Erinnerungen anderer Menschen durchleben zu können. In der Absicht, diese Fähigkeit zum Wohle anderer einzusetzen, wird er Psychoanalytiker. Jan Wechsler dagegen ist zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin aufgewachsen und ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller geworden. Wie schon gesagt, ist beider Leben durch ihre Bekanntschaft mit einer dritten Person verbunden, über die man am besten vorweg so wenig wie möglich erzählt.

Das zentrale Thema des Romans ist die Frage nach der Identität: Wie konstituiert sich ein Mensch, wenn seine Erinnerungen nicht ihm zu gehören scheinen bzw. den sogenannten Tatsachen seines Lebens widersprechen. Wann und wie hört jemand auf, er selbst zu sein? Ist er in der Lage, seine Erinnerungen angesichts dieser Tatsachen aufrecht zu erhalten oder wird er sie aufgeben und akzeptieren, dass er nicht ist, wen er zu erinnern glaubt? Diese Fragen scheinen sehr abstrakt zu sein, und es ist kein kleines Kunststück, einen Roman zu erfinden, in dem sie sich in eine wirklichkeitsnahe und überzeugende Fabel einfügen.

Es beweist die Stärke von Steins Roman, dass er die Antworten, nach denen seine Erzählung verlangt, nicht auszubuchstabieren braucht, sondern dass er es sich leisten kann, vieles – wenigstens dem Anschein nach – offen zu lassen. Das Buch mündet in ein sorgfältig konstruiertes Rätsel, dessen Lösung zu entdecken der Autor ganz bewusst seinen Lesern überlässt. Was der Autor ausdrücklich nicht erzählt, gehört mit zum Interessantesten an diesem Buch.

Eine der überraschendsten und intelligentesten Lektüren seit langem – jedem ambitionierten Leser unbedingt empfohlen!

Benjamin Stein: Die Leinwand. München: C.H. Beck, 2010. Pappband, 416 Seiten. 19,95 €.

1: Es sei hier nur ganz am Rand und sehr leise und entgegen der Intention des Autors empfohlen, zuerst der Geschichte Amnon Zichronis zu folgen und dann erst die Jan Wechslers zu lesen.

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Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren

2. Juli 2010

978-3-423-20655-6Jaan Kross ist von all den unbekannten estnischen Autoren wahrscheinlich der bekannteste, da etwa ein halbes Dutzend seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden, angefangen bei seinem großen ersten »Das Leben des Balthasar Rüssow«, der bereits 1984, also nur vier Jahre nach Erscheinen des vierten Bandes in Estland, in der DDR erschien. Ich hatte mir danach immer wieder vorgenommen, mehr von Kross zu lesen, bin aber erst in den letzten Wochen dazu gekommen.

Auch bei »Der Verrückte des Zaren« (1978) handelt es sich um einen historischen Roman. Kross erzählt die Geschichte des baltendeutschen Adeligen Timotheus Eberhard von Bock, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts unter Zar Alexander I. in der russischen Armee Karriere macht und sich 1816 auf ein Gut in Estland zurückzieht. Er war zuletzt als Oberst Flügeladjutant des Zaren, mit dem ihn eine freundschaftliche Beziehung verbunden zu haben scheint.

Für Kross wird von Bock erst nach diesem Rückzug aus Russland interessant, da er kurz darauf gleich zwei in den Augen der meisten seiner Zeitgenossen unverzeihliche Fehler begeht: Zum einen heiratet er ein estnisches Mädchen (eine doppelte Mesalliance: eine kaum bürgerliche und estnische Braut), zum anderen wendet er sich 1818 mit einer Denkschrift an den Zaren, die eine Beschränkung des Absolutismus und die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland fordert. Von Bock wird daraufhin festgenommen und unter der Voraussetzung, er sei verrückt, in Festungshaft genommen. Erst 1827 wird er in den Hausarrest auf seinen estnischen Gütern entlassen. Dort lebt er, bis er sich im Jahr 1836 wahrscheinlich das Leben nimmt.

Der Roman erzählt dieses Schicksal weitgehend getreu nach. Als Erzähler erfindet Kross einen Schwager von Bocks hinzu, also einen fiktiven Bruder von Kross Frau Eeva. Dieser Erzähler Jakob führt ein fiktives Tagebuch, in dem er einerseits fortlaufend, wenn auch mit immer größeren Lücken, die Ereignisse nach von Bocks Entlassung aus der Haft darstellt, andererseits durch Rückblenden die Vorgeschichte der Ehe und der Denkschrift einholt. Alle diese Aufzeichnungen, die angeblich in ein einziges Heft passen (der Roman umfasst knapp 400 Seiten), muss der Erzähler natürlich geheim halten; am Ende übergibt er sie Timotheus’ Sohn, dem er es überlässt, sie zu bewahren oder zu vernichten.

Mit der Wahl dieses estnischen Erzählers gewinnt Kross einen erheblichen Abstand zur Figur und den Handlungen von Bocks. So wundert sich Jakob zusammen mit dem Leser eine erhebliche Zeit lang, ob von Bock tatsächlich verrückt ist, es vielleicht schon immer war oder auch erst in der Haftzeit geworden ist. Auch teilt Jakob durchaus nicht den Idealismus seines Schwagers, sondern findet die Reaktion des Zaren auf die Denkschrift eher gnädig. Sogar zu seiner Schwester hat Jakob zu Anfang ein eher distanziertes Verhältnis. Diese doppelte Perspektive von Figuren und Erzähler, erlaubt es dem Autor, ein sehr differenziertes Bild der Verhältnisse zu zeichnen, wenn auch schließlich seine Sympathien für von Bock durchschlagen, wenn er den Lesern suggeriert, dessen Tod sei weder Selbstmord noch ein Unfall gewesen, sondern eine Hinrichtung durch einen zaristischen Agenten.

Nicht zuletzt wird der Roman dadurch interessant, dass Kross hier sicherlich eigene Erlebnisse verarbeitet: Sowohl seine Zeit in Sibirien als auch seine Erwägungen, ob er in Estland bleiben solle oder in den Westen gehen, sind anscheinend in den Text eingegangen. Ein ungewöhnlicher Roman, dem man ein paar Seiten mehr geben sollte, damit er seine Wirkung entfalten kann.

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. Aus dem Estnischen von Helga Viira. dtv 20655. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 32004. 415 Seiten. 11,90 €.

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