Archiv für Oktober 2010

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang

23. Oktober 2010

978-3-518-28197-0 Ich habe schon lange das Bedürfnis gehabt, es wieder einmal mit einer wenigstens einigermaßen ernstzunehmenden philosophischen Lektüre zu versuchen. Der Sermon der Romane ist doch auf einer langen Strecke ermüdend. Und naturgemäß kehrt man erst einmal zum alten Tatort zurück: Über Feyerabends Buch wurde während meines Studium von Professoren-Seite erheblich die Nase gerümpft (aus den unterschiedlichsten Gründen), während ich es damals mit erstaunlichem Gewinn gelesen habe. Ich selbst habe in der Philosophie als erkenntnistheoretischer Kantianer angefangen (und wahrscheinlich auch als solcher aufgehört), und hatte als potentieller Idealist eine entsprechend verklärte Vorstellung vom Gang wissenschaftlicher Forschung.

Feyerabends Analyse lässt demjenigen, der sich auf sie einlässt, kaum eine Chance, irgendeine ideale Vorstellung von den Wissenschaften und besonders ihrer Hohenpriester übrig zu behalten. Seine Darstellung der Galileisch-Kopernikanischen Revolution und ihrer grundlegenden sachlichen und argumentativen Schwächen ist ein Musterstück historischer Wissenschaftskritik. Die aus ihr entwickelte Kritik der Wissenschaften des 20. Jahrhundert ist durchschlagend und ernüchternd – und gibt die tatsächlichen Verhältnisse wohl grundsätzlich korrekt wieder. Ich muss also zugestehen, heute nicht weniger als damals von dem Buch beeindruckt zu sein. Dies war tatsächlich einer der wirklich freien Köpfe des 20. Jahrhunderts.

Ungebildete und stümperhafte Bücher überschwemmen den Markt, leeres Gerede, das von unverständlichen Ausdrücken strotzt, behauptet tiefe Erkenntnisse zu vermitteln, »Fachleute« ohne Geist und Charakter, ja ohne ein Mindestmaß intellektuellen, stilistischen und emotionalen Temperaments belehren uns über unsere »Situation« und die Möglichkeiten ihrer Verbesserung, und sie predigen nicht nur uns, die wir sie vielleicht durchschauen könnten, sondern sie werden auch noch auf unsere Kinder losgelassen und dürfen sie in ihre eigene geistige Verkommenheit hinabziehen. »Lehrer« kneten mit Hilfe von Zensuren und der Angst vor dem Versagen den Geist der Jugend, bis sie jeden Rest von Einbildungskraft verloren hat, den sie einmal besaß. Das ist eine katastrophale Situation, und sie ist nicht leicht zu beheben. [S. 290 f.]

Dass die hinteren Kapitel (ab 16) nicht weniger eloquent sind, aber im Detail weniger zu überzeugen vermögen, sollte man Buch und Autor verzeihen. Man hätte sich stattdessen eine detailliertere Kritik des Begriffs »Vernunft« gewünscht, doch man kann von einem Buch nicht alles erwarten.

Es ist zu befürchten, dass Feyerabends Kritik der Wissenschaft wirkungslos bleiben wird, da sie längst – wie alles Widerständige – vom Betrieb vereinnahmt und verharmlost worden ist. Wie es aussieht, wird er erst an einem Ende Recht behalten, an dem seine Gedanken niemandem mehr nützen werden.

Eine Pflichtlektüre für alle, die sich noch ernsthaft Gedanken machen.

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 597. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 112009. 423 Seiten. 15,– €.

P.S.: Existiert eigentlich eine Ausgabe ohne den Satzfehler auf S. 282, auf der mindestens eine Zeile Text fehlt, dafür eine andere doppelt vorkommt. Sowohl meine alte Ausgabe von 1983 (aus dem »Weißen Programm«) als auch die aktuelle Taschenbuchausgabe weisen diesen Fehler auf.

