Archiv für August 2011
Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm
22. August 2011Anständiges Haus. Anständige Leute.
Adiga hatte mit seinem Erstling »Der weiße Tiger« einen weltweiten Erfolg gefeiert, besonders da ihm – völlig zu Recht – der Booker Prize für das Buch verliehen worden war. Adiga hat anschließend in kurzer Zeit zwei weitere Romane vorgelegt, deren zweiter in diesen Tagen auch auf Deutsch erscheint. Eine so rege Produktivität weckt bei mir immer erst einmal den Verdacht, ein Autor (und zumeist auch sein Verleger) wollten mit Gewalt den Tages-Erfolg nutzen, doch »Letzter Mann im Turm« beweist, dass Adiga genug Substanz hat, um auch nach so kurzer Zeit einen guten Roman von mehr als 500 Seiten vorlegen zu können.
Das Zentrum der Erzählung bildet eine Hausgemeinschaft in Mumbai, im südlich vom Internationalen Flughafen gelegenen Stadtteil Vakola, einer Gegend, die halb kleinbürgerliche Wohngegend, halb Slum ist. Vakola ist aber zugleich jenes Viertel, in dem sich die expandierende Baubranche ausbreitet: Hier werden zahlreiche Wohnanlagen mit teuren Luxuswohnungen errichtet, denen die alte Besiedlung weichen muss. So soll es auch der Wohngemeinschaft in den beiden Türmen der Vishram Society ergehen. Turm A, um den es im Buch hauptsächlich geht, wurde bereits Ende der 50er Jahre errichtet und beginnt schon, leicht marode zu werden. Doch seine Wohnungs-Eigentümer bildet eine funktionierende und zufriedene Gemeinschaft mit jahrelangen Bekannt- und Freundschaften und festen Ritualen. All dies ändert sich, als der Bauunternehmer Dharmen Shah den Plan entwirft, sein unternehmerisches Lebenswerk durch den Bau einer Wohnanlage genau auf dem Gelände der Vishram Society zu krönen. Er macht daher den Bewohnern ein Angebot, dass diese kaum ausschlagen können: Er ist bereit, ihnen für ihre Wohnungen etwa das Doppelte des Marktwertes zu zahlen, was pro Wohneinheit einem Betrag von ungefähr 236.000 € entspräche, was circa das 400-Fache des durchschnittlichen indischen Jahreseinkommens darstellt.
Wie immer in solchen Fällen sind die Meinungen zuerst geteilt. Allerdings lassen sich bald zwei, dann ein weiterer der vier Gegner des Verkaufs überzeugen. Letzter Mann im Turm bleibt aber Yogesh Murthy, genannt Masterji, ein pensionierter Physik-Lehrer, der nach dem kürzlichen Tod seiner Frau allein in seiner Wohnung lebt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der Bauunternehmer hat sein Angebot mit einem Ultimatum versehen, und je näher dieser Termin rückt, desto größer wird der Druck der Mitbewohner auf Masterji. Er durchläuft alle Grade von der geachtetsten zur geächtetsten Person im Haus. Und Adiga scheut auch nicht vor der letzten Konsequenz dieser Fabel zurück.
Das Buch braucht recht lange bis es bei seinem Thema angekommen ist. Danach bleibt – eventuell mit Ausnahme des Endes – alles im Rahmen des Normalen, Voraussehbaren, Erwartbaren. Und gerade darum scheint es Adiga zu gehen: Wie selbstverständlich ganz normale Menschen, die viele Jahren gut und solidarisch miteinander gelebt haben, all das vergessen und beginnen, einem, der nicht ihrem Willen folgt, ihre Entscheidung aufzuzwingen. Es ist genau diese Normalität, ja Banalität des Bösen, die schrittweise Entwicklung von anständigen Menschen hin zur Bereitschaft, einem eigentlich geschätzten, ja fast verehrten Mitbürger das Schlimmste nicht nur zu wünschen, sondern auch anzutun, um die es in diesem Buch geht. Es bedarf gar keines dämonischen Antreibers, um die ärgsten Verbrechen geschehen zu lassen, es bedarf nur eines gerüttelten Maßes an Eigeninteresse, um alle bürgerlichen und endlich auch mitmenschlichen Grenzen zu überschreiten. Und das alles lässt Adiga in der unmittelbaren Gegenwart und der handfestesten Realität Indiens spielen. Es ist daher alles andere als zufällig, dass der Roman immer wieder en passant auf die Welt der Bollywood-Filme als illusionärer Gegenwelt hinweist.
In diesem Sinne ist »Letzter Mann im Turm« eine konsequente Fortsetzung von »Der weiße Tiger«. Adiga zeigt einmal mehr die Gnadenlosigkeit und Grausamkeit der Wirklichkeit einer kapitalistisch bürgerlich verfassten Gesellschaft – nicht nur Indiens – auf. Dass er es mit solch einer erzählerischen Gelassenheit und scheinbaren Harmlosigkeit tun kann, macht seine Qualität aus.
Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Aus dem Englischen von Susann Urban und Ilija Trojanow. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, bedruckter Vorsatz, 515 Seiten. 19,95 €.
Schlagwörter: Bürgertum, Belletristik, Gesellschaftsroman, Indische Literatur, Kapitalismus, Mumbai
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Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance
20. August 2011When you’ve got a Chautauqua in your head, it’s extremely hard not to inflict it on innocent people.
Eines der Bücher, die auf meiner imaginären Liste der frühen Lektüren stehen, die ich noch einmal lesen will. Zwar habe ich versucht herauszufinden, wann genau ich dieses Buch gelesen habe, konnte aber zu keinem genauen Ergebnis kommen. Ich vermute, dass es 1977 oder 1978 gewesen sein muss, also bevor ich zum ersten Mal Philosophie-Unterricht hatte, denn die Passage über Kants »Kritik der reinen Vernunft« hätte später bei mir sicherlich zu einer heftigen Abwertung des Buches geführt; so habe ich sie wahrscheinlich nicht besonders gut verstanden und dementsprechend rasch vergessen.
