Miles Davis
Sommer 1970. Es war heiß, sehr heiß. Irgendein Sender – vermutlich der damalige Südwestfunk – spielte eine Musik, die mich wie eine Dampframme traf. Ich wusste nicht, was das war oder wie man das nennen sollte, aber es war anders. Da liefen elegante lange Linien, die aus dem Nichts zu kommen schienen, mal langsam, dann wieder schneller werdend, fast aus dem off, da war nichts von Thema – Solo – Thema – Solo, da pulste ein Rock-Rhythmus und dann waren da die lakonischen, elektronisch modulierten Trompeten-Einwürfe und ein seltsames, knurrendes Instrument (Bennie Maupins Bassklarinette), die E-Pianos bissen zu, scharf wie Metallkanten. Ein kristalliner Eisbach, anscheinend format-los, bis er in den nächsten Fluss überging, auch wenn der einen anderen Titel hatte. Eine Epiphanie, ein Flash, Staunen und Wundern.
Mit Jazz war ich schon ein bisschen angefixt, hatte eher zufällig Lionel Hampton live gehört und Errol Garner und Oscar Peterson und ja, der Name Miles Davis sagte mir was, aber nix Genaues, so irgendwie auf der Ebene Benny Goodman oder Louis Armstrong. Mit 16 hat man noch kein Archiv (auch kein inneres), keine Systematik, kein wirkliches Wissen und vor allem niemanden, mit dem man sowas bereden konnte. Mit einer Ausnahme: Mein Schulfreund Martin Seel, der genauso nach seiner Musik suchte, was immerhin dazu führte, dass wir heute noch so reden wie damals, als wir unglaubliche Massen an Musik in uns reingesaugt haben. Die Welt war noch so neu und aufregend. Das galt nicht nur für Jazz, da hing von Anfang an Literatur mit dran und Film, aber das ist eine andere Geschichte. Oder auch nicht.
Der Rest meiner Freunde und Freundinnen fand so eine Art von Musik (überhaupt „Jazz“) irgendwie spinnert, komisches Gequäke, zu dem man nicht richtig tanzen kann und überhaupt … Wer sowas hörte, war irgendwie suspekt. Und tatsächlich, als ich ein bisschen später, stockverliebt, einer Angebeteten die „Sketches of Spain“ (um meine ach so romantische, aber dennoch so grüblerisch-exquisite Seelenlage zu unterstreichen) schenkte, holte ich mir einen üblen Korb, weil sie meinte, wer so was hört, sei ihr nun wirklich zu heavy. Mit „Kind of Blue“ konnte ich dann allerdings wieder alles gut machen. (In dem interessant gescheiterten Bio-Pic von Don Cheadle, „Miles Ahead“, fragt Miles Davis die Freundin seines Dealers, der ihm Koks gegen Autogramme verkauft, zu welcher seiner Platten sie am meisten vögeln. Raten Sie mal.)
Vielleicht steckt in all dem der Grund, warum ich nie wirklich etwas über Miles Davis geschrieben habe, auch in den 25 Jahren als Rezensent fürs „Jazz Podium“ nicht. Immer wieder auf ihn hingewiesen, in andere Argumentationen eingebaut, angedeutet – ja. Aber tatsächlich was Substantielles zu sagen versucht, never ever. Obwohl doch so ziemlich alles von Miles Davis die Musik ist, die ich seit diesem heißen Sommertag bis heute, jetzt in diesem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, am häufigsten gehört habe und höre, ohne Auszeiten, ohne größere Unterbrechungen. Electric Miles funktioniert besonders gut an klirrend kalten Tage, die Prestige-Blue-Note-Periode immer zum Arbeiten, vor allem, wenn alles so glatt läuft wie der „Bemsha Swing“. Ich kann Wetterfühligkeit mit Miles Davis in den Griff kriegen (und hämte nicht Teddy über Leute, die zum Autowaschen Mozart hören?). Nur ganz auf dem flachen Land, da geht Miles Davis nicht, aber da geht überhaupt keine Musik, nur Radiogedudel. Aber das gehört nicht hierher.
Heute besitze ich ein ziemlich großes MD-Archiv, Platten, CDs, Bücher, Bilder, Plakate, Filme und so weiter. Ich spule mich über Fehleinschätzungen, über doofe Profilierungsversuche oder andere Funktionalisierungen, suhle mich in Devotionalien und merke, dass ich immer noch nichts „daraus machen“ will. Selbst jetzt nicht.