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Ian Kershaw: Wendepunkte

20. Oktober 2010

978-3-570-55120-2 Man kommt kaum umhin, diese Studie zu den Kriegsjahren 1940 und 1941 als brillant zu bezeichnen. Kershaw, der durch seine umfangreiche Hitler-Biografie bekannt geworden ist, zeichnet ein umfassendes Bild dieser Jahre, indem er in zehn Kapiteln jeweils eine zentrale Entscheidung einer der Kriegsparteien in den Mittelpunkt stellt und zu jeder dieser Entscheidungen die personellen, strukturellen, historischen, ideologischen, politischen und individuellen Bedingungen darstellt, die zu ihr geführt haben. Besonders beeindruckt hat mich die Darstellung der Lage Japans, für die zum einen der Prozess dokumentiert wird, in dem sich Japan für den Weg in den Krieg entscheidet, zum anderen jener, der zum Angriff auf Pearl Harbor führte.

Will man unbedingt Schwächen des Buches finden, so bieten sich meiner Meinung nach höchstens zwei Punkte an: Einerseits wird die Lage in Nordafrika immer nur am Rande behandelt, zum anderen neigt Kershaw ein wenig dazu, Person und Entscheidungen Roosevelts im günstigsten Licht zu zeigen. Eine gewisse Redundanz der Darstellung, die es erlaubt, die einzelnen Kapitel auch unabhängig von den anderen zu lesen, kann dem Buch nicht als Mangel angelastet werden.

Eine der besten Gesamtdarstellungen der Weltlage in den frühen Kriegjahren, die ich kenne.

Ian Kershaw: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: Pantheon, 2010. Broschiert, 735 Seiten. 18,99 €.

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Spieglein, Spieglein …

11. Oktober 2010

Im Prisma der Rubrik Wissenschaft/Technik des SPIEGEL 41/2010 (S. 164) findet sich die folgende Kurzrezension:

PHILOSOPHIE

Weise Reise

Sind weise Menschen glücklicher als andere? Was ist eigentlich Weisheit? Und wie wird man selbst weise? In ihrem Buch „Oma Hilde, Sokrates und der Dalai Lama“ begibt sich die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe auf die Spuren weiser Menschen, um grundsätzliche Fragen des Lebens zu ergründen. Der Autorin gelingt es, dem altmodisch anmutenden Begriff Weisheit mit frischem Leben zu füllen. Weise wird man durch die Lektüre sicher nicht. Spaß macht sie trotzdem.

Als hätte er diese Meldung vorausgeahnt, hat Georg Christoph Lichtenberg vor über 200 Jahren folgendes über den Spiegel und seine Beziehung zur Weisheit geschrieben:

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen. Wir haben keine Worte mit dem Dummen von Weisheit zu sprechen. Der ist schon weise der den Weisen versteht.

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Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod

11. Oktober 2010

978-3-492-25723-7 Als das Buch 1984 erschien, habe ich es nicht wahrgenommen. Erst durch die Lektüre des Dritten Tagebuchs von Max Frisch, in dem Peter Nolls Sterben eine bedeutende Rolle spielt,  bin ich darauf aufmerksam geworden. Ich habe es nun als ein Seitenstück zu Max Frischs Werken zur Kenntnis genommen und auch nur deshalb wenigstens einigermaßen zu Ende gelesen; will sagen, das angehängte Theaterstück »Jericho« von Noll habe ich nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Peter Noll war ein bekannter Schweizer Jurist, der im Dezember 1981 mit Blasenkrebs diagnostiziert wurde, es aber abgelehnt hat, sich operativ oder anderweitig behandeln zu lassen. Er wollte einen »natürlichen Tod«, wie es an einer Stelle heißt, ohne dass uns das Buch weiter darüber Auskunft gibt, was denn das für ein Phänomen sein soll. Noll nimmt, wohl angeregt durch Max Frisch, das Tagebuchschreiben auf, wobei er sympathischer Weise immer wieder große Zweifel an dem Sinn eines solchen Unternehmens hegt. Er verbreitet sich auf knapp 260 Seiten nicht nur über die Entwicklung seiner Krankheit, sondern auch über Recht und Unrecht, Recht und Macht, Evolution und Intelligenz und viele, all zu viele Male über Gott und Jesus Christus. Das ist verständlich, da er aus einem protestantischen Pfarrhaushalt stammt, macht das Buch aber leider nicht besser.