Die größte Überraschung der erneuten Lektüre war die Einsicht, dass es sich hier wesentlich nicht um einen Roman handelt (so habe ich das Buch Ende der 70-er Jahre gelesen), sondern um eine Mischung aus weitgehend autobiographischem Bericht und philosophischem Essay. Der essayistische Anteil ist bewusst populär behandelt und wird von Pirsig an die Tradition der Chautauquas angeschlossen.
Den erzählerischen Rahmen bildet in der ersten Hälfte des Buches eine Motorradtour, die der autobiographische Ich-Erzähler zusammen mit seinem Sohn Chris und zwei Bekannten, Sylvia und John, nach Bozeman in Montana unternimmt. In der zweiten Hälfte besteigt er zusammen mit Chris einen Berg und setzt anschließend mit ihm die Motorradtour fort. Der Erzähler hat vor vielen Jahren an der Universität von Bozeman Rhetorik unterrichtet, dann aber offensichtlich eine schizophrene Episode durchlebt, während der er in der Psychiatrie mit einer Elektroschock-Therapie behandelt und geheilt wurde. Die Fahrt nach Bozeman ist somit zugleich eine Reise in die eigene, weitgehend vergessene Vergangenheit und zurück zu einem früheren Ich, das den Namen Phaedrus trägt und sich, je weiter die Handlung fortschreitet, immer deutlicher wieder im Erzähler manifestiert. Der sich immer mehr in den Vordergrund drängende essayistische Anteil ist vorgeblich der Versuch des Erzählers, die von Phaedrus entwickelte philosophische Theorie vorzuführen, wobei der Erzähler betont, dass er sie aus fragmentarischen Erinnerungen und Notizen habe rekonstruieren müssen.
Das philosophische Brett, das hier gebohrt wird, ist recht dünn: Es handelt sich um einen handgreiflichen Versuch in klassischer Metaphysik. Ausgehend von seiner eigenen Unfähigkeit, auf den Begriff zu bringen, was Qualität ist, obwohl er sie erkennen kann und sie ein wesentliches Ziel seiner Lehrtätigkeit darstellt, fasst der Rhetoriklehrer Phaedrus den Entschluss, Qualität sei eine nicht zu definierende essentielle Eigenschaft der Welt, die der dualistischen Teilung in Subjekt und Objekt vorausgehe. Diese all eine Qualität sei überhaupt die Verbindung zwischen allen wirklichen Philosophien der Welt und der westliche Irrweg der rationalistischen Analyse, den wesentlich Platon und Aristoteles erstmals beschritten hätten, sei von Übel und verantwortlich für das Unbehagen in der technischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Man sollte nicht erwarten, dass dies tatsächlich irgendwie begründet wird; das verhindert allein schon der Charakter der Darstellung als fragmentarische Rekonstruktion. Auch fällt Phaedrus, obwohl er angeblich die »Kritik der reinen Vernunft« gelesen hat, nicht ein, dass dieser Begriff sich in der Kantischen Kategorientafel findet. Überhaupt beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie auf den Mathematiker Poincaré, die einzigen wissenschaftstheoretischen Gedanken, die zitiert werden, stammen von Albert Einstein. Der Rest erschöpft sich in Namedropping, und das obwohl Phaedrus sich, man höre und staune, ein ganzes Jahr lang mit Philosophiegeschichte beschäftigt. Auch die auf den letzten 100 Seiten stattfindende Diskussion der Philosophie der griechischen Antike ist geprägt von einem unzureichenden Verständnis der antiken Problemstellungen.
Für jemanden, der sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auskennt, dürfte aber am witzigsten sein, dass bereits 1953 ein Buch erschienen ist, das die gesamte metaphysische Gymnastik dieses Buches obsolet macht: Hätte Phaedrus einen wohlmeinenden Freund gehabt, der ihm Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« in die Hand gedrückt hätte, wäre ihm wohl der Wahnsinn und uns gut 500 Seiten erspart geblieben.
Nett ist das Plädoyer für die hauptsächlich am Beispiel der Motorradwartung demonstrierten sekundären Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Sorgsamkeit, Konzentration und Geläufigkeit. Dies sind die angenehmsten Passagen dieses sich ansonsten bei aller vorgeblichen Demut selbst weit überschätzenden Textes. Sie sind es neben dem Titel wohl auch, die das Buch zum Bestseller haben werden lassen.
Insgesamt eine enttäuschende Wiederbegegnung.
Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. An Inquiry into Values. New York: Harper, 172006. Broschur, 540 Seiten. 5,20 €.
Schlagwörter: Aesthetik, Amerikanische Literatur, Autobiographisches, Belletristik, Metaphysik, Philosophie, Technik, USA, Wiedergelesenes, Zen
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Plato: Phaedrus
18. August 2011Come here, then, noble creatures, and persuade the fair young Phaedrus that unless he pay proper attention to philosophy he will never be able to speak properly about anything.
