Geschrieben am 17. Oktober 2017 von für Crimemag, Interview

Interview: Ulrich Noller spricht mit Thomas Wörtche über Politik & Verbrechen in der Kriminalliteratur

„Es gibt keinen unschuldigen Kriminalroman.“

Wie politisch ist die Kriminalliteratur? Wie sieht es in Deutschland aus? Was können Politkrimis – was sollen sie? Welche Antworten können Politthriller in postfaktischen Zeiten (nicht) liefern? Und wie kommt´s, dass in Sachen Politik die Realität hierzulande derzeit so viel kreativer ist als die Fiktion? Darüber hat Ulrich Noller am Abend der Bundestagswahl, direkt zur ersten Hochrechnung, mit Thomas Wörtche gesprochen.

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Noller: Politik und Verbrechen in der Kriminalliteratur: Wie politisch ist das Verbrechen?

Wörtche: Das Verbrechen ist immer politisch. Denn Verbrechen hängt immer von der Gesellschaft ab, die bestimmtes Verhalten als Verbrechen definiert. Und Gesellschaften sind nun mal politische Veranstaltungen.

Wie spiegelt sich das im Krimigenre?

In der Kriminalliteratur sieht man sehr wohl, welche Verbrechen für eine Gesellschaft wichtig sind: Die, die behandelt werden – oder die, die nicht behandelt werden bzw. nur am Rande vorkommen.

Wie sieht´s mit dem Rätselkrimi aus?

Auch das schlichte Mordrätsel ist natürlich politisch, weil es Mord auf etwas reduziert, was man anscheinend spielerisch bearbeiten kann. Es sollte einem zu denken geben, dass der Quelltext von Kriminalliteratur, nämlich „Die Morde in der Rue Morgue“ von Edgar Allan Poe, sich schon genau darüber lustig macht: dass der Täter, wenn man schon rumspielt, auch ein Affe sein kann.

Welche Verbrechen sind in unserer Gesellschaft auf welche Weise wichtig, wenn man von der Krimiproduktion ausgeht?

Wenn man die Großproduktion der Kriminalliteratur nimmt, sind anscheinend private Verbrechen wichtig, also: Wer hat Onkel Tobi umgebracht? Oder völlig überzeichnete, wie Serialkiller und ähnliches Gelichter. Die scheinen sehr wichtig zu sein, obwohl sie bloß einen minimalen Bruchteil der Kriminalstatistik ausmachen. Dadurch, dass sie so wichtig sind, sind andere nicht so wichtig – und das ist wiederum das Politische daran.

Also die Verharmlosung der Arten von Verbrechen, die nicht gezeigt werden …

Auch der deutsche Fernsehkrimi und ähnliche Großnarrative weisen Verbrechen ja bestimmte Bezirke zu. Das heißt: München-Grünwald oder die deutsche Kleinfamilie oder der Nachbarschaftskrieg oder was auch immer. Oder es wird etwas ganz Wunderbares erfunden namens „Die dunkle Seite der Gesellschaft“ – irgendwelche Gangstermilieus, die es so, wie sie in diesen Krimis auftauchen, sowieso nicht gibt. Die sind dann abgekupfert von amerikanischen Vorbildern oder weiß der Teufel woher. Ist ja auch interessant, dass es in Deutschland kaum autochthone Gangsterromane gibt. Und da, wo es interessant wäre, wo das organisierte Verbrechen weit hineinreicht in die Politik, in die Wirtschaft – da möchte man, glaube ich, im deutschen Kriminalroman zur Zeit noch zu wenig drüber erzählen.

Wie erklärt sich das?

Das hat damit zu tun, dass man den Zusammenhang von Kriminalliteratur und Gesellschaft in diesem Land noch nicht ganz kapiert hat. Man ahnt ihn schon – aber man möchte ihn nicht thematisieren. Kriminalliteratur wird als „Grimmi“ verstanden, wie ich das nenne: Geschichten, die in schöner Natur stattfinden, nette Kommissare haben, in überschaubarer Zeit „aufgeklärt“ sind, oft mit fragwürdigem „Humor“ und viel Klamauk, bisschen Heimat mit drin usw. Da gibt’s eine große Kluft zu dem, was eigentlich interessanter wäre.

Das wirklich relevante Verbrechen wird also sogar ausgespart?

Es wird zumindest reduziert – und etwas unterkomplex dargestellt. Einfache Lösungen, einfache Weltbilder müssen her.