Das Buch ist weitgehend ungeordnet und bleibt, was die behandelten Themen angeht, oberflächlich. Hier und da findet sich ein netter kleiner Aphorismus, aber wie schon Karl Kraus so richtig bemerkte, fällt das Aphorismenschreiben denjenigen leicht, die es nicht können. Für einige Leser mag das Buch sentimentalen Wert haben, aber mir ist letztendlich unverständlich geblieben, warum das Buch bis heute im Druck ist. Immerhin handelt es sich mindestens um die siebte Auflage des Taschenbuches bei Piper, und auch von der gebundenen Ausgabe sind mehr als 90. Exemplare gedruckt worden. Nun denn.

Wie oben schon angedeutet, enthält das Buch einige Beigaben: So schließen sich an den eigentlichen Text eine kurze Beschreibung von Nolls letzten Tagen, die Totenrede Max Frischs, Nolls Drama »Jericho« von 1968 und ein Schriftenverzeichnis Nolls an.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod. Mit der Totenrede von Max Frisch. Piper Taschenbuch 5723. München, Zürich: Piper, 2009. 374 Seiten. 9,95 €.

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Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere

10. Oktober 2010

978-3-257-24024-5Historischer Roman, der sich um James Cooks dritte Weltumsegelung dreht, auf der Cook bekanntlich auf Hawaii ums Leben gekommen ist. Der Protagonist des Romans ist der Expeditionsmaler John Webber, dessen Leben uns von der Kindheit bis zum frühen Tod erzählt wird. Die Erzählperspektive wechselt zwischen einem perspektivischem und einem journalartigen Ich-Erzählen, wobei die Entscheidungen, was aus welcher Perspektive erzählt wird, nicht immer ganz einleuchten. Außerdem werden in der Hauptsache zwei Zeitebenen im Wechsel erzählt: zum einen die Jahre der Reise, zum anderen der etwa Zeitraum bis zur Fertigstellung des offiziellen Expeditionsberichtes. Gerahmt wird diese Erzählstruktur durch zwei Besuche Webbers bei der Witwe Cooks; beim ersten Besuch übergibt er ihr ein Portrait des Toten, beim zweiten den soeben fertiggestellten Expeditionsbericht.

Dieser aufwendigen Erzählstruktur entspricht auf der motivischen und sprachlichen Ebene leider eher wenig. Der Roman ist, was die Beschreibung der Seereise angeht, über weite Strecken unoriginell; auch das Figurenensemble bleibt eher blass. Sprachlich ist das Buch gute Mittelware, wenn es auch an einzelnen Stellen an die Grenze zum Kitsch gerät:

3. August 1778. Mein Freund, William Anderson, ist tot. Ich grabe es mit der Feder ins Papier: Er ist tot! Es ist ein lautloser Schrei in mir und zerreißt beinahe meine Brust: Er ist tot! Warum muss das sein? Warum gerade jetzt? Ach, es sind die üblichen Fragen, nachdem man einen schweren Verlust erlitten hat, sie nützen nichts, sie mildern nichts.

Wer historische oder Segler-Romane schätzt, wird wohl auf seine Kosten kommen; wen Cook interessiert, sollte die Zeit besser auf eine Biografie verwenden.

Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere. detebe 24024. Zürich: Diogenes, 2010. 491 Seiten. 11,90 €.

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Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«

4. Oktober 2010

978-3-548-60784-9Sogenannte autorisierte Biografie Marlen Haushofers, was auch in diesem Fall wenig anderes bedeutet, als dass sich die Verfasserin von der Nachlassverwaltung einen Maulkorb hat umhängen lassen müssen, um wenigstens an irgendein Material heranzukommen. Inwieweit die Biografie korrekt ist, lässt sich nicht beurteilen, da sie derzeit allein auf weiter Flur steht. Angesichts der naiven Laienanalyse, zu der Daniela Strigl neigt, bin ich eher geneigt, ihr nicht weit über die blanken Fakten und Daten hinauszutrauen; doch ist hier – wie gesagt – kein solider Grund zu gewinnen.