Eins führt zum anderen: Da der »Phaidros« in »Der Tod in Venedig« aus thematischen Gründen eine prominente Stellung inne hat und er außerdem für das oben auf dem Stapel der wieder einmal zu lesenden Bücher liegende »Zen and the Art of Motorcycle Maintenance« von Bedeutung ist, habe ich den Dialog wieder einmal aus dem Schrank geholt. Erklärungsbedürftig ist aber wohl, warum hier eine englische Übersetzung gelesen wurde. Ich habe während des Studiums angefangen, griechische Klassiker auf Englisch zu lesen, zuerst weil es keine halbwegs preiswerte und vollständige deutsche Aristoteles-Ausgabe gab und zudem zahlreiche der erreichbaren deutschen Übersetzungen nicht unwesentlich ein Ergebnis christlicher Lektüre sind. Da als Alternative eine weitgehend vollständige und ordentlich übersetze englische und altgriechische Ausgabe in der Loeb Classical Library vorlag, war dies fast selbstverständlich meine Wahl. Später bin ich dann auch bei Platon auf die Loeb-Ausgabe umgestiegen, da die Schleiermacher-Übersetzung selbst in der
verwässerten modernisierten Form höchstens Altphilologen Vergnügen bereitet, die ebenso leicht das Original lesen könnten, und auch die Meiner-Ausgabe das Problem der gleichzeitigen Lesbarkeit und Korrektheit nicht wirklich zufriedenstellend löst. In letzter Zeit stellt die zweisprachige Ausgabe in der Universalbibliothek von Reclam eine gute deutschsprachige Platon-Ausgabe zur Verfügung, doch kommt diese Edition nur quälend langsam voran. Jedenfalls lese ich seit dem Studium die antiken philosophischen Klassiker bevorzugt in englischen Übersetzungen, auch da mein Altgriechisch nie so gut war, dass ich die Originale auch nur einigermaßen flüssig lesen könnte.
Der »Phaidros« gehört wahrscheinlich nach dem »Symposion« zu den meist rezipierten Dialogen Platons und ist nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch unter Schriftstellern seit der Neuzeit von bedeutendem Einfluss. Das liegt zum einen an der über weite Strecken vergleichsweise lockeren Diktion, zum anderen aber sicherlich auch daran, dass der philosophische Diskurs hier durch die Interaktion zwischen den Dialogpartner Phaidros und Sokrates und den Ort des Dialogs (der klassische locus amoenus) offensichtlich in einen literarischen Rahmen eingepasst ist.
Grundthema des Dialogs ist die Bestimmung dessen, was Liebe sei. Anlass ist eine Rede des Lysias über die Liebe, die Phaidros bei sich hat, als er Sokrates vor den Toren Athens trifft. Da es ein heißer Tag ist, suchen die beiden in einem den Musen geweihten Hain den Schatten auf, und Phaidros liest Sokrates die Rede des Lysias vor, von der er zuerst in höchsten Tönen schwärmt. Sokrates ist von ihr allerdings weniger angetan und entwickelt spontan zwei Gegenreden über dasselbe Thema. In einer davon findet sich die Bestimmung der Liebe als der höchsten von drei Sorten des Wahnsinns, die die Götter den Menschen eingeben. Von hier ausgehend entwickelt Sokrates die Allegorie vom Seelenwagen: Die dreigeteilte menschliche Seele gleiche einem Wagen, der von zwei Pferden gezogen werde. Das weiße, gute Pferd dränge zum Himmel und dem Reich der Ideen, das dunkle Pferd der Leidenschaft dagegen ziehe den Wagen erdwärts und hin zur konkreten Welt. Die dritte Komponente, die den Wagen lenkende Vernunft, versuche dieser beiden Tendenzen Herr zu werden und entgegen den störenden Leidenschaften den Seelenwagen hin zur Philosophie und zur Erkenntnis der Ideen zu lenken.
Anschließend wendet sich Sokrates der Kritik der zeitgenössischen Rhetorik-Lehrer zu. Es folgt eine Zusammenfassung der aus den Frühdialogen bereits bekannten Kritik an der sogenannten Sophistik, der vorgeworfen wird, sich nicht wirklich um die Erkenntnis der Wahrheit zu bemühen, sondern sich mit Vorstufen wahrer Erkenntnis zu begnügen und andere von der Hinwendung zur wirklichen Erkenntnis durch ihre Irrlehren abzuhalten. Es folgt eine Kritik des geschriebenen Wortes, wie sie ähnlich auch im berühmten Siebten Brief Platons zu finden ist, hier exemplifiziert an einem altägyptischen Mythos von der Erfindung der Schrift durch den Gott Theuth. Mit der berühmten Definition der Philosophen als »Liebhaber der Weisheit«, einem verhaltenen Lob des jungen Rhetors Isokrates und einem gemeinsamen Gebet der beiden Gesprächspartner schließt der Dialog.
Wie oft bei Platons Dialogen kann sich der halbwegs selbstständige Leser des Gefühls nicht erwehren, dass zu den verhandelten Themen noch so manches zu sagen wäre und zahlreiche der Argumente des Sokrates, die Phaidros widerstandslos schluckt, bei weitem nicht so überzeugend sind, wie sie erscheinen sollen. Da der Dialog sich selbst aber zugleich als nicht besonders ernstzunehmende intellektuelle Spielerei einordnet, stößt jede systematische Kritik ins Leere. Von daher geschieht es ihm wahrscheinlich recht, in der Neuzeit besonders häufig Schriftsteller angeregt zu haben.
Plato: Phaedrus. In: Plato in Twelve Volumes I. With an english translation by Harold North Fowler. Cambridge: Harvard University Press, 151982. Leinen, Fadenheftung, 583 Seiten. 24,– $.
Schlagwörter: Allegorie, Antike Literatur, Enthusiasmos, Liebe, Philosophie, Rhetorik, Wahnsinn, Zweisprachige Ausgaben
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Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler
12. August 2011Wie konnte er die Parodie eines Schriftstellers sein und zugleich der Einzige, der aufgrund der Zeit, die er seinem Beruf widmete, und des geschaffenen Werks diese Bezeichnung in Peru verdiente?