Die Scheu steckt tiefer. Mit kaltem Blick auf mich könnte man vielleicht sagen: An Miles Davis hängen ganze Assoziationscluster, mit denen ich nichts zu tun haben will (was wiederum eine Art von Distinktionsgewinn sein könnte): „Pseudointellektuell“ ist ein gerne genommenes Schlagwort, „elevated light music“, „mood music“, dazu die Emphase des Pullunder-tragenden Studienrats, der gerne „einen guten Rotwein aufmacht“, sich das Pfeiflein stopft und dazu beiträgt, dass Jazz die „dauerhaft am meisten erklärte Musik“ ist, wie Gerald Early maliziös anmerkte, eben für die „cultural cognoscenti“ (das sind so etwas wie „Krimikenner“, in dieses unfasslich abscheuliche Sprachspiel gehören noch „freche Dessous“, „knackiger Salat“, „mit Humor gewürzt“, das pronominale „welche“ und „schmunzeln“). Genau suspekt ist mir das Hantieren mit Begriffen wie „cool“ – jaja, Miles Davis ist cool, schicke Autos, schicke Klamotten, schicke Frauen, mit dem Rücken zum Publikum und was alles noch so aus den Satzbaukästen quillt. Rezeptionen können einem schon die Freude und den Spaß verderben, vor allem wenn man dazu neigt, einen verehrten Gegenstand ganz für sich alleine haben zu wollen und die Deutungshoheit gleich mit. Ansonsten ist man beleidigt, dass andere mit ihren unegalen Pfoten am Objekt der Obsession herumpatschen. Und wenn ich beleidigt bin, halte ich den Rand. (Kommt nämlich nix dabei heraus – zum Tod von Miles Davis 1991 brachte der SPIEGEL einen – zumindest in meiner Erinnerung – eher schäbigen Nachruf von Jürg Laederach, so mit dem Tenor: Der konnte noch nicht mal Trompete spielen – darauf tippte ich meinen ersten und einzigen Leserbrief wutglühend in die Tasten. Er wurde nicht gedruckt. Also lieber Schnauze.)
Und ja, natürlich ist Miles Davis ein Klassiker, das muss man nicht erklären, das können andere auch viel besser und haben es sicher ein paar tausend Mal getan. Wer ein paarmal der Musikgeschichte einen neuen Dreh gibt, ist ein Klassiker, was sonst. Also kann es nicht um noch eine Exegese gehen.
Musik spielt eine Rolle, wenn sie Teil von irgendwas ist, was man gerade am Wickel hat, wenn sie zu irgendwas passt. Zu einem Lebensgefühl, zu einer Beziehung, zu einer Stimmung. Leonard Cohen, zum Beispiel, den ich als junger Mensch eher für eine weitere unnütze Variante eines Typs mit Gitarre hielt, der sowas von sensibel die Mädels in die Kiste schluchzt (naja, seine Jünger kamen mir auch so vor, was, siehe oben, natürlich die reine Selbstgerechtigkeit oder Futterneid war), in den letzten Jahren, wenn die eigene Sterblichkeit irgendwann dann eher manifest wird, hört man das alles ganz anders. Jimi Hendrix war und ist der virtuose Exzess und Exzess geht nur manchmal; tragisch, dass er und MD nie eine Platte zusammen gemacht haben, was eigentlich nur logisch gewesen wäre. Oder Billie Holiday, der stimmgewordene Liebeskummer – oder Bessie Smith: wir Außenseiter (meine Güte, aber so war das …). Bei Miles Davis gab´s diese Perioden nicht. Als ich ihn zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, das ist etwas, mit was ich länger zu tun haben werde. In der Ahnung und der Faszination stecken schon so viele Sache, für die es vermutlich ein ganzes Leben braucht, bis man sie ausfalten oder kapieren kann – bis dahin tappt man instinktiv so vor sich hin.
Jo, die Musik zu Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ von 1959, zum Beispiel. Klassiker, klar. Fünfzehntausendmal für Film- und Fernsehmusiken (noch für den blödesten „Tatort“) kopiert, immer noch Soundblaupause der feinsten Trompeter (Paolo Fresu, Tomasz Stańko et al), geklont von Chet Baker, Echos davon überall (gerade noch mal bemerkt im Music Score von Lalo Schifrin für Peter Yates´ „Bullitt“, und, einen Tag später, die Bass und Besen-Passagen in Jean-Pierre Melvilles „Vier im Roten Kreis“) wobei man natürlich das besonders hartnäckig und auf allen Kanälen zu hören bekommt, über was man gerade nachdenkt. Miles Davis ist überall, als Echo, Zitat, Splitter.