Was das Leben Marlen Haushofers angeht, so sind ihre »originellen« Lösungen bestimmter Lebenslagen zu bewundern: Als sie von ihrem ersten Verlobten ungewollt schwanger wird, heiratet sie ihn etwa nicht – was der Reflex der Zeit gewesen ist –, sondern löst die Verlobung und bekommt das Kind heimlich, wahrscheinlich um ihrer streng katholischen Mutter gegenüber den vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht eingestehen zu müssen. Auch als ihre spätere Ehe in eine scharfe Krise gerät, bewährt sich ihr Sinn für überraschende Lösungen: Die Eheleute lassen sich scheiden, verraten es aber niemandem und leben auch weiterhin in einem gemeinsamen Haushalt. Man gibt sich also nach innen hin gegenseitig die »Freiheit«, hält aber nach außen hin die bürgerliche Fassade aufrecht.

Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«. Marlen Haushofer – die Biografie. List Taschenbuch 60784. Berlin: List, 32009. 406 Seiten. 9,95 €.

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Marlen Haushofer: Die Wand

4. Oktober 2010

978-3-548-60571-5Das Buch, mit dem sich Marlen Haushofer in die deutschsprachige Literatur eingeschrieben hat. Der bis heute anhaltende Erfolg ist wohl in der Hauptsache einer feministischen Lektüre des Buches zu verdanken, die aber nur einen der vielfältigen sich anbietenden Zugriffe darstellt.

Die Fabel des Buch dürfte weitgehend bekannt sein: Es handelt sich um den Bericht einer namenlosen Erzählerin, die sich bei einem Kurzurlaub im Gebirge unversehens von einer durchsichtigen Wand von der übrigen Welt abgeschnitten sieht, in der alle höheren Lebewesen gestorben zu sein scheinen. Weder die Existenz der Wand noch der allgemeine Tod außerhalb von ihr werden im Roman zureichend erklärt und müssen als Voraussetzung der Fiktion schlicht hingenommen werden. Den Hauptteil des Berichts, der eine Rückschau der Erzählerin nach 2½ Jahren darstellt, bildet die Beschreibung des blanken Überlebens im abgezirkelten Bereich der Wand. Die Autorin stellt ihrer Figur die notwendigsten Grundlagen zum Überleben zur Verfügung: Werkzeug, Saatgut (Kartoffeln und Bohnen), ein Gewehr mit Munition und schließlich auch eine trächtige Kuh. Zudem bekommt sie eine Katze und einen Hund als Gefährten zugesellt. Die Parallelen zum »Robinson Crusoe« sind offensichtlich, doch ist dies nicht die einzige Lesart, die das Buch anbietet.

Es lässt sich ebenso als Dystopie, Katastrophenroman, psychische Allegorie oder existentialistisches Experiment lesen; wie schon erwähnt, hat sich auch die feministische Literaturforschung den Text erfolgreich angeeignet. Der Text hält offenbar für alle diese Zugriffe ausreichendes Material bereit, ohne von seiner Autorin auf eines dieser Konzepte hin festgelegt worden zu sein. Es scheint vielmehr von seinem stofflichen Grundeinfall her geschrieben und ansonsten bewusst so offen wie möglich angelegt worden zu sein. Dies führt für manchen Leser sicher zu der unbefriedigenden Lage, dass viele Details schlicht als willkürlich gesetzt und unreflektiert erscheinen; andererseits muss man der Autorin zugestehen, dass sie aus der doch recht dünnen stofflichen Grundlage knapp 280 Seiten Text zu erzeugen verstanden hat, ohne die Geduld der Leser übermäßig zu strapazieren.

Ein ungewöhnliches Buch, das einerseits der apokalyptischen Stimmung seiner Zeit Rechnung trägt, andererseits das Thema vom Einzelnen und seiner Welt originell durchexerziert.

Marlen Haushofer: Die Wand. List Taschenbuch 60571. Berlin: List, 122009. 285 Seiten. 8,95 €.

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