Und wie wäre es realistischer?

Ich möchte mich nicht in die Arbeit der Autoren einmischen, aber mir würden da schon einige Sachen einfallen. Man könnte sich die Polizei viel genauer angucken. Diese Polizeifrömmigkeit des deutschen Krimis ist natürlich auch politisch, dass der Kommissar, auch wenn er leicht verschroben ist, und seine Assistentin, auch wenn sie leicht verschroben ist, dann im Grunde doch wieder am guten Ende basteln. Da könnte man ganz andere Sachen machen.

So wie es in anderen Ländern der Fall ist …

Ganze Kriminationen, wie zur Zeit etwa die Australier, leben zum Beispiel mit einer sehr radikalen Polizeikritik, die zugleich auch eine sehr gemeine Gesellschaftskritik ist, weil sie auf die Ordnungsmächte und auf die Funktionen von „Aufklärung“, von Polizeiarbeit in diesen Gesellschaften zielen. Also, da sehe ich in Deutschland noch großen Handlungsbedarf.

Ist das ein singulär deutsches Phänomen?

Eine gewisse Polizeifrömmigkeit gibt’s überall. In den USA zum Beispiel. Allerdings gibt’s da auch immer Brechungen. Und diese Brechungen haben in Deutschland einfach nicht oder eher selten stattgefunden. Es gibt natürlich good cops in den USA, zum Teil unerträglich ideologische good cops, da muss man bloß CSI gucken. Aber es gab immer schon den Gegendiskurs in den USA, eben die bad cops. Und in anderen Gesellschaften sind „gute Polizisten“ gar nicht vorstellbar. Die Vorstellung, dass in türkischen Krimistoffen nette Polizisten auftauchen – darauf kommen nur deutsche Autoren, die Kriminalromane schreiben, die in Istanbul spielen. Das ist schon hart am Zynismus. Auch in südamerikanischen oder südafrikanischen Gesellschaften ist es kaum vorstellbar, blütenweiße Cops zu haben, eigentlich undenkbar. Und der französische Krimi, der Polar, hat das schon seit den dreißiger Jahren kapiert, dass es auf die Grauwerte ankommt.

Jetzt gehst du natürlich ganz schön hart ins Gericht mit dem deutschen Krimi …

Natürlich gibt’s immer Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Grundsätzlich. Aber das sind nicht so viele. Wenn man sich den Krimi-Mainstream anschaut, dann ist die Ausnahme eine sehr, sehr dünne Schicht. Die allerdings auch beeindruckende Texte hervorgebracht hat.

Ein Teil des Problems ist die Fixierung auf den staatstragenden Ermittler, der am Schluss die Ordnung wieder herstellt, oder?

Der Ermittler ist eine merkwürdige Figur. Weil er immer erstmal auf der „guten“ Seite sitzt, auf der Aufklärungs-Seite. Diese ganzen hochproblematischen Freaks, die die Amerikaner oder die Franzosen haben, diese totale Verwischung von legal/illegal und von allen anderen Grenzen – die gibt’s hier wirklich seltener. Vielleicht wird sich das ein bisschen ändern in nächster Zeit – weil das Lesepublikum möglicherweise die Schnauze ein bisschen gestrichen voll hat von diesen immer gleichen Narrativen, die immer gleich reproduziert werden.

Also, ich fasse mal zusammen: Krimi ist immer politisch, auch wenn das gar nicht beabsichtigt ist. Inwiefern kann ein Kriminalroman demgegenüber dezidiert politisch sein?

Dann natürlich, wenn die Inhalte direkt politische Verhältnisse reflektieren, ganz schlicht und einfach. Kriminalliteratur ist politisch, wenn sie ein politisches Thema hat. Das Interessante daran ist, dass dieses „Politischsein“ von Krimi sich nicht nur an diesen Themen abarbeitet. Politisch ist vor allem auch die Machart. Die Politik steckt in den Perspektiven: Wer erzählt was? Welche Figuren kommen vor? In welche Köpfe dürfen wir rein blicken – in welche nicht? Das Politische steckt da meist eher im Minusverfahren, in dem was sehr laut nicht vorkommt. Und natürlich auch in Themen, die auf den ersten Blick nicht politisch sind – da, wo Geschlechterverhältnisse geregelt werden, wo ethnische Verhältnisse debattiert werden uswusf. Das spielt in jeder auch noch so „kleinen“ Geschichte eine Rolle, wo sich politische Verhältnisse möglicherweise zwar nicht direkt spiegeln, aber doch mitspielen, wo sie Kombattanten sind, wo sie nicht nur Hintergrund oder nur Kulisse sind. Da ist der Kriminalroman politisch – und das ist er eigentlich schon immer.