Wahrscheinlich der beste Roman Vargas Llosas (wenn ich auch zu wenig von ihm gelesen habe, um das wirklich beurteilen zu können, aber alles andere fiel deutlich ab), den Suhrkamp dadurch aufwertet, dass man ihn neu hat übersetzen lassen. Wohl um die Neuübersetzung als solche kenntlich zu machen, hat man den Titel variiert: Während die alte Übersetzung nicht sehr glücklich »Tante Julia und der Kunstschreiber« hieß (das Kunstwort Kunstschreiber sollte vielleicht an Kunstreiter erinnern?), ist der Schreibkünstler der Neuübersetzung beinahe noch unglücklicher gewählt, da das Wort zum einen sehr gekünstelt daherkommt und zum anderen eher einen Kalligraphen als einen Schriftsteller bezeichnet. Mit dem im spanischen Original »La tia Julia y el escribidor« verwendeten escribidor haben beide Wörter nur entfernte Verwandtschaft, denn das bedeutet auf Deutsch schlicht Schreiberling, was den unschlagbaren Vorteil hat, dass sich im Titel noch gar nicht entscheidet, welcher der beiden im Text vorkommenden Autoren denn dieser Schreiberling sein soll. Warum das im Deutschen gebräuchliche und passende Wort (von der wundervoll altertümelnden Variante Skribent will ich hier ganz schweigen) in beiden Fällen nicht zur Anwendung gekommen ist, blieb mir bislang unverständlich. (Die englische Übersetzung macht aus dem escribidor übrigens einen scriptwriter, was die lustige Folge hat, dass der Übersetzungsautomat von Google für escribidor als erste Wahl Drehbuchautor vorschlägt. Da sage nochmal einer, Literatur habe keine Folgen.)
Das Buch ist in alternierenden Kapiteln erzählt: In den ungerade bezifferten erzählt der halbautobiographische Ich-Erzähler Mario von seinen Erlebnissen des Jahres 1954. Mario ist 18 Jahre alt und studiert eher aus Pflicht als mit Lust Jura in Lima. Um sich ein wenig nebenbei zu verdienen, arbeitet er außerdem als Nachrichtenredakteur bei einem kleinen Radiosender, indem er Meldungen aus den Zeitungen umarbeitet. Eigentlich will Mario aber Schriftsteller werden, nur hat er bislang mit seinen Bemühungen weder bei seinem literarisch beschlagenen Freund Javier noch bei den lokalen Zeitschriften Glück gehabt. Zu Anfang des Romans treten zwei neue Personen in Marios Leben: Seine angeheiratete Tante Julia, eine 32-jährige, geschiedene Bolivianerin, die ihre Schwester in Lima besucht und auf der Suche nach einem neuem Ehemann ist, und Pedro Camacho, ein 50-jähriger Autor, ebenfalls Bolivianer, der beim Radiosender anfängt, um die täglichen Hörspielserien – vier an der Zahl – zu schreiben, zu produzieren und auch in ihnen mitzuwirken.
Während sich Mario mit seiner Tante Julia, die ihn als halbes Kind behandelt, zuerst nicht gut versteht, lernt er Pedro Camacho sehr bald zu respektieren. Zwar sind die von ihm produzierten Radio-Novellas nicht seine Welt, doch im Gegensatz zu ihm geht Camacho das Schreiben völlig mühelos von der Hand. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen Mario und Pedro eine nähere Bekanntschaft, die der einzige soziale Kontakt zu sein scheint, den Camacho überhaupt pflegt. Auch mit seiner Tante versteht sich Mario immer besser: Die beiden gehen miteinander ins Kino, beginnen Händchen zu halten und sich sogar zu küssen, wobei das ganze lange Zeit nur ein Flirt bleibt und erst langsam in eine Verliebtheit übergeht.
In den gerade bezifferten Kapiteln (mit Ausnahme des letzten, das eine Art von Epilog liefert) dagegen wird immer eines der Hörspiele von Pedro Camacho nacherzählt. Camacho ist ein Meister der Seifenoper und wird in kurzer Zeit zum Star des Radiosenders; die Einschaltquoten und damit auch die Werbeeinnahmen vervielfachen sich. Allerdings legt Camacho von Anfang an bestimmte Marotten an den Tag: Vorlieben für gewisse religiöse Kulte, einen Hass auf Argentinier und ähnliches. Doch da er so erfolgreich ist, dass angeblich sogar der Staatspräsident seinen Hörspielen folgt, ist er für lange Zeit unantastbar. Aber die Belastung, vier Serien am Tag produzieren zu müssen, fordert Tribut: Je länger Camacho schreibt, desto mehr verliert er die Kontrolle über seine Geschichten. Zuerst tauchen Figuren auch in Serien auf, zu denen sie ursprünglich nicht gehörten. Wird in diesem Fall noch an einen künstlerischen Trick geglaubt – man vermutet, Camacho ahme Balzac nach –, so wechseln Figuren bald auch ihre Namen oder haben plötzlich einen anderen Beruf, ebenso verändern sich ihre körperlichen Eigenschaften oder verwandtschaftlichen Beziehungen. Camacho, dem von Anfang an klar ist, dass er die Kontrolle verliert, versucht sich dadurch zu helfen, dass er einen bedeutenden Teil seines Personals sterben lässt, vergisst aber natürlich gleich wieder, wer nun schon tot ist und wer noch lebt.