Und als ich in einem besonders schäbigen Zimmer mit Ausblick auf einen Werksparkplatz wohnte und immer wieder die alte Fontana-Scheibe mit der Fahrstuhl-Musik hörte (diese 18 Minuten mit dem dazu gemischten Hall, auf der Rückseite war Art Blakeys Score zu „Les femmes disparraisant“) und dabei auf den regennassen Asphalt glotzte oder später in einer schicken Berliner Altbauwohnung stundenlang am Fenster stand und – Lebenskrise – die Nacht anbrüllte und draußen der Verkehr auf der regennassen Straße zischte (natürlich im November, so wie es auch jetzt kein Zufall ist, dass ich zufällig im November darüber schreibe) …, naja, Sie wissen schon. Über´m Parkplatz (nicht in Berlin, sondern in Bochum) stellte ich mir genau das vor: Ich wollte, wenn schon elegisch, in Berlin in einer Altbauwohnung sitzen und „Fahrstuhl“ hören und mich wenigstens in der dazu passenden Umgebung scheußlich fühlen, je suis snob. Was das Elend nicht besser machte.
Aber da hätte ich schon sagen können, was der über alles geschätzte Peter Niklas Wilson damals vermutlich schon formuliert hatte: Dem Gesamtpaket „Fahrstuhl zum Schafott“ ist es gelungen „dem Jazz die Semantik von Urbanität, Ausweglosigkeit, Verbrechen aufzuprägen“. Genau die Semantik nebenbei, die die Kulturwächter (alles Echos gegen Adorno) dem Jazz gerade wegschrubben wollten.
Eine lebenslange Symbiose geht aber dann doch nicht in reiner Gefühligkeit auf. Es ist vermutlich kindisch zu sagen, etwas Warmes braucht der Mensch und meine Wärmedecke heißt Miles Davis, und an die lass ich niemand ran. Würde eh nicht stimmen, weil ich – ich bin ja keine fensterlose Monade – auch sehe, was für ein Bündel an Widersprüchen er war, ein kratzbürstiger Stinkstiefel, wenn´s sein musste Zuhälter, mies zu Frauen, aggro, naja, kein netter Typ. Aber wer ist das schon? Kuschelig ist nicht zu haben bei Miles Davis, und alberne Posen sind auch nicht so dolle. Vieles erklärt sich über den Kontext, die Zeit, die Politik, den Rassismus – aber vieles auch nicht. Ich suche auch kein Identifikationsobjekt. Schon gar nicht in der Person. Und seine Musik „liebe ich“ nicht. Ich liebe ein paar Menschen, keine Artefakte.
Das Faszinosum Miles Davis liegt woanders. In der sich allmählich aufbauenden Erkenntnis, dass vieles viel mehr miteinander zu tun hat, als man denkt (oder nicht denkt), und dass vieles über eine Art Pivot miteinander verbunden ist. Diese Verbindungen sind da, im Grunde sogar evident, aber sie sind schwer systematisierbar oder zu belegen. Sie gehen auch nicht in der poststrukturalistischen Rhizomatik auf, sie liegen eher auf dem komplizierten Feld der Synästhesie. Es gab 2009 in der Kunsthalle Wien eine spannende Ausstellung namens „Fahrstuhl zum Schafott“, die versuchte, die Musik von Miles Davis, Dashiell Hammett, die einschlägigen Filme von John Huston, die Fotos von Weegee und die Objekte von Banks Violette zusammenzudenken. Aber schon allein diese Klammerung, obwohl sie vieles instinktiv richtig sieht, versucht daraus eine multimediale „Systematik“ von Noir zu bündeln. Und das ist too much. Mein gedachter Miles-Davis-Pivot kreiselt schneller, assoziativer. Aspekte scheinen auf und verschwinden wieder aus dem Blick, bevor sie anderswo in anderen Konstellationen wieder aufblitzen. Sie sitzen irgendwo im kulturellen subterranean stream of consciousness, (und eben nicht im psychologischen Unterbewusstsein). Sie scheuen Formen – und da sind wir wieder bei den 18 Minuten Musik, fraktalisiert, improvisiert, sie sind keine Funktionsmusik, sie illustrieren Louis Malles Film nicht, der dennoch ohne die Musik nur ein nicht sehr guter, eher problematischer Film wäre. Und damit bildet die Fahrstuhl-Musik, neben einer Menge Konsequenzen für eine musikinternen Logik, eine Schnittstelle etwa zu einer möglichen Poetologie