Jeder Kriminalroman ist politisch – entscheidend ist also die Frage, wie das inszeniert wird?

Jeder Kriminalroman ist politisch, genau, das ist meine These. Es gibt keinen unschuldigen Kriminalroman. Selbst jeder Gemüsekrimi ist irgendwo politisch, denn da geht’s ja auch um dieselben Dinge, irgendein Verbrechen, und sei es noch albern. Selbst die Verblödung des Sujets Kriminalroman auf Gemüsekrimi, Kakerlakenkrimi, Schweinekrimi oder Schildkrötenkrimi ist natürlich insofern politisch, als dass man meint, dass man dieses Narrativ um Leben und Tod auf Dööfelebene runterziehen könnte. Kann man natürlich – ist aber politisch.

Weil die politisch wichtigen Themen damit nicht bloß ausgeblendet, sondern verdeckt werden?

Es gehen einem relevantere Dinge am Arsch vorbei, um das so krass zu sagen. Man meint, dass die Themen, die im Kriminalroman verhandelt werden, und das sind nun mal die letzten Dinge, auch Metaphysisches, wie Leben/Tod/gewaltsamer Tod – die könne man einfach so verdödeln. Das ist ein politisches Statement: Es kommt ja nicht drauf an, Hauptsache wir amüsieren uns. Wir amüsieren uns mit Tod zu Tode.

Gut – aber: Warum nicht? Spricht ja erstmal nichts dagegen, sich zu amüsieren, oder?

Nein, klar. Um ein mögliches Missverständnis direkt aus dem Weg zu räumen: Es geht auf gar keinen Fall um die Frage, das darf man nicht, das ist zu heilig. Das darf man schon. Aber zwischen Rumspielen und total Banalisieren und Trivialisieren ist ein großer Unterschied. Rumspielen kann man natürlich. Man kann das alles komisch sehen, man kann es in die Groteske kippen, man kann das mit sehr viel Witz machen – aber nicht mit „Witzischkeit“. Man kann das komisch, aber nicht „luschtisch“ machen. Es gibt keine Tabus, was man darf oder nicht darf. Es gibt nur die Tendenz, aus diesem Thema – so Kleingeld zu machen. Ich meine – ist okay. Kann jeder machen. Wer sich da dran freut, der soll sich dran freuen. Nur: Mit Kriminalliteratur hat das wenig zu tun.

Ist jedenfalls eine Form von Eskapismus, oder?

Eskapismus ist ein ganz großes Problem. Naja, eigentlich ja nicht, es gibt schöne eskapistische Aktivitäten, den Kölner Dom aus Streichhölzern nachbauen oder so, das ist völlig okay. Aber den Eskapismus, den ich hier meine, findet entweder in diesen Verblödelungsformen statt – oder er sucht sich was ganz, ganz Furchtbares, und das ist eben der Serialkiller. Oder der omnipotente Serialkiller, der immer noch weiter, schneller, höher kann. Alles das sind Abwehrmechanismen für wirklichen Realitäten. Und: Man sucht immer neue Tabubrüche – obwohl die Grenzen eigentlich längst schon erreicht sind. Kinderschänder, neuerdings Tiere-Schänder. Ich weiß nicht, was jetzt noch kommen soll, auch Zoonekrophilie gibt es sicher schon. Auf jeden Fall ist das ziemlich mühsam, sich immer neue Gruseleien auszudenken. Und die sind im Prinzip natürlich reine Geisterbahn, kein Mensch gruselt sich tatsächlich – Hauptsache, man ist für eine Zeit lang mit den wirklichen Realitäten nicht konfrontiert.

Blut, Gewalt und Wahnsinn als Ablenkung vom Alltag, also?

