Bücher, kurz serviert
Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Klaus Kamberger (KK), Alf Mayer (AM), Ulrich Noller (UN) und Thomas Wörtche (TW) über …
Rachid Benzine: Der Zorn der Feiglinge
Lawrence Block: Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper
Oliver Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens
Tom Franklin: Smonk
Robert Harris: München
Abo Iaschaghaschwili: Royal Mary
Alexander Pechmann: Sieben Lichter
William Shaw: Der gute Mörder
Rex Stout: Zu viele Köche
Brigitte und Hans-Jürgen Tast: Kulleraugen – Visuelle Kommunikation
Gary Victor: Der Blutchor
Sonne und Schatten
(AM) Es geschieht nicht oft, dass ich konzedieren würde (oder müsste), dass eine deutsche Buchausgabe das amerikanische Original übertrifft und schöner ist, dafür haben die US-Verlage generell einen höheren Gestaltungs- und Ausstattungsstandard, das bessere, säurefestere Papier, das bessere Typografieverständnis, vom rauhen Buchschnitt und der Anmutung, dass ein Buch aus Bögen besteht, zu schweigen. (Siehe auch das Gespräch von Thriller-Autor Andreas Pflüger und Typomanen & Gestalter Erik Spiekermann in dieser CrimeMag-Ausgabe.) Nighthawks aber gelingt dieses Kunststück, und die Empfehlung dafür geht ganz klar in Richtung Weihnachtsgeschenk. Alleine schon die Idee ist grandios: 17 Gemälde von Edward Hopper als Inspiration für 17 Kurzgeschichten. Mit dabei: Megan Abbott, Stephen King, Michael Connelly, Lee Child, Joe R. Lansdale, Jefferey Deaver und Joyce Carol Oates, aber auch Gail Levin, die Hopper-Biografin, mit ihrem ersten Stück Fiktion über eine wenig bekannte Episode gegen Lebensende des Malers.
Die Kurzgeschichte „Herbst im Automatenrestaurant“ (Autumn at the Automat) von Herausgeber Lawrence Block, die dann noch auch einen Edgar gewann, war bereits im Februar 2017 in CrimeMag nachzulesen, im Original. Jetzt wäre das eine schöne Parallellektüre zum sehr gediegen ausgestatteten Buch, schon das weißere Papier ist der US-Ausgabe überlegen, und Übersetzerin Frauke Czwikla hat gute Arbeit geleistet. Die Frau am Kinoausgang, die Frau alleine am Fenster auf Cape Cod, die nackte Tänzerin auf der Bühne, die drei Personen in der Hotellobby, der weiße Clown am Restauranttisch, der Mann alleine an der Bar, das voneinander abgewandte Paar in einem Zimmer, immer wieder Hotelzimmer oder Blicke in Fenster – die Geschichten dieses Buches oszillieren zwischen Sonne und Schatten, und sie zeigen, welch eine Kraft die Inspiration sein kann.
In den USA ist bereits ein Folgeband erschienen: Altmeister Larry Block (der stramm auf die 80 zugeht und dem Sie auch in unserem Jahresrückblick begegnen werden) hat erneut 17 Autoren Stories über ein Gemälde ihrer Wahl schreiben lassen: Malthus ist dabei, Dalí, Hieronymus Bosch, Hokusai, die Höhlenmalereien von Lascaux, Norman Rockwell und René Magritte. Titel: Alive in Shape and Color. Doch zunächst erst einmal auf zu Edward Hopper. Ein schönes Buch!
Lawrence Block: Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper (In Sunlight and Shadow. Stories Inspired by the Paintings of Edward Hopper, 2016). Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Czwikla. Hardcover, mit Farbabbildungen. Droemer Verlag, München 2917. 320 Seiten, 29,99 Euro. Verlagsinformationen.
Literarisches Meisterwerk
(TW) Smonk von Tom Franklin ist, was das production design betrifft, eine Orgie, ein Exzess an Blut, Exkrementen und Körperflüssigkeiten, ein Schlachthaus, ein Bedlam an Gemeinheit, Gewalt, Debilität, Rassismus, Sexismus, Bigotterie und kreischendem Wahnsinn. O.E. Smonk, die titelstiftende, aber den Roman nicht alleine dominierende Figur, ist ein lokaler Tyrann in Alabama, 1911. Widerwärtig, krank, das wandelnde Faustrecht, ein mörderisches und schänderisches Monster tritt er die Handlung los, als er sich weigert, ein Gerichtsverfahren gegen sich zu akzeptieren. Stattdessen legt er mit seinen Spießgesellen eine ganze Kleinstadt in Trümmer und Asche.