»Alle sind ertrunken«, präzisierte die ausländische Dame. »Sein Neffe Richard und auch Elianita und ihr Mann, der Rotfuchs Antúnez, dieser Dummkopf, und selbst das Kind ihrer Blutschande, der kleine Rubencito. Sie waren auf dem Schiff, um sie zu verabschieden.«
»Bloß komisch, dass der Leutnant Jaime Concha ertrunken ist, der war schon bei dem Brand von Callao umgekommen, in einer anderen Serie, vor drei Tagen«, fiel die junge Frau wieder ein und lachte sich halb tot; sie hatte aufgehört zu schreiben. »Diese Radioserien sind ein Witz geworden, meinen Sie nicht?« [S. 325]
Während Camacho mit seinen Serien kämpft ist die Liebesgeschichte zwischen Julia und Mario ernsthaft geworden. Da aber nun die Eltern von Mario drohen, der Sache ein Ende zu machen, versuchen die beiden Verliebten durch eine Heirat vollendete Tatsachen zu schaffen. Doch um heiraten zu können, braucht der noch minderjährige Mario entweder die schriftliche Einwilligung seiner Eltern oder er muss einen Bürgermeister finden, der bereit ist, die Trauung auch ohne dieses Dokument vorzunehmen. Nachdem alle Versuche in Lima gescheitert sind, machen sich Julia und Mario zu einer Odyssee durch die Provinz auf, um irgendwo auf dem Dorf heiraten zu können …
Der Roman ist nicht nur äußerst witzig und erfindungsreich, er ist zugleich auch eine intelligente Auseinandersetzung mit der Schriftstellerei: Während der junge Autor Mario verzweifelt mit seinen Texten um Bedeutung kämpft, nur um dann von seinem Freund Javier in Grund und Boden kritisiert zu werden, hat er zugleich das Beispiel eines Schreibers vor Augen, der praktisch alles Material seines Lebens problemlos in triviale Literatur umgießt und auf diese Weise in kurzer Zeit große Mengen Text produziert. Der Witz besteht nur aber nun gerade darin, dass der Ich-Erzähler Mario mit seiner Geschichte von dem Vielschreiber Pedro und seiner Liebe zu Julia nichts anderes macht als der von ihm als Schreiberling angesehene Camacho. Und die im Buch wiedergegebenen Hörspiele machen mit ihren Gebrauch und der Verwechslung der Versatzstücke klar, dass alles immer auch anders hätte sein können, dass die fiktive Welt immer nur eine Folge von Entscheidungen ihres Schöpfers ist, die leicht auch ganz anders hätten ausfallen können.
Das Buch ist zweifellos ein Glücksfall der Literatur! Die Neuübersetzung ist gut und flott zu lesen; ob sie tatsächlich besser ist als die alte von Heidrun Adler, ist eine Frage, die jemand mit besseren Spanisch-Kenntnissen entscheiden muss. Ich will’s bis zum Beweis des Gegenteils gern glauben.
Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, 447 Seiten. 22,90 €.
Schlagwörter: Belletristik, Humor, Liebe, Neuübersetzungen, Peruanische Literatur, Poetik, Schriftstellerei, Spanische Literatur, Trivialliteratur, Wiedergelesenes
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Thomas Mann: Der Tod in Venedig
12. August 2011Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen.
Nachdem mir bei der Besprechung von Koeppens »Der Tod in Rom« der grobe Schnitzer unterlaufen war, Gustav Aschenbach für einen Tonsetzer zu erklären, war klar, dass es dringend an der Zeit war, Thomas Manns Erzählung wieder einmal zu lesen. Innerlich hatte ich wohl vor etwa zwanzig Jahren mit den Erzählungen Manns abgeschlossen, nachdem ich auch die letzten eher aus einem Sinn für einen Abschluss als aus echtem Interessen heraus gelesen hatte. Viele der kürzeren Erzählungen von Thomas Mann schienen mir damals wenig zu taugen, so dass ich mich , wenn Mann bei mir noch einmal dran sein würde, auf die Romane konzentrieren wollte. Überhaupt muss ich gestehen, dass mir die Deutschen Thomas Mann weit zu überschätzen scheinen, nicht etwa als Erzähler, wo er fraglos zur ersten Garnitur gehört, sondern als Intellektuellen.
Wie genau Thomas Mann um die Windigkeit seines Status als Intellektueller wusste, macht eine kleine Passage aus seinem schlechtesten Roman »Königliche Hoheit« deutlich. Da muss die Königliche Hoheit gelegentlich in einem kleinen Ort ein Denkmal enthüllen und zu diesem Anlass einige Worte sagen:
Als er im Namen des Großherzogs, »meines gnädigsten Herrn Bruders«, die Enthüllung des Johann-Albrecht-Standbildes zu Knüppelsdorf vollzog, hielt er auf dem Festplatze gleich nach dem Vortrage des Vereins »Geradsinnliederkranz« eine Rede, in der alles untergebracht war, was er sich über Knüppelsdorf notiert hatte, und die allerseits den schönen Eindruck hervorrief, als habe er sich zeit seines Lebens vornehmlich mit den historischen Schicksalen dieses Mittelpunktes beschäftigt. […] Und Klaus Heinrich stand lächelnd, mit einem Gefühle der Ausgeleertheit unter seinem Theaterzelt, froh in der Sicherheit, daß niemand ihn weiter fragen dürfe. Denn er hätte nun kein Sterbenswörtchen mehr über Knüppelsdorf zu sagen gewußt.
Präziser lässt sich der Status des Festredners Thomas Mann nicht auf den Punkt bringen.
Doch zu »Der Tod in Venedig«: Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.
Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, wie es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeutung, Spiegelungen und Ringstrukturen angeht, eine Perle traditioneller Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.
Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Kindle Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2009. 317 KB. 6,99 €.
(Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der
Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)
Schlagwörter: 20. Jahrhundert, Bürgertum, Belletristik, Deutsche Literatur, Digitale Ausgaben, Erzählungen, Krankheit, Novelle, Schriftstellerei, Sexualität, Venedig, Wiedergelesenes
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Die Shakespeare-Frage ist gelöst!
6. August 2011Der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther gibt im SZ-Interview (leider (noch?) nicht online) die endgültige Antwort auf die Frage: Wer schrieb Shakespeares Stücke?