von Kriminalliteratur, bei der die ästhetische Inszenierung und deren Wirkung wichtiger ist als der „saubere, solide Plot“ (eine Lieblingsphantasie literarischer Buchhalter), der Kreativität nur im endlichen Raum von Schema und Variation zulässt – wobei kurz wieder „Bitches Brew“ aufblitzt, wo die Musik fließt, im Grunde unendlich und nur auf der Schallplatte zeitlich begrenzt. Dabei scheint auch ein Aspekt auf, der für den Film Noir wichtig ist, eben die Dominanz von Ästhetik, die, nebenläufig und sogar gegen den Plot, die eigentliche Substanz, die Stimmung und eine bestimmte künstlerische Aneignung von Welt ausdrückt, so wie die Fotos von Weegee die Musik von Miles Davis anscheinend hörbar machen, weil sie einfach passt. Aber dieses „passen“, lässt sich nicht belegen, dennoch ist es wahr. Es wahrzunehmen mag radikal subjektiv sein, dennoch gewinnt es eine Objektivität, gerade weil man es oft anscheinend reflexhaft, aber zwingend zusammendenkt. Die Collage „You´re Under Arrest“ auf dem gleichnamigen Album, die Musik zu dem Noir „Hot Spot“ (der ohne MD, John Lee Hooker und Taj Mahal auch nur ein mittelmäßiger Film wäre), die Trompete als Messer in „Solea“ (schließlich hat der Flamenco gewalttätige Komponenten), das sind alles Haken und Vektoren, die in viele Richtungen laufen – nicht nur in ästhetische, multimediale, sondern auch in politische und soziale. Wir lagen als Jungs gar nicht so weit daneben.
Es gibt Millionen und Abermillionen von Menschen, die ohne Miles Davis leben (können). Ich kann es nicht. Das adelt mich nicht, sondern wirft höchstens die Frage auf, ob ich ohne MD so denken würde, wie ich es nun mal mache (was nicht heißt, dass ich wie Miles Davis denken will oder in seinen Kategorien denke, das wäre absurd) und wie vermittelt dieser Prozess auch sein mag. Er hat zumindest einen Anteil von Nicht-Optionalem. Ist es Zufall, dass ich zum Beispiel mit der Spiritualität von John Coltrane (den ich als Musiker natürlich hoch schätze) weniger anfangen kann, als mit der mir näherliegenden offensiven Nicht-Spiritualität von MD? Hat Miles Davis nur etwas getroffen, was da sowieso in mir rumlungerte? Oder hat das Dauerhören (und später Dauernachdenken) etwas geändert? Wenn mich Coltrane wie ein Blitz getroffen hätte, wäre ich ein spiritueller Mensch geworden? Wie würde ich dann heute denken? Sie merken, ich kondensiere, so monokausal ist natürlich gar nichts. Bleibt aber dennoch die Frage nach der Zufälligkeit der intellektuellen Sozialisation und deren Folgen, die man sowieso erst ex post abschätzen kann – wenn auch dann immer noch lediglich vage. Das Blöde am Sterben und tot Sein ist ja, dass man hinterher nicht mehr darüber raisonnieren kann.
Ich glaube, diese Frage interessiert mich mehr als die „Identifikationsangebote“, die sowohl die Musik als auch der Mensch Miles Davis versprechen: Das letztlich Unrubrizierbare, das programmatisch Diverse, das Zwischen-allen-Stühlen-sitzen, das bis zum Scheitern Radikale, das ständig Innovative, das Nicht-Gemeinschaftsfähige. Auch das sind zwar alles – völlig richtig und wichtig – Vektoren, die MD in manchen Aspekten mit ähnlich gelagerten Figuren und ästhetischen Programmen verbindet, von Baudelaire bis Thomas Bernhard (um´s mal zu überdehnen). Das sind zwar sehr sinnvolle Konstruktionen, die intellektuelles Vergnügen bereiten und epistemologischen Zugewinn verschaffen, ein erfreuliches methodisches und systematisches Surplus, das sich aus der Beschäftigung mit derlei schrägen Dingen ergibt, aber ganz letztendlich ist mir das schon wieder viel zu konsistent. Weshalb ich immer noch nicht über Miles Davis schreiben will und kann.
Thomas Wörtche, Literaturkritiker, Publizist und Herausgeber internationaler Kriminalliteratur (Reihe „Metro“ bei Unions Verlag, Suhrkamp), lebt in Berlin.