Aufruhr, Gewalt und Komik – Über Chester Himes
Ein weißer, halbnackter Man wird tot in einem Rotlichtbezirk gefunden. Ein afroamerikanischer Mann wurde gesehen, wie er vom Tatort rannte. In einem Schaufenster wird per Annonce eine ‚fruchtbare, gottesfürchtige Frau’ gesucht. Und ein blinder Mann sitzt mit einer Pistole in einer U-Bahn. Willkommen in Chester Himes’ Harlem.
Diese Männer begegnen einem in „Blind Man with a Pistol“, dem letzten vollendeten Roman aus Chester Himes’ Harlem Cycle, eine Reihe, die weitaus mehr ist afroamerikanische Detektivromane. Sie ist ein Klassiker der amerikanischen (Kriminal)Literatur. Ihren Anfang nahm sie im Jahr 1957 bei einer Begegnung von Chester Himes und Marcel Duhamel, bei Gallimard Herausgeber der série noire. Himes hatte den USA aufgrund des Rassismus und seines vergeblichen Versuchs, als afroamerikanischer Autor Fuß in der weißen literarischen Welt zu fassen, den Rücken gekehrt und ist dem Beispiel seines Freundes Richard Wright gefolgt und nach Frankreich gegangen. Dort schlug ihm nun Duhamel vor, einen Detektivroman zu schreiben. Chester Himes brauchte – wie immer – Geld und machte sich an die Arbeit: Im selben Jahr erschien „For Love of Imabelle“, später bekannt unter „A Rage of Harlem“ oder wie es hierzulande heißt „Die Geldmacher von Harlem“. In diesem Buch gibt es nach ungefähr 50 Seiten den ersten Auftritt seines Hauptfiguren-Duos Gravedigger Jones und Coffin Ed Johnson. Ihre Beschreibung wird sich – abgesehen von Coffin Eds Gesicht, das in diesem Buch teilweise von Säure verätzt wird – nicht ändern: Sie sind große, durchschnittliche, sehr schwarze Männer. Weniger durchschnittlich sind ihre Pistolen, sie haben lange 38er, extra für sie angefertigt. Und mit ihnen haben sie auf den Straßen von Harlem das Sagen.
Alltäglicher Rassismus
In den folgenden Romanen bekommen sie es anfangs mit recht typischen hardboiled plots zu tun: Es geht meistens um Betrügereien, die früher oder später in der Regel in mehreren Morden enden. Diese ersten Bände sind es, die Chester Himes zu dem Autor machen, dem immer wieder zugeschrieben wird, er habe Afroamerikaner in das zutiefst weiße hardboiled gebracht hat, die eben nicht nur Karikaturen sind wie bei Chandler. Aber Chester Himes macht sehr viel mehr. Das beginnt bereits mit seinen Hauptfiguren. Gravedigger und Coffin Ed sind keine Einzelgänger, wie man sie von Chandler oder Hammett kennt, weiße Männer, die ein wenig außerhalb des Gesetzes stehen und diese hartgesottene Männlichkeit verkörpern, die immer angehimmelt wird. Sie sind Partner, sie sind ein Team – deshalb erzählt Himes auch nicht aus der Ich-Perspektive, sondern gibt Einblicke von außen und in Nebenfiguren. Zudem sind sie keinen privaten Ermittler, sondern Polizisten. Dadurch werden sie doppelte Außenseiter: Aufgrund ihrer Hautfarbe innerhalb der mehrheitlich weißen Polizei, wegen ihres Jobs im schwarzen Harlem. Das ist die Absurdität ihres Lebens: Sie vertreten die Gesetze des weißen Mannes und werden gleichzeitig von ihm diskriminiert und angefeindet. Dahinter steckt natürlich die bittere Realität dieser Zeit – und immer noch der heutigen Zeit. Oder wie es Gravedigger in „Blind Man with a Pistol“ angesichts der Beschimpfung eines jungen Schwarzen, sie seien „Uncle Tom cops“ und stünden auf der Seite der Weißen, erwidert: „Go home and grow up. You’ll find there ain’t no other side”.
