Archiv für September 2012

Herman Melville: Moby-Dick

30. September 2012
Gott bewahre mich davor, jemals etwas zu vollenden. Dieses ganze Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Oh, Zeit, Kraft, Geld und Geduld!

Ein Buch, bei dem sich ein Rezensent bestenfalls blamieren kann! »Moby-Dick« ist zu unterschiedlichen Zeiten so unterschiedlich bewertet worden, dass zu vermuten ist, dass zukünftige Generationen sich köstlich über unsere Unfähigkeit amüsieren werden, diesen Roman einzuordnen. Und wahrscheinlich werden sie auch damit Unrecht behalten.

Dieses Buch, von dem sich Melville merkwürdigerweise einiges erhofft hatte, war ein grandioser Misserfolg und das vorläufige Ende seiner Karriere als Schriftsteller. Es wurde wenig gekauft, durchweg schlecht besprochen und schließlich zum Abenteuer- und Jugendbuch umgeschrieben. Erst nachdem die Moderne die erzählerische Tradition des 19. Jahrhunderts kräftig durchmischt hatte, konnte »Moby-Dick« entdeckt werden als das literarische Wagnis, das es gewesen war: die Geschichte von einem, der auszog in einem Meer von Wörtern ein literarisches Monstrum zu erlegen.

Erzählt, das dürfte wenigstens aus dem Fernsehen bekannt sein, wird die Geschichte des Kapitäns Ahab, der versucht, Rache an einem Wal zu nehmen, der ihm auf der letzten Walfang-Fahrt einen Unterschenkel amputiert hat. Der Erzähler Ishmael lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Ahab um einen Wahnsinnigen handelt, der die Gemeinschaft an Bord des Walfängers Pequod auf einen irrationalen Rachefeldzug einschwört und sie auf diese Weise schließlich ins Verderben führt. Moby Dick (merkwürdigerweise schreibt Melville den Namen im Titel mit Bindestrich, im Text dann durchgehend ohne; auch dies ein ungehobenes Rätsel des Buches) wird nicht nur Ahab töten, er versenkt mit einem Rammstoß auch die Pequod mit Mann und Maus, und nur der Erzähler überlebt, auf einem Sarg treibend, die Katastrophe. Soweit im Groben die Abenteuergeschichte.

Für Melville und seinen Erzähler aber geht die Reise der Pequod weit über dieses Abenteuer hinaus: Nicht nur liefert Melville die erste panoramatische Darstellung der Walfangindustrie des 19. Jahrhunderts, nicht nur erhebt er den Anspruch, die cetologische Literatur seiner Zeit zu einer klärenden Gesamtschau zusammenzufassen, nicht nur will er aus seinem Walfänger die Bühne Shakespeares machen, die die Welt bedeutet, die Fahrt der Pequod in den Untergang ist ohne Zweifel auch eine spirituelle Reise zu den Abgründen des Menschen und seiner verzweifelten Stellung in der Welt. Und damit ist noch gar nicht von der Ebene der politischen Allegorie die Rede oder von der praktizierten Toleranz in Glaubens- und Rassefragen, die Mitte des 19. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war.

Das Buch ist sprachlich chaotisch und formal so unförmig, wie ein an Land gespülter Wal:

Den lebenden Wal in seiner ganzen Majestät und Bedeutung kriegt man nur auf See in unergründlich tiefen Gewässern zu Gesicht; und in schwimmendem Zustand ist der Großteil von ihm der Sicht vorenthalten wie bei einem vom Stapel gelassenen Linienschiff; und es ist eine Sache, die für den sterblichen Menschen auf ewig unmöglich bleibt, ihn aus jenem Element mit ganzem Leib in die Luft emporzuhieven und solchermaßen all seine mächtigen Ausbauchungen und wallenden Erhebungen festzuhalten.

Melville war sich im Klaren darüber, dass er ein Risiko lief, dass »Moby-Dick« ein Buch sein würde, wie es die Welt zwischen zwei Buchdeckeln noch nicht erblickt hatte. Er hoffte, dass wenigstens die fortschrittlicheren seiner Zeitgenossen ihm auf diesem Weg würden ein weniges folgen können. Doch er war ihnen in seiner Jagd nach dem, was der Literatur möglich sein könnte, zu weit voraus.

