Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Véronique Olmi: Nummer sechs

Schicksal und Geschichte

Die französische Dramatikerin Véronique Olmi will in dem schmalen Prosawerk Nummer sechs zu viel – trotz beeindruckender lyrischer Intermezzi bleibt ihre Geschichte blass.

In Meeresrand, der ersten Erzählung Véronique Olmis, steht eine tragische, ausweglose Reise ans Meer im Mittelpunkt – und auch das zweite Prosawerk der französischen Dramatikerin setzt mit einer nur scheinbar idyllischen Strandszene ein: Die Familie Delbast macht, wie jedes Jahr, mit allen sechs Kindern Urlaub an der See. Doch als man beschließt, ein Familienfoto zu machen, fällt auf, dass die Jüngste, Fanny, verschwunden ist. Der Blickwinkel wechselt, Fanny beginnt, selbst zu erzählen, schildert, wie sie ins Meer hineingegangen, „umgesunken“ ist – bevor sie vom Vater gerettet wird.

Diese Szene hat sich in ferner Vergangenheit abgespielt. Mittlerweile ist der Vater ein Pflegefall und Fanny hat nun die Rolle des Beschützers übernommen. Fanny erzählt von der undankbaren Rolle, die sie als Nachzüglerin in der Familie eingenommen hat. Die ältesten Geschwister schon fast aus dem Haus, der jüngste Bruder bereits zehn, kommt Fanny auf die Welt. Da ist der Vater bereits fünfzig und jetzt, als sie ihre Geschichte erzählt, hat sie dieses Alter erreicht. Die Pflege des hundertjährigen Greises ist ihr Versuch, jene Liebe und Anerkennung zu erhalten, die er ihr stets vorenthielt.

Kampf um Liebe und Anerkennung

Véronique Olmi lässt Fanny in einfachen, kurzen Sätzen erzählen, schnörkellos und geradlinig, doch stets höchst emotional. Und dennoch ist ihre Erzählung allzu voll gestopft mit Klischees. Da ist die Einsamkeit des nachgeborenen Kindes, der Kampf um Respekt und Anerkennung. Da ist der gefühllos erscheinende Patriarch. Da sind die Briefe des Vaters von der Front des Ersten Weltkriegs. Da ist der Granatsplitter, der in seinem Kopf steckt, und der Bruder, der im Schützengraben geblieben ist. Da ist seine reglose Mitwisserschaft während des Zweiten Weltkriegs. Da ist sein unterschwelliger Fremdenhass, seine Bewunderung für das Kolonialwesen. Da ist die Altersdemenz, die ihn vergessen lässt, dass seine Frau schon seit Jahren tot ist.

Olmi will ein wenig zu viel auf diesen kaum hundert Seiten. Die Verknüpfung privater Schicksale mit den Zeitläufen wirkt zum Teil allzu aufgesetzt. Bei all der Überfrachtung kann ihr eine wirkliche Charakterzeichnung ihrer Protagonisten nicht gelingen. Trotz einiger beeindruckender, beinahe lyrischer Passagen bleibt die Erzählung letztlich farblos.

Frank Schorneck

Véronique Olmi: Nummer sechs. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Antje Kunstmann 2003. Gebunden. 99 Seiten. 14,90 Euro. ISBN 3-88897-338-4