Eine Kleinstadt allerdings, die von genauso mörderischen und veritabel irren Witwen bevölkert ist. Morden ist sowieso in Franklins Universum aus Schlamm, Dreck und Gekröse eine ziemlich normale Diskursform. Smonks Gegenbild ist die 15-jährige Hure Evavangeline, deren Geschäftsidee „Ficken 1 $“ ziemlich tragfähig ist (Morden macht ihr auch keine Probleme, Überleben im Sozialdarwinismus ist schließlich ein hartes Geschäft), die aber dennoch ein utopisches Moment in sich trägt. Ansonsten wimmelt es in dem Roman von zum Breitleinwandformat aufgeblasenen Standardtypen des Westerns – radikalreligiöse Gesetzeshüter, korrupte Richter, deviante Hinterwäldler, dauergeile Pubertanten und so weiter. Smonk schließt bewusst und zitatmäßig an die damals so genannten „Anti-Western“ an – vor allem an „The Wild Bunch“ von Sam Peckinpah und andere New-Hollywood-Filme (Robert Altman, Arthur Penn, Stan Dragoti) und an die schmutzigen Italo-Western (eher Corbucci als Leone), mit einem Schuss früher Jim Thompson (Heed the Thunder), ein bisschen Faulkner.
Also alles Narrative, die dem „amerikanischen Traum“ nicht unbedingt zärtlich zugeneigt waren. Die aber dessen Dekonstruktion schon so weit und radikal betrieben hatten, dass man daraus kein Originalitätskriterium für Franklin mehr ableiten kann. Aber es ist ein Qualitätskriterium, dass Franklin diesem Pathos der Dekonstruktion (also das Pathos, das auch den „Country Noir“ schal wirken lässt, gerade wo er „kritisch“ sein will) schon beinahe parodistisch zu Leibe rückt. Wortwörtlich: Denn sein Karneval der grotesken Leiblichkeit entsteht aus Sprachoperationen, aus der Mischung eines schon fast alttestamentarischen Erzählgestus mit unendlichen vielen „fremden“ Stimmen (erstaunlich, wie viel Müll er in die Köpfe seiner Figuren völlig plausibel implantieren kann) und ganz jetztzeitlichen Sarkasmen und Lakonismen. Dadurch gerät die Drastik zum wollüstig vergnüglichen, opulenten Spektakel mit extrem hohem Unterhaltungswert, das aus dem ganzen Elend noch ein paar ästhetische Dimensionen herauslockt. Das ist, sagen wir mal, eher undogmatisch. Und deswegen ist Smonk ein literarisches Meisterwerk. (Siehe auch die CrimeMag-Besprechung von Katja Bohnet: „Sodom und Gomorrah Reloaded“.)
Tom Franklin: Smonk (Smonk, 2006). Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl, mit einem Vorwort von Frank Nowatzki. Pulp Master, Berlin 2017. 310 Seiten, 9,99 Euro.
Gefundenes Fressen
(KK) Ein historisch verbürgtes Massaker mit sieben brutal ermordeten Seeleuten, ein herrenloses Schiff vor der irischen Küste und ein flüchtiger Kapitän: Knapp 200 Jahre ist es her, da glaubte ein gottesfürchtiger Herr über eine Brigg, sich und die wertvolle Ladung nur so vor (räuberischen?) Matrosen schützen zu können, dass er die Kerle einfach einen nach dem anderen wegen drohender Meuterei in Ketten legte und sie dann sicherheitshalber auch noch totschlug.
Aber wie sich das alles im einzelnen zugetragen hatte, wurde endgültig nie geklärt – obwohl es überlebende Zeugen gab und sogar ein Geständnis des Kapitäns, nachdem er sich dann doch gestellt hatte. Zu viele Ungereimtheiten und Widersprüche.
Solche Geschichten sind natürlich ein gefundenes Fressen für Weiter-Dichter und Fort-Spinner aller Art. Alexander Pechmann hat einen Roman daraus gemacht. In Romanen kann man ja weitererzählen, was die Wirklichkeit nicht mehr hergibt. Und so schlüpft Pechmann in die Rolle eines zeitgenössischen Ermittlers und Chronisten und schreibt aus dessen Perspektive (und annähernd in einer der Zeit nachempfunden, durchaus gelungenen Kunst-Sprache) auf, was damals Behörden, Beteiligte und Betroffene ans Licht zu holen wussten. Und ein wenig mehr: nämlich Andeutungen, aus denen die Leser dann scheinbar von sich aus den Fall abgerundet bekommen. Eine raffinierte Methode.