So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte welche ich Euch erzählt, Gentleman, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkt wahr. Ich weiß, daß sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich betrat das Schiff; ich kannte die Mannschaft […].

Es müssen noch ein paar Sätze zur Übersetzung gesagt werden: Bis vor acht Jahren lagen im Deutschen nur mehr oder weniger mangelhafte Übersetzungen des Buches vor, selbst wenn man einmal von den »für die heranreifende Jugend bearbeiteten« Ausgaben absieht. Die Übersetzer wussten es entweder besser als Melville, wie dieser Roman hätte geschrieben werden sollen, und griffen massiv in den Text ein, oder sie opferten zumindest auf dem Altar der Lesbarkeit und verflachten Melvilles vulkanische Sprache zu einer zumutbaren Einheitssauce, die sie zum halb verrotteten Wal servierten. Im Jahr 2004 erschienen dann gleich zwei Neu-Übersetzungen: die von Friedhelm Rathjen bei 2001 und die von Matthias Jendis bei Hanser (als Eröffnung einer Werkauswahl, die inzwischen ins Stocken geraten zu sein scheint). Der Text von Jendis verheimlichte nicht, dass es sich bei ihm um eine Bearbeitung der Rathjenschen Übersetzung handelte. Rathjen hatte seine Übersetzung nämlich im Auftrag des Hanser Verlages erstellt, doch der schließlich gefundene Herausgeber Daniel Göske war mit ihrer Radikalität nicht einverstanden. Nach langem Hin und Her einigten sich Übersetzer, Herausgeber und Verlag schließlich darauf, dass Friedhelm Rathjen die Rechte an seiner Fassung zurückerhalten und bei Hanser eine Bearbeitung dieser Übersetzung unter dem Namen des Bearbeiters erscheinen würde.

Im Endeffekt hat dies für den Leser den Vorteil, dass er sich seinen »Moby-Dick« heute aussuchen kann: Wer den ganzen Genuss des sprachlichen Abenteuers und der Gefahren und Stürme des Erzählens erleben will, greift zu Rathjens Text, wer seichtere und ruhigere Gewässer vorzieht, kauft die öligere Variante von Jendis. Wie sagte Friedhelm Rathjen jüngst bei anderer Gelegenheit so richtig: »Es gibt Bücher, von denen es gar nicht zu viele Übersetzungen geben kann.«

Herman Melville: Moby-Dick. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Fischer Tb. 90195. Frankfurt/M.: Fischer, 42012. Broschur, 927 Seiten. 12,50 €.

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Zum Tod von Herbert Rosendorfer

20. September 2012

Prinz Garibald zählte. Er zählte nicht Fliegen, Fenster, Autos oder was immer; er zählte abstrakt. Er hatte sich, als er achtzehn Jahre alt war, zur Lebensaufgabe gestellt, zu zählen. Das war 1922 gewesen. Er zählte manchmal laut, manchmal zählte er nur innerlich für sich; meist zählte er ganz leise und bewegte dabei ein wenig die Lippen. Aber immer zählte er gewissenhaft. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er, mit welcher Zahl er aufgehört hatte. Am nächsten Tag (genauer gesagt: am nächsten Werktag) fing er mit der darauffolgenden Zahl weiterzuzählen an. Er habe keine anderen Interessen und Neigungen, sagte der Prinz. Zum militärischen oder geistlichen Stand fühle er keine Berufung. Wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung langweile ihn. Die Jagd sei ihm zu unbequem. Das Zählen fülle ihn aus.

Herbert Rosendorfer
Deutsche Suite

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Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß

16. September 2012
Von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt gibt es nur einen kürzesten Weg, aber unendlich viele Umwege. Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämierung der Umwege.