Es sind komischerweise viele Frauen, die Krimibienchen in den Krimikörbchen, die am liebsten so ein Zeug lesen. Ich kann mir dieses Phänomen nur als reine Abwehrhaltung erklären, weil es den Blick von sich selbst und vom eigenen (Nah-)Umfeld wegzieht. Das soll es alles nicht geben – in der netten kleinen, aber doch als prekär empfundenen Mittelstandsexistenz. Ich denke, das kommt manchmal nahe dran an so eine Art literarischen AfD-ismus. Die Popularität davon hat auch damit zu tun, dass die Realität zu komplex und zu undurchschaubar ist, dass sie zu unklar ist in der Werteordnung. Das heißt: Hier haben wir so eine Art literarischer Ressentiments, die sich sehr erfolgreich gütlich tun an den einfachen Narrativen mit dem bösen Psychopathen und dem guten Polizisten. Je größer, je ungeheuerlicher die Gefahr, desto mehr sind wir bereit, demokratische Standards aufzugeben, wenn nur Rettung versprochen wird. Siehe „Sicherheitspolitik“, „Innere Sicherheit“ und so weiter …

Komplexität hat´s im wahrsten Sinne des Wortes nicht einfach im deutschen Krimi, oder?

Ich finde, dass Komplexität etwas sehr, sehr Schönes ist, weil sie unfasslich viele Bezüge, Räume, Gedankenspiele, Visionen und Halluzinationen aufmacht, was auch immer man so halt braucht, kreativ. Das Problem mit Komplexionen ist, dass sie sich dem einfachen Sinn eher widersetzen und ihm widerstreben. Und anscheinend mag ja der Mensch nichts so sehr wie die Überzeugung, irgendwo in einem sinnhaft geordneten Universum zu leben. Das gilt für die ganz großen Fragen: Wer ist der Mensch, wo kommt er her, wo geht er hin? Wie ist das mit der Geschichte, wo läuft sie hin? Aber es ist eben auch im Alltag so, dass man lieber klare Werte- und Sinnstrukturen hat – und möglicherweise nicht unbedingt mit der Frage gequält wird, was die menschliche Existenz doch für ein kontingentes Ding ist. Das ist für viele anscheinend schlecht aushaltbar.

Also: Vereinfachung, um Sinn zu finden?

In einer wirklich unüberschaubar komplexen Welt – und sie ist es nun mal, leider, sie war´s schon immer – hätte man doch gerne was Einfaches, wo man sich drauf verlassen kann, wo man sich entspannen kann, wo man weiß, dass alles gut wird. Also alle diese Dinge, die halt leider sehr illusionär sind. Aber: Statt die Chance zu erkennen, dass man mit dem Zeug auch rumspielen kann, dass das eine Triebfeder von Kreativität sein kann, stattdessen möchte man dann doch die einfache Formel durchspielen. Immer wieder und nochmal und nochmal. Und daraus leitet sich dann im Kriminalroman auch das berühmte „Industrieformat“ Krimi ab. Das finde ich ein bisschen schade, weil so eine selbstverschuldete kreative Unmündigkeit entsteht, auch auf der Publikumsseite.

Na ja, nicht jeder will sich die ganze Zeit mit Komplexionen, wie du es nennst, überhäuft werden …

Natürlich, kann ich verstehen, klar. Nur: Wenn man das als Bedrohung empfindet und nicht also Chance, dann entstehen die Sachen, die wir haben: Industrieformate.

Welche Rolle spielt für „politische“ Kriminalliteratur denn die Ästhetik?

Die Ästhetik eines Kriminalromans spielt im Grunde genommen die entscheidende Rolle. Und wenn man es genau anguckt, ist die Ästhetik sogar das eigentlich Politische daran. Nehmen wir dieses grundsätzliche Schema „Mordfall-Ermittlung-Aufklärung“. Das ist politisch. Und es ist ästhetisch. Weil es ästhetisch die Inszenierung vorgibt. Wenn diese Inszenierung gestört ist, wenn also diese Trias zum Beispiel zertrümmert wird – es gibt keinen richtigen, klaren „Fall“ mehr, die Aufklärung ist fragwürdig, das Verbrechen ist undurchsichtig – und das auch so inszeniert ist – also nicht mit: der Kommissar betritt den Raum, es wird verhandelt, es wird verhört, es wird ein bisschen rumgerannt und dann wird der Mörder verhaftet – wenn das also ästhetisch raffinierter gemacht ist – wenn das die Möglichkeiten von Sprache ausschöpft, die Möglichkeiten von linearem und nicht linearem Erzählen, von polyphonem Erzählen, die Möglichkeiten sind ja fast unendlich, die wir haben – dann steckt möglicherweise das Politische in der Ästhetik.

Es geht also darum, ganz neu – und anders zu erzählen, neue Formen zu finden?