Warum, um Himmels willen, musste der fromme Kapitän denn seinen Opfern noch die Schädel einschlagen, wenn er sie doch schon erfolgreich gefesselt hatte? Und wieso drehten zwei auf See zufällig vorbeifahrende Schiffe, die laut Zeugenaussagen dann sogar vom Kapitän selbst um Hilfe angerufen wurden, nicht bei, sondern setzten sich in offenbar plötzlicher Panik ab? Wieso ergriff der Kapitän, nachdem er seine Brigg zuerst noch in den Hafen von Cover gelenkt hatte, ebenso plötzlich selber die Flucht – und stellt sich am Ende doch wieder, seine Tat so selbstbewusst wie selbstgerecht rechtfertigend?
Kein Wunder, dass man da dem Autor nur zu gern den Federkiel aus der Hand nehmen und die Geschichte selber zu einem – guten? bösen? – Ende weiterschreiben möchte…
Alexander Pechmann: Sieben Lichter. Steidl Verlag, Göttingen 2017. 166 S., geb., 18 Euro.
Explizit politisch, großer Wurf
(TW) Die erhebliche Sprengkraft von Oliver Bottinis Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens liegt genau in den stillen Winkeln verborgen, die dennoch ganz zentral sind, aber die niemand so richtig auf dem Schirm hat. Bottini siedelt seinen Roman im rumänischen Temeswar an und in Prenzlin (einem fiktiven Dorf in der Nähe von Güstrow) in Mecklenburg-Vorpommern, beides Gegenden, die a priori nichts Sensationelles signalisieren. Aber in beiden Gegenden wütet besonders signifikant die Globalisierung in Gestalt der großindustriellen Agrarindustrie, wo Chinesen, Araber und alle möglichen multinationale Player die lokalen Strukturen der Landwirtschaft zugunsten von Monokulturen zerschlagen – koste es, was es wolle. Ein Mordfall in Rumänien, hinter dem zunächst eine Beziehungstragödie zu stecken scheint, führt den dortigen Ermittler Ioan Cozma nach Deutschland, wo er auf Menschen trifft, die genauso wie er durch die Diktaturen, in denen sie aufgewachsen sind, ähnlich beschädigt worden sind.
Die mit vielen Hoffnungen erfolgte Abwicklung des „Kommunismus“ durch einen dann zunehmend rücksichtslosen Turbokapitalismus macht nicht nur Ökologien und Ökonomien kaputt, sondern vor allem Menschen. Cozma hat während der Ceaușescu-Diktatur fürchterliche Dinge getan, die er inzwischen bereut und die zu neutralisieren er durch seine Existenz im „stillen Winkel“ seines Lebens versucht. Für die Leute, die aus Prenzlin nach Rumänien ausgewichen sind, um dort ein neues Leben nach ihren Maßstäben anzufangen, droht die Erkenntnis, dass sie systemischen Dynamiken nicht entkommen können. Was die persönlichen Tragödien nicht erträglicher macht, wie auch ein fieser Killer erfahren muss, der am Ende dann noch nur ein armer Hund ist.
Bottini zurrt Privates und Politisches stramm zusammen und das ist bei ihm nicht das genretypische Ausstatten von Hauptfiguren mit privaten Schicksalen, die neben dem Plot herlaufen, sondern konstitutiv. Seine Geschichte muss auf diesen beiden Ebenen spielen, eben weil sie gleichermaßen seine Menschen definieren. Und weil in den unbeachteten Ecken des Kontinents politisch extrem weitreichende Prozesse mit deprimierenden Konsequenzen ablaufen, ist Bottinis Buch explizit politisch (wütende und zornige Untertöne kann und will es nicht unterdrücken) und es ist auch ein gesamteuropäischer (wenn nicht weltweit gültiger) Roman. Großes Kaliber.
Oliver Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens. DuMont, Köln 2017. Hardcover, Lesebändchen. 414 Seiten, 22 Euro.
Eine Holmes/Watson-Variante aus Georgien
(UN) Ups, beinahe übersehen: Royal Mary. Ein Mord in Tiflis, ein, sagen wir, sehr spezieller „kleiner“ Kriminalroman aus Georgien, der schon im Frühjahr auch auf Deutsch erschienen ist. Eine merkwürdiger Mordserie erschüttert Tiflis, und zwar im Jahr 1899, in dem der Roman angesiedelt ist; ein französischer Meisterdetektiv, den es in die Stadt verschlagen hat, ermittelt; gemeinsam mit einem etwas überforderten Kommissar der örtlichen Polizei; bald landen die beiden in einer internationalen Staatsaffäre ungeahnter Ausmaße. Albre und Chripli, eine georgische Holmes/Watson-Variante, wenn man so will, sehr nonchalant und lustvoll und mit großer Liebe zum Detail in Szene gesetzt. Abo Iaschaghaschwili, geboren 1977 in Tiflis, hat in Deutschland studiert, lebt heute wieder in Georgien, finanziert sein Autorenleben als Bergführer.