Die Stücke wurden in Wirklichkeit von Königin Elisabeth geschrieben. Aber Elisabeth war nicht Elisabeth. Die richtige Elisabeth ist von ihrer Schwester, der Bloody Mary, ermordet und durch einen jungen Schauspieleleven ersetzt worden. Daraus ergibt sich alles andere schlagend: Der Schauspieler in seiner Lebensrolle als falsche Königin hat in seiner Einsamkeit und auch sexuellen Verzweiflung, weil er ja nicht mehr an die Weiber rankam, diese ganzen eskapistischen Stücke geschrieben, in denen transsexuell verkleidete Menschen aus den Zwängen des Hoflebens in idealische Ardenner Wälder fliehen. Bitte! Warum hat Elisabeth 300 Perücken hinterlassen? Warum hat sie die Schminke so dick aufgetragen? Warum diese Stilisierung zur jungfräulichen Ikone? Warum war Königin Shakesbeth immer so sauer, wenn eine der Hofdamen ein Techtelmechtel mit einem der Earls hatte? Warum kamen die sofort in den Tower? Und warum hat Elisabeth niemals geheiratet? Na, sie konnte nicht, weil sie ein Kerl war. Und warum wurden so viele dieser Stücke von Shakespeare am Hofe aufgeführt? Weil die Königin bei ihrer eigenen Premiere dabei sein wollte, sie konnte ja schlecht ins Puffviertel nach Southwark fahren. Shakespeare war Elisabeth, und Elisabeth eine Drag-Queen aus dem Londoner Schmierentheater. Und jetzt soll mir mal einer das Gegenteil beweisen.
Schamlos geklaut aus
Giesbert Damaschkes Notizen.
Schlagwörter: Meldungen
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Leg’ dich nur ruhig schlafen
6. August 2011Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertigkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg’ dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze.
Fritz Mauthner
Wörterbuch der Philosophie
Schlagwörter: Miniaturen
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Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom
5. August 2011Wen sollte meine Musik erfreuen? Sollte sie überhaupt erfreuen? Sie sollte beunruhigen. Sie würde keinen hier beunruhigen.
Furioser Abschluss der Trilogie des Scheiterns, 1954, also nur ein Jahr nach »Das Treibhaus« erschienen. Der Titel ist eine offensichtliche Anspielung auf die Erzählung »Der Tod in Venedig« von Thomas Mann. Bei Koeppen ist der Protagonist jedoch kein Schriftsteller, sondern »Tonsetzer«, der junge Komponist Siegfried Pfaffrath, der allerdings nur eine ausgezeichnete Position in einem Figurenensemble einnimmt. Mit »Der Tod in Rom« kehrt Koeppen erzähltechnisch zum ersten Teil der Trilogie zurück: Auch diesmal verfolgt er zahlreiche Figuren über den Verlauf von gut 48 Stunden, wobei zwei seiner Figuren allein durch die schiere Textmenge, die ihnen zugeordnet ist, ausgezeichnet werden: der schon erwähnte Siegfried Pfaffrath und sein Onkel Gottlieb Judejahn. Siegfried wird darüber hinaus auch noch dadurch herausgehoben, dass über ihn nicht nur personal erzählt wird, sondern er in zahlreichen Passagen auch als Ich-Erzähler auftritt.
Erzählt wird die Begegnung der Mitglieder einer deutschen Familie in Rom Anfang Mai 1954. Friedrich Wilhelm Pfaffrath, Oberbürgermeister einer deutschen Stadt, in der er bereits im Dritten Reich eine entsprechende hohe Verwaltungsposition inne hatte, ist mit seiner Frau, deren Schwester und seinem jüngsten Sohn Dietrich, einem Jura-Studenten, in Rom, um den mit seiner Schwägerin Eva verheirateten Gottlieb Judejahn zu treffen: Judejahn war SS-General und zumindest zeitweilig in dieser Funktion auch in Rom stationiert; zurzeit ist er Militätberater im Nahen Osten, eine Tätigkeit, die er als Fortsetzung seines Kampfes gegen die Juden versteht. Judejahn ist in Rom, um für seine Auftraggeber Waffen zu kaufen.
Pfaffraths älterer Sohn Siegfried ist zur gleichen Zeit in Rom, da anlässlich eines Musik-Kongresses eine seiner Kompositionen uraufgeführt werden soll. Dirigent ist der Siegfried väterlich zugetane Kürenberg, der vor dem Machtantritt der Nazis in der Stadt Pfaffraths tätig war und dessen Frau Ilse eine geflüchtete Jüdin aus eben dieser Stadt ist. Ilses Vater wurde von den Nazis wohl unter direkter Verantwortung Judejahns umgebracht, das Kaufhaus der Familie niedergebrannt. Kürenbergs sind nach England geflüchtet, wo Siegfried später als Insasse eines Gefangenenlagers mit Kürenberg Kontakt aufgenommen hat. Weder Siegfried noch die Kürenbergs ahnen zu Anfang des Romans etwas von den schicksalhaften Verwicklungen ihrer Familien.
Ebenfalls in Rom hält sich Adolf, der Sohn von Judejahn und Eva, auf: Wie Siegfried hat auch er in einer Ordensburg die Erziehungsmaschinerie der Nationalsozialisten durchlaufen, ist dann zu Kriegsende fortgelaufen und hat sich der katholischen Kirche zugewandt. Er ist noch in der Ausbildung zum Priester, was bei seinen beiden Elternteilen massive Verachtung auslöst. Aber auch Siegfried, der seine eigene Homosexualität als eine Folge der Erziehung in der Ordensburg begreift, lehnt den von Adolf gewählten Weg ab: Für ihn ist eine Sinngebung der menschlichen Existenz durch die christliche Religion nicht mehr glaubwürdig. Allerdings kann auch seine in der Hauptsache aus seiner Verzweiflung gespeiste Musik diese Funktion nicht erfüllen. Siegfried ist ganz im Sinne der zeitgenössischen Literatur als existenzialistische Figur entworfen.