Was auf jeden Fall nichts mit Politik zu tun hat und schon gar nicht mit Ästhetik, ist das einfache Umbesetzen von alten Mustern mit neuen Inhalten. Der berühmte alte Wein in neuen Schläuchen, das bewirkt gar nichts, der Wein wird abscheulich bleiben. Das heißt: Es ist nicht sehr politisch, wenn der Kommissar zur Kommissarin wird – und am Ende der Fall entweder feministisch, linkspolitisch, rechtspolitisch, machomäßig oder wie auch immer aufgeklärt wird – so lange dieses Skelett „Mordfall-Aufklärung“ stehen bleibt. Daraus wird, wenn sich die Form nicht ändert, nicht wirklich was Neues. Es wird die Leiche nur neu geschminkt. Und das ist ästhetisch nicht sehr befriedigend. Also muss eine neue Ästhetik her – wenn man schon neue Sachen versucht. Wir müssen neue Erzählformen entwickeln, darum geht’s. Und die deutsche Produktion hängt da ebenso wie die Diskussion in Deutschland doch etwas hinterher – weil sie so tut, als ob das Standardmodell von Krimi immer noch verbindlich wäre.

Verkauft sich aber gut, so heißt es immer, wenn man das anspricht.

Ja, meine Güte: Florian Silbereisen ist auch markttechnisch relevant. Aber kein Mensch würde ernsthaft, wenn es um Musik geht, mit solchen Beispielen kommen. Das finde ich immer so verwunderlich: Wir wissen doch, dass es schon seit 60, 70 Jahren – weltweit – auch ganz andere Modelle gegeben hat und sie weiter gibt. Also, im Krimi. Ist ein merkwürdiger Diskurs, der so tut, als ob´s das nie gegeben hätte. Natürlich gibt’s das – und auch mit großem Erfolg. Das spiegelt sich aber nicht unbedingt in reinen Verkaufszahlen auf dem Markt wieder. Aber das passiert auf keinem Gebiet von Kunst. Die Auflage einer CD von DJ Ötzi hat das zigfache wie die weltweite Auflage des Gesamtwerks von Billie Holiday – darüber muss man mal nachdenken, um die Relationen ins Lot zu bringen.

Kann man daraus nun schließen, dass es so eine U-Literatur/E-Literatur auch innerhalb des Genrebereichs gibt?

Das ist das Perverse, dass sich genau diese Struktur in genau dem Genre wiederholt, das angetreten ist, genau das abzubauen. Nicht die alten U-E-Gräben, die einfach wieder aufgerissen werden, sondern neue U-E-Gräben. Die sind einfach da. Da können wir nicht so tun, also ob dieses Phänomen nicht gäbe. Man kann jedenfalls diesen inhaltlichen Diskurs nicht nur über die Popularitätszahlen führen.

Heißt das, dass man in Kauf nehmen muss, nicht viel Geld damit zu verdienen, wenn man explizit politische Kriminalliteratur schreibt?

Kommt drauf an, auf welcher Ebene man die Politik ansetzt. Tom Clancy zum Beispiel hat enorm politische Romane geschrieben und damit sehr, sehr viel Geld verdient. Die haben aber natürlich eine gewisse politische Richtung. Nicht subversiv – sondern stramm patriotisch. Damit kann man wohl Geld verdienen. Wir dürfen ja nicht so tun, als ob „politisch“ nur „links“ wäre. Politisch kann ja auch rechts sein. Es gibt zwar wenig explizit rechte Autoren von Kriminalliteratur, aber wo es sie gibt, da sind sie sehr erfolgreich. Fortschrittliche Autoren haben immer ein bisschen weniger verkauft. Das Konservative hat anscheinend die höheren Absatzzahlen. Aber natürlich kann man auch subversive Bestseller schreiben. Ross Thomas ist nicht verhungert, Eric Ambler auch nicht.

Wir leben ja in „postfaktischen“ Zeiten, wie man so sagt. Was bedeutet das für die politische Kriminalliteratur?