Für Royal Mary ist er mit dem SABA-Preis ausgezeichnet worden, der wohl der bedeutendste Literaturpreis Georgiens ist. In seinem schmalen, gleichwohl prallvollen Roman erzählt Iaschaghaschwili eine gewitzte Polizei-, Detektiv- und Agentengeschichte, die als Motor dient, um staunend durch die vielen verschiedenen Milieus der Vielvölkermetropole Tiflis zu mäandern, der dieser Roman als Hommage huldigt. Ein besonderes Buch, historisch fundiert, atmosphärisch dicht, voller Situationskomik, Sprachwitz und Fabulierlust.
Abo Iaschaghaschwili: Royal Mary. Ein Mord in Tiflis. Aus dem Georgischen von Lia Wittek. edition.fotoTAPETA, Berlin 2017. Klappenbroschur, 128 Seiten, 14,80 Euro.
Kein Traum, überhöhte Realität
(AM) Die titelgebende Geschichte beginnt mit: „Ich habe meinen Vater getötet. Das hat nichts mit dem Ödipuskomplex zu tun…“ Eine andere mit: „Ich weiß, dass das ein Traum ist.“ Noch konzentrierter als in seinen hochkondensierten Kriminalromanen trat Gary Victor bereits in seinem ersten ins Deutsche übersetzten Erzählband auf, 2007 bei uns erstmals erschienen, jetzt gerade für schlankes Geld wiederaufgelegt. Streng genommen sind es keine Kriminalgeschichten, die er hier erzählt, aber man kann einem der besten Kriminalromanautoren der Welt dabei zusehen, wie er sein Handwerkszeug schärft und zuspitzt, wie er aus der griechischen Mythologie, der internationalen Märchenwelt, dem Voodoo, der Literatur des Absurden, der Völlerei und der Schelme seinen eigenen Hexentrank aufsetzt. Poetisch, politisch, surreal. Literatur als Befreiung aus unwürdigen, erbärmlichen Verhältnissen.
Der Blutchor ist eine höchst willkommene Ergänzung zu den drei bei uns vorliegenden Inspektor Azémar-Romanen, die Frank Göhre im September 2017 bei CrimeMag mit einem großen Essay gewürdigt hat: „Wo Hyänen, Schweine und Geier furchtlos herumstolzieren.“ Den Autor von Schweinezeiten und Soro und Suff und Sühne – diese drei Bände wunderbare Weihnachtsgeschenke übrigens für Unerschrockene – lässt sich hier bereits vorahnen. Der schmächtige, schielende und meist mit reichlich Schnaps abgefüllte Polizist Dieuswalwe Azémar tritt noch nicht auf, aber das Personal dieser Kurzgeschichten hätte unangefochten Einlass in den späteren Romanen.
Dass das Buch nun wieder lieferbar ist, ist dem auf Haiti spezialisierten Litradukt Verlag ein besonderes Anliegen: Durch diesen Erzählband war Übersetzer Verlagsgründer Peter Trier auf den im deutschsprachigen Raum damals völlig unbekannten Autor und auf die haitianische Literatur aufmerksam geworden. Die neun Erzählungen erschienen im Herbst 2007 als erstes Buch des Verlags. Was seitdem geschehen ist, macht uns Leser glücklich. Deshalb hier einmal ein Dankeschön!
Gary Victor: Der Blutchor (La chorale de sang, 2007). Übersetzt von Peter Trier. Erstauflage 2007. Litradukt Verlag, Trier 2017. 116 Seiten, 8,80 Euro. Verlagsinformationen.
Den Terrorismus verstehen wollen
(AM) Schreiben, findet der 1971 im marokkanischen Kénitra geborene Rachid Benzine, „ist vielfach noch das beste Mittel, um dem Nichtverstehen etwas entgegenzusetzen, das Fehlen eines Dialogs zu kompensieren und die Grenzen einer Realität zu lockern, die uns ihre Regeln aufzwingt. Das wurde mir klar, als ich diesen Text schrieb“. So beginnt das Vorwort zu Der Zorn der Feiglinge. Es ist ein schmaler, aber äußerst gehaltvoller Band, im kleinfeinen persona verlag erschienen, ursprünglich 1983 von Lisette Buchholz gegründet, um verschollene und vergessene Texte aus dem deutschen und österreichischen Exil 1933-1945 zugänglich zu machen. 41 Bücher aus 13 Ländern führt das aktuelle Gesamtverzeichnis.