Während Koeppens Darstellung des Großbürgertums der unmittelbaren Nachkriegszeit am Beispiel der Familie Pfaffrath eine gewisse resignative Gleichgültigkeit gegenüber der neuen Demokratie und eine sentimentale Trauer um die gute, alte Zeit Großdeutschlands zeigt, gerät ihm Judejahn zum Beispiel eines ungebrochen weiter der Ideologie des Nationalsozialismus anhängenden, unbelehrbaren Fanatikers. Judejahn bereut keine seiner Handlungen während des Dritten Reichs, betont sogar mehrfach, dass der Fehler darin bestanden habe, nicht genug Leute umgebracht zu haben, verwendet weiterhin ungebrochen die Phrasen des Nationanalsozialismus und hat nichts von seiner umfassenden Verachtung alles und aller Nichtdeutschen verloren. Judejahn ist nicht nur immer noch ein williger Handlager des Todes, er selbst ist der Tod in Rom, ohne Menschlichkeit und Mitleid, ohne jegliche Kultur, ungebildet, hasserfüllt und voller Ressentiment. In dieser Figur rechnet Koeppen nicht nur mit der unmenschlichen Ideologie des Dritten Reichs ab, er macht auch deutlich, dass sich Vertreter dieses Denkens immer noch auf freiem Fuß befinden und nur darauf warten, nach Deutschland zurückzukehren, um dort wieder die alten Verhältnisse herbeizuführen. Es wird schwer sein, eine solch intensive Darstellung der Unmenschlichkeit nationalsozialistischen Denkens in einer einzigen Figur in der deutschsprachigen Literatur noch einmal zu finden.
Mit diesem Roman hat leider auch das Romanwerk Koeppens seinen Abschluss gefunden. Es ist sehr bedauerlich, dass dieser Autor, der offensichtlich eine der großen erzählerischen Begabungen der Nachkriegsliteratur war, die Geschichte der Bundesrepublik nicht weiter begleitet hat. Es ist allerdings, nimmt man seine Einschätzung von der Wirkungslosigkeit der Kunst ernst, auch nur zu verständlich.
Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom. In: Gesammelte Werke 2. Romane II. st 1774. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1990. Broschur, S. 391–580 von insg. 581 Seiten.
Schlagwörter: 50er-Jahre, Antisemitismus, Belletristik, Deutsche Literatur, Deutschland, Nationalsozialismus, Rom, Trilogie des Scheiterns, Trilogien, Wiedergelesenes
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Michel Onfray: Anti Freud
1. August 2011Ich habe mich sehr schwer getan, zu diesem Buch etwas zu schreiben, auch überlegt, ob ich es nicht einfach stillschweigend übergehen sollte, da es ein sehr schlechtes Buch ist und ich die Lektüre nach 150 Seiten eingestellt habe, weil kein neuer, geschweige denn ein origineller Gedanke mehr zu erwarten war. Ich selbst bin als Fachmann für Arno Schmidt auch ein halber, vielleicht auch nur ein drittel Fachmann für Freud geworden, weshalb mich die Auseinandersetzung mit ihm immer noch interessiert, während mir der Rest der psychoanalytischen Literatur inzwischen weitgehend gleichgültig ist.
Um das Buch angemessen zu rezensieren, ist es leider notwendig, zuvor einige Sätze zu meiner eigenen Position in der Sache zu schreiben, damit man meine Kritik an Onfray nicht als ein Plädoyer für die Psychoanalyse missversteht. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist eine der bedeutendsten Begründungen einer Weltanschauung (um nicht Religion zu schreiben) des 20. Jahrhunderts. Das in ihr implizit und explizit zum Ausdruck kommende Menschenbild hat einen nicht zu unterschätzenden weltweiten Einfluss auf die Kulturentwicklung gehabt, und niemand kann hoffen, die Entwicklung der westlichen Kultur in den letzten gut 100 Jahren zu verstehen, wenn er diesen Einfluss zu ignorieren versucht. In Freuds Denken fokussieren sich bedeutende geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts: die Säkularisierung der Kultur, die Verbreitung atheistischen Denkens, der naive Glaube an die Erklärungsmächtigkeit rationaler Wissenschaft, das romantische Bewusstsein vom notwendig widersprüchlichen Charakter unseres Selbst und nicht zuletzt die Einsicht, dass es sich beim Bild vom Menschen als autarkem Herrn im eigenen Haus um eine weit verbreitete Selbsttäuschung handelt. Das Freudsche und in der Folge dann psychoanalytische Menschenbild im Allgemeinen hat das von Christentum und Humanismus geprägte der Neuzeit soweit gewandelt und aufgelöst, dass grundlegende Thesen der Psychoanalyse heute so weit zum selbstverständlichen und weitgehend popularisierten Grundbestand der westlichen Kultur gehören, dass sich selbst prinzipiell konkurrierende Glaubenssysteme (wie etwa das Christentum) dem anzupassen gezwungen sind.
Dies ist allerdings nicht der einzige Aspekt, unter dem die Psychoanalyse zu betrachten ist: Wie die meisten Weltanschauungen enthält auch die Psychoanalyse ein Heilsversprechen. In ihrem Fall ist dies erst sekundär ein gesellschaftliches oder soziales, primär ist es eines, das auf das Individuum zielt. Die Psychoanalyse versteht sich selbst in erster Linie als Therapie, und ihr wichtigstes Kriterium für die Richtigkeit des eigenen Menschen- und Weltbildes ist der therapeutische Erfolg. (Ob sich ein solcher nachweisen lässt oder nicht, ist eine so komplexe Frage, das sie hier nicht thematisiert werden kann.)