Zu der Lebensrealität in Himes’ Harlem gehört als zweites wesentliches Element Gewalt. Gravedigger und Coffin Ed müssen Gewalt ausüben, um Gewalt zu verhindern, das verweist zugleich darauf, dass Gewalt und Verbrechen strukturierende Elemente in der Gesellschaft der USA sind. Gerade die Geschichte der Afroamerikaner in den USA ist von Unterdrückung geprägt, die mittels Gewalt sichergestellt wurde und immer noch wird. Doch das hat Folgen: Am Ende von „Blind Man with a Pistol“ geht aufgrund einer Kette von Missverständnissen eine Riesenscheißerei los, jedoch wird gar nicht mehr versucht, eine Ordnung herzustellen. In Himes’ Harlem gibt es keinen einzelnen Verbrecher mehr, keine Fälle, die konsequent aufgeklärt werden, keine Gerechtigkeit, die wiederhergestellt wird, sondern lediglich die Folgen eines institutionalisierten Rassismus.
Zudem ist Gewalt für Chester Himes der Weg, der die Afro-Amerikaner aus dieser Unterdrückung herausholen kann, sie ist Motor des sozialen und gesellschaftlichen Wandels. Aber nicht planlose Gewalt wie in „Blind Man With a Pistol“, sondern organisierte Gewalt – wie in dem dem letzten, unvollendeten Roman des Harlem Cycle, „Plan B“. Hier bekommen afroamerikanische Männer in Harlem Gewehre zugeschickt, mit einer Karte, die besagt, sie sollen nicht zu Polizei gehen und abwarten, bis sie eine Nachricht erhalten. Aber natürlich geht das nicht gut, es kommt zu spontanen Gewaltausbrüchen, die die Weißen nicht verstehen – und die Situation bis zur Ausweglosigkeit verschlimmern.
Absurdität als bestimmendes Element
In einer seiner Autobiographien hat Chester Himes geschrieben, dass die Realität und das Absurde im Leben der schwarzen Amerikaner so nahe beieinanderliegen, dass man den Unterschied nicht mehr erkennen könne. In seinen Romanen bringt er diese Absurdität zum Ausdruck, indem er ein wirkungsmächtiges Mittel einsetzt: Komik. Es ist die bittere, absurde, schmerzliche Komik, die es ermöglicht, von einer rassistischen Gesellschaft zu erzählen und die ihr zugrundeliegenden Ideologien zu entlarven, ohne sie zu reproduzieren. Sie erlebt Mehrdeutigkeiten, sie erlaubt Widersprüche und Wut. Sie macht Chester Himes’ Harlem Cycle zu großer Literatur. Deshalb gibt es in seinen Kriminalroman einen kopflosen Motorradfahrer, der durch eine kalte Winternacht fährt und dessen Kopf vor einer Kirche landet (Thema der nächsten Predigt: Beware! Death is closer than you think!) und dessen Körper in der Tür eines Juwelierladens endet, der mit „We will give credit to the Dead“ wirbt („All Shot Up“). Deshalb entpuppen sich Nonnen als männliche Betrüger, deshalb antwortet Coffin Ed in „Plan B“ auf die Frage, was er tun würden, um einen Aufstand zu verhindern: „Ich würde ihnen bessere Wohnungen geben, (…), bessere Schulen, höhere Löhnen …“. Das ist natürlich nicht die Antwort, die erwartet wird von seinen weißen Vorgesetzen. Manchmal gibt es keine Antworten, sondern nur die sinnlose Realität und Absurdität der Gegenwart. Chester Himes wusste das.
Und deshalb endet „Blind Man With A Pistol“ mit einem perfekten Dialog:
An hour later Lieutenant Anderson had Grave Digger on the radio-phone. „Can’t you men stop that riot?“ he demanded.
“It’s out of hand, boss,“ Grave Digger said.
“All right, I’ll call for reinforcements. What started it?“
– „A blind man with a pistol.“ –
“What’s that?“
– „You heard me, boss.“
– „That don’t make any sense.“ –
“Sure don’t.“
Der Harlem Zyklus
(1957) Die Geldmacher von Harlem, Zürich, 1999;
(1958) Heiße Nacht für kühle Killer, Zürich, 1999;
(1959) Fenstersturz in Harlem, Zürich, 1998;
(1959) Der Traum vom großen Geld, Zürich, 2000;
(1959) Lauf Mann, lauf, Zürich, 1998; (1960) Harlem dreht durch, Reinbek, 1976;
(1961) Heroin für Harlem, Reinbek, 1968;
(1964) Schwarzes Geld für weiße Gauner, Reinbek, 1967;
(1969) Blind mit einer Pistole, Reinbek, 1970;
(1993) Plan B, Zürich, 2000.
Sonja Hartl, freie Journalistin mit den Schwerpunkten Film und Kriminalliteratur (zeilenkino.de), lebt in Berlin.