Der klassische Politthriller hat die Faktizität des Faktischen schon immer zersetzt und zerätzt. Er hat das allerdings nicht getan, um eine Gegenbildlichkeit zu etablieren. Die postfaktischen Zeiten versuchen ja, auf Grund von Fake News oder von “alternativen Fakten“, andere, schlichte Gegenbilder zu etablieren. Und da, wo die Abteilung, die Subversion betreibt, mit Gegenbildlichkeit aufwartet, wird’s gruselig. Das bedeutet es natürlich auch für Kriminalliteratur im postfaktischen Zeitalter: Natürlich ist es sehr sinnvoll, offizielle Verlautbarungen oder offizielle Konsense oder offizielle Ideologien anzugreifen und sie zu zersetzen und sich darüber lustig zu machen, sie vorzuführen, sie auseinander zu reißen. Der zweite Schritt darf dann allerdings nicht passieren – und das ist, aus diesen zersetzten Splittern selbst wieder ein ganz anderes und widersinniges, auch wieder in sich konsistentes und dann auch bescheuertes und beklopptes Gegenkonzept zusammen zu montieren. Das ist ja das, was das postfaktische Denken tut. Also Trumpismus, Verschwörungstheorie etc.

Genau genommen ist doch aber der Politthriller genau das richtige Modell für diese Zeiten, oder?

Der Politthriller ist im Grunde die Königsklasse der Kriminalliteratur. Da muss man sich auskennen, um vernünftig zu schreiben, man muss eine gewisse Welterfahrung haben, man muss rum gekommen sein, man muss Relevanzen einschätzen können, man kann damit sehr, sehr viel sehr schönen Unfug treiben, man kann damit sehr schön Verwirrung stiften, und man kann da wirklich die großen Gesellschaftsmodelle durcheinanderwirbeln – der Politthriller ist im Grunde das Spannendste, was es auf diesem Gebiet gibt.

Kein Feld für angepasste Denker …

Es ist erstaunlich, wie viele intelligente Köpfe sich da tummeln. International. Man kann darüber nachdenken, ob die deutsche Kriminalliteratur möglicherweise nicht genug valide intellektuelle Köpfe hat, um wirklich durchschlagskräftig zu werden. Natürlich gibt’s welche bei uns, und zwar ganz eminente, klar – aber die Diskurshoheit haben sie (noch) nicht. Während britische oder französische Zeitungen voll sind von Kommentaren von Schriftstellern, und das sind nicht umsonst oft Autoren von Politthrillern. Politthrillerautoren und endlich auch zunehmend Autorinnen, das ist jetzt ein Erfahrungswert, sind meistens sehr, sehr kluge Köpfe.

Kann das alles auch damit zu tun haben, dass hierzulande eigentlich kaum grundlegende Diskurse geführt werden darüber, was Krimi will und soll?

Die Kriminalliteratur ist in den öffentlichen Diskursräumen wieder in die Randspalte zurückgefallen. Das war schon mal anders, ist aber lange her. Es gibt nur sehr wenige Plätze, um nicht tagesaktuell über Kriminalliteratur nachzudenken. Und es gibt hier einen kriminalliterarischen Betrieb, dessen Albernheit und Läppischkeit dazu führt, dass ich niemand übelnehmen kann, der sagt, er möchte mit Krimi nichts zu tun haben. Denn es ist wirklich albern, was da abgezogen wird – mit diesen Tourismus-Festivals zum Beispiel, der „Eventzirkus“ und so weiter, die ganzen grottigen TV-Serien. Diese ganzen albernen, was weiß ich, Lesungen im Dessousladen und so weiter. Wer soll so was ernst nehmen? Und wer soll Leute ernst nehmen, die bei solchem Zeug sich komische Hütchen aufsetzen und fröhlich mit grölen? Und das hat nicht mit „soll doch zum Lachen in den Keller gehen“ zu tun – sondern damit, dass da ein Potential gar nicht ausgefaltet wird, das sicher vorhanden wäre. Aber ich kann auch diesen Reflex verstehen, dass Leute sagen: Wenn das Krimi ist, will ich mit Krimi nichts zu tun haben. Das hat alles so eine Banalisierungs- und Verdödelungstendenz, die vernünftige Diskurse eigentlich kaum möglich macht.

Es gibt aber auch niemanden, der solch einen Diskurs mal anstoßen oder einen Anstoß an sich reißen würde, oder?