Dass es sich bei der Psychoanalyse nicht um eine Wissenschaft in dem Sinne handelt, wie sich dieser Begriff in den letzten beiden Jahrhunderten herausgemendelt hat, ist – auch entgegen den Ansprüchen einiger ihrer Adepten – offensichtlich und durch die Arbeiten von Wissenschaftstheoretikern wie Adolf Grünbaum hinreichend eindeutig nachgewiesen worden. Insbesondere die freie und freizügige Verwendung der logischen Negation, durch die in der psychoanalytischen Interpretation am Ende beinahe alles beinahe alles andere bedeuten kann, desavouiert die psychoanalytische Methode in den Augen empirischer Wissenschaftler. Im Gegensatz zu ihrem weit verbreiteten Selbstverständnis untersucht die Psychoanalyse nicht empirisch vorhandene Phänomene, sondern sie erzeugt wesentlich den Gegenstand ihrer Untersuchung im Vollzug dieser Untersuchung selbst. Sie ist daher – und bereits Sigmund Freud wusste dies sehr genau – eher eine historische als eine empirische Wissenschaft. Als Gegengewicht zu dieser sehr grundsätzlichen Kritik sollte man sich allerdings an die Einsicht des Aristoteles erinnern, dass von jeder Wissenschaft nur jener Grad von Genauigkeit erwartet werden sollte, den der behandelte Gegenstand tatsächlich hergibt (Nikomachische Ethik, 1094b).
Nach diesem ungewöhnlich langen Vorwort nun endlich zu Michel Onfrays Buch. Onfrays Kritik an Freud ist kein Versuch einer objektiven Einschätzung des wissenschaftlichen Anspruchs seiner Theorie oder ihrer Rolle in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Vielmehr handelt es sich um eine Polemik, die versucht, Freuds Person zu verleumden und dadurch seine Theorie zu entwerten. Zu diesem Zweck wiederholt Onfray etwa alle fünf Seiten seine Behauptung, dass Freud seine Theorie zum einen hauptsächlich bei Nietzsche abgeschrieben habe, zum anderen aus seiner persönlichen psychischen Disposition abgeleitet und verallgemeinert habe. Diese Verallgemeinerung sei unzulässig, da Freud dadurch von ihm als universell ausgegebene psychische Gesetzmäßigkeiten von einem einzigen, noch dazu seinem eigenen Fall ableite.
Diese beiden Behauptungen werden von Onfray mit großer rhetorischen Beharrlichkeit immer erneut abgewandelt. Zwischen diesen Wiederholungen des ewig Selben beschuldigt Onfray in der Hauptsache Anna Freud, Ernest Jones und Peter Gay der systematischen Legendenbildung im Fall Freuds. Dies alles wird in einem Ton vorgebracht, als würden hier große Neuigkeiten verkündet, was wahrscheinlich nur diejenigen Leser Onfrays überzeugen wird, auf die das Buch zielt. Jeder dagegen, der sich auch nur oberflächlich mit der Literatur zu Freud beschäftigt hat, weiß, dass der Einfluss der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und insbesondere Nietzsches auf Freud inzwischen breit dokumentiert und diskutiert wurde. Onfray rennt hier unter großem Gebrüll Türen ein, die bereits seit mehreren Jahrzehnten weit offen stehen.
Was die methodologische Kritik angeht, so bemerkt Onfray offenbar nicht (oder er will es nicht bemerken), dass seine Kritik gänzlich ins Leere geht: Zum einen hat Freud nie bestritten, dass er selbst und die Angehörigen seiner Familie bevorzugte Objekte seiner Studien waren, zum anderen ist es nicht verwunderlich, dass Freud allgemein gültige psychische Gesetzmäßigkeiten auch an sich selbst feststellen kann. Onfrays Argument folgt in etwa der Struktur, dass Newtons Gravitationsgesetz nicht gültig gewesen wäre, hätte Newton es bloß dadurch herausgefunden, dass er es an der Schwere seiner eigenen Person studiert hätte. Wollte Onfray tatsächlich nachweisen, dass hier ein Fehler vorliegt, so müsste er – wie dies andernorts durchaus fruchtbar praktiziert worden ist – zuerst auf empirischem oder logischem Weg nachweisen, dass die von Freud als allgemein gültig angesehen psychischen Gesetzmäßigkeiten diesem Anspruch nicht genügen, um dann Freuds Schluss von sich auf andere als Fehlschluss nachweisen zu können. Selbstverständlich macht sich der Philosoph Onfray die Mühe eines solchen Nachweises nicht, besonders auch weil dessen langwierige Erarbeitung und detaillierte Darstellung am Interesse seiner Zielgruppe gänzlich vorbeigehen würde.
Von der logischen Schwierigkeit, dass Onfrays Argument gegen Freud auf ihn selbst zurückschlägt und so seine Kritik Freuds als nichts anderes erscheinen muss als ein Ausfluss seiner – Onfrays – persönlichen psychischen Disposition, wollen wir hier ganz schweigen; ein beschämendes Bild mangelnder Reflexion für einen, der sich als Philosophen ausgibt. Bleibt nur noch festzuhalten, dass Onfray eine Diskussion des wichtigen Arguments, dass sich die Richtigkeit der psychoanalytischen Theorie letztlich nur an den Erfolgen bzw. Misserfolgen der therapeutischen Praxis entscheiden wird (eine Entscheidung, die noch lange nicht gefallen ist und wahrscheinlich auch erst fallen wird, wenn sie vollständig unerheblich geworden ist), in keiner einzigen Zeile auch nur versucht.
Insgesamt lässt sich das Buch völlig ausreichend beurteilen, wenn man einen Blick auf das Cover der deutschen Ausgabe wirft: Da hat ein frecher, kleiner Junge dem Papa Sigmund Hörner, eine Brille und eine herausgestreckte Zunge angemalt und eine Teufelsgabel in die Hand gedrückt. Man kann das witzig finden, aber es ist weder ein Argument gegen die Psychoanalyse, noch wird Freud auf diese Weise tatsächlich zum Teufel. Das Buch ist ein alberner und etwas kindischer Versuch Onfrays, mit einem seiner geistigen Väter abzurechnen – und es folgt damit so klassisch dem Freudschen Mythos vom Vatermord, dass es schon wieder lächerlich ist.
Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. München: Knaus, 2011. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,99 €.
Schlagwörter: Abgebrochene Lektüren, Kulturgeschichte, Polemik, Psychoanalyse, Sachbücher allg., Unfug
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