Eine weitere Sammlung kurzer und kürzester Essays Hans Blumenbergs. Die meisten werden wohl für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben worden sein, doch leider fehlt dem Buch leider jeglicher Nachweis der Erstveröffentlichungen. Geordnet ist das Material recht locker in fünf Gruppen, die selbst wiederum nur auf einer sehr abstrakten Ebene miteinander zu tun haben. So beschäftigt sich das erste Kapitel mit Fällen von anekdotischer oder metaphorischer Seenot, das zweite widmet sich Problemen des Sinnverlustes, das dritte geht Redeweisen vom Grund und Boden nach, das vierte spricht von religiösen oder metaphysischen Weltordnungen und das letzte schließlich über die titelgebende Sorge.

Auch die Spannbreite der Reflexion ist breit: Von der nacherzählten und dann knapp konterkarierten Anekdote bis zur ebenso scharfen wie kurz angebundenen philosophischen Ohrfeige ist alles vertreten, fast immer auch für den philosophisch interessierten Laien mit Gewinn zu lesen. Manches gerät Blumenberg geradezu prophetisch:

Doch nein: unsere Zitierer […] würden gar nicht erst feststellen können, daß sie falsch zitiert  hätten. Das Zitat war schon falsch bei dem, nach dem sie zitiert hatten.

Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß. Bibliothek Suhrkamp 965. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. Pappband, Fadenheftung, 227 Seiten. 11,– €.

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Allen Lesern ins Stammbuch (53)

14. September 2012

Da das Lesen Mr. Pivner zufolge in jedem Fall eine ernst zu nehmende Beschäftigung war (und zwar das Lesen an sich, ganz gleich ob Werbung oder das Alte Testament), ersparte er sich den gefahrvollen Weg zur Erleuchtung und begab sich stattdessen auf den gut erleuchteten Pfad zur vollständigen Verblödung.

William Gaddis
Die Fälschung der Welt

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Michail Bulgakow: Meister und Margarita

13. September 2012

bulgakow_meisterMichail Bulgakow ist 1940 gestorben, so dass sein Werk zu Anfang des vergangenen Jahres gemeinfrei geworden ist. Nun legen Alexander Nitzberg und der Berliner Galiani Verlag, die mir zuletzt mit der inzwischen abgeschlossenen Ausgabe der Werke von Daniil Charms Vergnügen gemacht haben, eine Neuübersetzung von Bulgakows Hauptwerk »Meister und Margarita« vor. Da es noch nicht so sehr lange her ist, dass ich die alte Übersetzung von Thomas Reschke gelesen habe, habe ich mich bei der Neuausgabe vorerst auf Stichproben beschränkt.

Nitzbergs Übersetzung muss wohl als flott bezeichnet werden: Gleich aus den ersten drei grammatikalisch wohlgegliederten Sätzen Bulgakows macht Nitzberg ein parataktisches Prosageknatter von neun Sätzen, von denen einige nicht einmal ein Verb aufweisen können. Auf der zweiten Seite wird ein Satz des Dichters Besdomny dem Redakteur Berlioz zugeschustert. Bei jeder Gelegenheit wählt Nitzberg (im Vergleich zu Reschke) den knalligeren, lauteren, auffälligeren Ausdruck. In Ermangelung von nennenswerten Russischkenntnissen kann ich nicht beurteilen, wie weit Nitzbergs Entscheidungen vom Original gedeckt werden, aber ich habe den Verdacht, dass Bulgakow hier durch die Mühle eines Übersetzers gedreht wurde, der seinen Stil zuletzt auf einen Manieristen wie Charms eingerichtet und nicht ausreichend nachjustiert hat.

Den deutschen Leser muss nicht unbedingt interessieren, ob er eher eine Übersetzung oder eine Bearbeitung liest, wenn sich nur beim Lesen das erwartete Vergnügen einstellt. Und dafür ist Bulgakows »Meister und Margarita« allemal gut.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani 2012. Bedruckter Pappband, Leinenrücken, Lesebändchen, 604 Seiten. 29,99 €.

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Bonaventura bei SteglitzMind

12. September 2012

Gesine von Prittwitz betreibt neben anderen das Blog SteglitzMind, in dem sie derzeit eine ganze Reihe bibliophiler Blogger vorstellt. Heute ist Bonaventura dran, was den Nachtwächter natürlich freut.