In anderen Ländern hätten wir zum Beispiel Blogger für so etwas. Nun mag das ein historischer Zufall sein, dass wir in dem Bereich – bis auf die Leute, die sowieso professionell mit Kriminalliteratur zu tun und ihre Blogs haben – eigentlich eher engagierte Amateure haben. Die sind begeistert von irgendwelchen Titeln oder entdecken auch mal einen „unbekannten“ Autor wie Eric Ambler neu oder erklären sich gegenseitig das Verlagswesen,  das ist dann manchmal schon sehr lustig. Aber grundsätzlich ist das natürlich schön, Austausch ist ja immer schön, aber gefühlige Begeisterung oder lediglich behauptetes Wissen produzieren nicht unbedingt neue Erkenntnisse. Zumal manche Blogs nur untereinander kommunizieren: A findet B ganz toll und C findet B ganz toll und B A auch. Da gibt’s Berührungsängste, was seriösen Diskurs angeht. Und es kursieren so Gartenlaubenvorstellungen von Kriminalliteratur, da mag man etwas komplexere Vorstellungen halt nicht so. Das ist ein kulturelles Umfeld, das irgendwelchen Diskursen nicht gut tut, auch weil dort viele Diskurse gar nicht bekannt sind, resp. verkürzt ankommen Das liegt aber nicht an dem Medium Blog, das sehr sinnvoll sein kann. Nochmal für die Akten: Blogs als Ort von Austausch von Leseerfahrungen und als Artikulationsort von Emphase oder Abscheu sind ersprießliche Institute. Natürlich kann man sie auch als epistemologische Datenbanken lesen, ähnlich wie Amazon-Besprechungen oder als eine Art „Marktforschung“. Ich mag Blogs, wenn sie sich ausdrücklich dem Austausch von Leseerfahrungen widmen, gerne auch roh, ungefiltert, rotzig, radikalsubjektiv.

Also: Mehr Mut zum Hintergrund, zur Reflexion?

Wie schon oben gesagt, in den „Leitmedien“, insofern sie Print sind, ist die Kriminalliteratur wieder in Kolumnen und Randspalten angekommen – oder manchmal erfreulicherweise in „Specials“, die aber eben auch vom „normalen“ Diskurs abgetrennt sind, so als ob Kriminalliteratur eine Monade sei. Eine Ausnahme bildet übrigens das Radio, da sind auch längere Formate möglich, die sich nicht auf Neuheiten beschränken. Und dann gibt es ja noch das CrimeMag … Aber natürlich stecken dahinter auch ganz klare literaturpolitische Verteilungskämpfe. Und die sind, wie das Wort schon sagt, politisch. Das alles gilt ausdrücklich für die Diskursebene. Daneben gibt es immer noch die uralte Diskussion, ob Blogs oder Amazon-Kritiken Bücher verkaufen oder beschädigen können. Die Erfahrung zeigt: Man kann auch gegen fiese Amazon-Kritiken sehr viele Bücher verkaufen und Blogs können keine Bücher „verhindern“ – das Lesepublikum ist ein schwer bis unmöglich ausrechenbares Völkchen. Es macht sowieso, was es will. Beratungskompetente Buchhandlungen etwa haben auf jeden Fall eher einen messbaren Impact. Sorry für die Abschweifung.

Lass uns noch über Realität und Fiktion sprechen, Stichwort NSU-Affäre. Kann es sein, dass die Realität kreativer ist als die Fiktion in Deutschland?

Man muss sich schon anstrengen als Fiktionsschreiber, um mit der Dreistigkeit der Vorgänge um NSU auf Augenhöhe zu sein, das muss ich wirklich sagen. Selbst hart gesottene Zyniker hätten nicht gedacht, dass unsere Sicherheitsbehörden so weit gehen würden. Sehr schön finde ich jetzt die Aktensperre von 140 Jahren. Das Schreddern von Akten, das offensichtlich als völlig normal angesehen wird. Und so weiter. Überhaupt, diese gruselige Idee, dass Opfer erstmal zu Tätern gemacht werden … Das hat eine Qualität, da müsste schon ein diabolisches Hirn am Werk gewesen sein, um sich das auszudenken – und in dieser Konsequenz auch durchzuziehen bis in die höchsten Kreise. Plus: Ob sich das hätte jemand ausmalen können, diese Indolenz, diese Gleichgültigkeit, die in diesem Volk gegenüber diesen Vorgängen herrscht! Dieses: Ja, hm, hmmpf – weiter geht’s. Wie hat der BVB gespielt? DAS finde ich schon interessant, ja. Und interessant finde ich, dass manche Romane, die sich damit beschäftigen, hinter diesen ganzen systemischen Ungeheuerlichkeiten noch übergeschnapptere Verschwörungsideen anbieten, die dann wiederum gegenaufklärerisch werden. Manchmal ist die Realität dann doch bizarrer.

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