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Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer

11. September 2012

blumenberg_schiffbruchSeit Ende der 50er Jahre hat Hans Blumenberg, wohl unter direktem Einfluss von Ernst Robert Curtius’ Topos-Konzept, seine Metaphorologie sowohl durch systematische Sammlung von Paradigmen als auch theoretisch entwickelt. Allerdings muss ihm bald vor dem sich abzeichnenden Umfang des Projektes gegraut haben, denn Ende der 70er Jahre plant er zusammen mit dem Suhrkamp Verlag, die Metaphorologie zuerst peu à peu in einzelnen Taschenbüchern erscheinen zu lassen und diese Teile erst nachträglich zusammenzuführen.

So erschien 1979 als erster Teil dieses Projekts das Bändchen »Schiffbruch mit Zuschauer«, das die von Lukrez geprägte Metapher von dem am sicheren Land stehenden stoischen Betrachter des Schiffbruchs der anderen im Meer der Welt durch diverse Wandlungen hindurch bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt. Ergänzt wird der historische Gang um einen Essay, der so etwas wie die Grundlegung einer Metaphorologie als Theorie der Unbegrifflichkeit liefert. Allein die verständige Lektüre dieser knapp 20 Seiten erspart einem die ganzer Kompendien.

So wird wiederum Wittgenstein die Philosophie als beruhend auf der Bevorzugung von Gleichnissen, ohne zureichende Begründung für deren Wahl, beschreiben. Auf der Bevorzugung gewisser Gleichnisse beruhe überhaupt ein viel größerer Teil der Gegensätze unter Menschen als es den Anschein habe.

Was den eigentlich historischen Gang der Entwicklung der Metapher angeht, so erweist sie sich als überaus geschmeidig und anpassungsfähig. Es wundert nicht, dass im 19. Jahrhundert der Glaube, es gäbe einen sicheren Standpunkt auf Land, von dem aus sich das katastrophische Geschehen in der Welt kontemplieren lasse, aufgegeben wird: Heine und Börne fahren gerade noch auf zwei Schiffen aneinander vorbei, und im 20. Jahrhundert bleibt gar nurmehr der Schiffbrüchige übrig, der sich nach dem Untergang an eine Planke klammert. Allerdings hegt er noch die Hoffnung, aus den umherschwimmenden Trümmern ein Floß, wenn nicht gar ein neues Schiff zimmern zu können. Mit welchem Werkzeug, fragt man sich unwillkürlich.

»Schiffbruch mit Zuschauer« war kein Erfolg, weswegen Blumenberg den Plan einer systematischen Fortsetzung aufatmend fallen lassen konnte. Er hat dann den gesammelten Stoff zu zahlreichen Zeitungsbeiträgen verarbeitet, die Suhrkamp wiederum zu ganz wundervollen Bändchen zusammengestellt hat.

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Bibliothek Suhrkamp 1263. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 22000. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 106 Seiten. 12,90 €.

(Eine kürzere Fassung dieser Besprechung ist auch in
der Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)

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Philip Roth und die biographische Wahrheit

10. September 2012

Philip Roth hat mit einem Brief im Blog des New Yorker einen Sturm im Wasserglas ausgelöst. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist folgender:

Roth hat unvorsichtigerweise den Artikel zu seinem Roman »The Human Stain« in der Wikipedia gelesen und anschließend einen Vermittler gebeten, die dort kolportierte Information, Roth sei zu dem Roman durch das Leben des New Yorker Autors Anatole Broyard inspiriert worden, zu löschen. Der Vermittler bekam von einem Administrator der Wikipedia die Antwort, man benötige mindestens eine zweite, unabhängige Quelle, um die entsprechende Änderung vorzunehmen.

Roth fühlte sich daraufhin als Autor seines eigenen Romans nicht ernst genommen und machte den Vorgang und den seiner Meinung nach im Wikipedia-Eintrag vorhandenen Fehler öffentlich; ein verständlicher Schritt, nachdem er auf direktem Weg nicht zum Ziel gekommen war. Statt eines Edit-Wars löste er damit die übliche Sturzflut hoch kompetenter Leserbriefe und Föjetong-Kommentare (vgl. auch hier) aus, was aus seiner Sicht wahrscheinlich nervenschonender ist.

Mir scheinen die meisten Kommentare allerdings das hier aufscheinende Problem nicht zu verstehen: Weder ist es zweckmäßig, den durchaus vernünftigen Grundsatz der Wikipedia nach zwei voneinander unabhängigen Quellen zu kritisieren, noch Philip Roth vorzuwerfen, er habe das Medium Wikipedia nicht verstanden und solle doch einfach eine zweite Quelle benennen und gut sei es.

In Frage steht die Quelle der Inspiration, für die der Autor auf Anhieb die einzige Autorität zu sein scheint. Wie soll ein Autor seine Inspiration von ihm selbst unabhängig belegen, da es sich offensichtlich um ein privates Ereignis in seinem Kopf handelt, über das, wenn überhaupt, nur er Auskunft geben kann. Und so wäre jede weitere Quelle durch ihn kontaminiert: Selbst wenn er nun jemanden anführen könnte, dem er Jahre vor Veröffentlichung des Buches erzählt hat, dies und das habe ihn auf die Idee gebracht oder zur Niederschrift inspiriert, so wäre dessen Zeugnis nur die Wiederholung der Selbstauslegung des Autors. Angesichts dieser Lage ist es verständlich, dass Roth die Nachfrage nach einer zweiten Quelle als eine Verhöhnung seiner ausgezeichneten Stellung im Prozess der Werkentstehung empfindet und entsprechend pikiert reagiert.

Auf der anderen Seite zeigt die Erfahrung der Literaturwissenschaftler, dass Autoren in autobiographischen Fragen nur bedingt zu trauen ist: Zu sehr ist es den meisten Autoren zur zweiten Natur geworden, Ereignisse, Gedanken, Charakterzüge zu variieren und fiktionalisieren, dass es den meisten, je länger sie das Geschäft beitreiben, um so schwerer fällt, bei den schlichten biographischen Wahrheiten zu verharren und sie nicht zur Literarisierung und Stilisierung der eigenen Person zu verwenden. So lässt auch Roth’ wortreiche und offenbar emotional fundierte Abwehr der Idee, »The Human Stain« sei vom Leben Anatole Broyards inspiriert, zumindest den Verdacht aufkommen, dass Roth eine vergleichbar falsche Information, die auf einen beliebigen anderen Literaten rekurriert hätte, vielleicht mit einem Schulterzucken und einem Lächeln zur Kenntnis genommen oder gar als Verwirrung stiftende Fehldeutung ironisch begrüßt hätte.

Besonders merkwürdig aber wird der Fall, so meine ich, gerade dadurch, dass es um den Roman »The Human Stain« geht, ein Buch, dessen Protagonist zu Unrecht des Rassismus verdächtigt wird und dabei selbst ein negativer Rassist ist, nämlich ein solcher, der die Vorurteile der weißen Welt gegen seine Hautfarbe dadurch umgeht, dass er sich erfolgreich für einen jüdischen Weißen ausgibt. Coleman Silk ist ein Musterbeispiel für jemanden, dessen gesamtes Leben eine anpasserische Lüge an eine falsche Welt ist. Roth ist der Letzte, der ihm das zum Vorwurf macht, denn wie jeder intelligente Schriftsteller weiß er um die Gebrechlichkeit der irdenen Einrichtungen und die Um- und Schleichwege, zu denen die Menschen darum gezwungen sind.

Von daher gibt es neben der geradlinigen und naiven Lektüre des Briefes von Roth noch eine weitere: Nämlich die, dass der Anteil des Lebens von Anatole Broyard an der Inspiration zum Roman weit größer ist, als Roth es eingestehen möchte und dass seine wortreiche Abwehr dieser Tatsache gerade der fehlende, unabhängige Beleg dafür ist, dass das von Roth Bestrittene stimmt; und dass Roth dies weiß und es gerade dadurch eingesteht, dass er es bestreitet. Das zumindest wäre Roth und »The Human Stain« angemessen.

Was aber die Wikipedia dann damit machen sollte, bleibt völlig unerfindlich …

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