Das Pariser Bataclan-Attentat vom November 2015 gab Rachid Benzine den letzten Anstoß zu diesem Buch. Schon davor hatte ihn die Frage umgetrieben: „Warum entscheiden sich junge Frauen und Männer, die in meinem Land geboren und aus meiner Kultur hervorgegangen sind, in den Krieg zu ziehen, um im Namen Gottes, der auch mein Gott ist, zu töten?“ Benzine, 1996 französischer Kickboxmeister geworden, ist Politologe und Historiker des Islam, lehrt in Aix und Paris, wird oft nach Brüssel eingeladen, um vor den europäischen Institutionen über den Islam zu sprechen. Geprägt fühlt er sich von Paul Ricœur, Michel Foucault und Jacques Derrida. Sein Islam und Moderne. Die neuen Denker erschien im Verlag der Weltreligionen. Zorn der Feiglinge ist sein erster Roman, es gibt auch eine Bühnenadaption: „Lettres à Nour“.
„Warum habe ich nichts kommen sehen?“, fragt sich Nours Vater verzweifelt, als seine Tochter ohne Abschied nach Falludscha reist, um sich dem IS anzuschließen. Der zwischen den beiden nun leidenschaftlich (und sehr lesbar) geführte Briefwechsel ist der spannende und sehr lehrreiche Versuch, den Islam und die Wurzeln des ihm zugeschriebenen Terrorismus besser zu verstehen. Rachid Benzine: „Man kann den IS zerstören, aber sein Diskurs ist eine radioaktive Wolke, die sich ausbreiten wird. Europa hat vergessen, was für ein Zündstoff religiöse Kraft sein kann. Diese jungen Leute fühlen sich von einer Umwälzung angezogen, bei der sie die Akteure sind. Das führt uns zu uns selbst zurück: was bieten wir der Jugend?“
Rachid Benzine: Der Zorn der Feiglinge (Nour, pourquoi n’ai-je rien vu venir?, 2016). Roman in Briefen. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Persona verlag, Mannheim 2017. 96 Seiten, Hardcover, 17,50 Euro. Verlagsinformationen.
Dramaturgische Katastrophe
(TW) Im Jahr 1938, in dem der München-Roman von Robert Harris (siehe hier weiter unten) spielt, ist auch Rex Stouts Zu viele Köche erschienen. Es geht um einen Mord an einem Star-Koch während eines Contests der Spitzenköche aus aller Welt, an dem natürlich der Supergourmet Nero Wolfe und sein bodenständiger Legman Archie Goodwin teilnehmen, auch wenn der notorisch bewegungsunlustige Wolfe sich dafür in ein schickes Land-Resort aufmachen muss. Bis der Mord dann geschehen ist und wenn er geschehen ist und sich das per se ermüdende Mahlwerk des Whodunnit quälend langsam in Bewegung setzt, wird pausenlos geredet und raisoniert und raisoniert und geredet und dann wieder geredet. Verdächtige werden befragt und dann werden Verdächtige befragt und später Verdächtige befragt: Mit anderen Worten: Zu viele Köche ist eine dramaturgische Katastrophe, sicher einer der schwächsten Nero Wolfe Romane, wo gibt.
Das Interessanteste an diesem Buch ist das exzellente Nachwort von Tobias Gohlis, der den Roman in die richtigen Kontexte (neben den kriminalliterarischen) stellt: in den konsumkritischen Diskurs von Thorstein Veblen, in die Rassismus-Kritik der Zeit und, vor allem virulent, in den amerikanischen Antifaschismus. Gohlis dechiffriert den Roman „als Paradebeispiel für einen Kriminalroman, in den eine politische Botschaft eingeschrieben ist“. Das ist völlig richtig. Beklagenswerterweise ist in diesem Fall jedoch die Botschaft so tief in einem Wust von Schwatzhaftigkeit und sinnfreiem Genregedöns vergraben, dass die schweisstreibende archäologische Anstrengung, sie zu Tage zu bringen, das Lesevergnügen bei weitem überwölbt.
Rex Stout: Zu viele Köche (Too Many Cooks, 1938). Aus dem Amerikanischen von Gunter Blank, mit einem Nachwort von Tobias Gohlis. 340 Seiten, Leinen, 15 Euro.
Erzählerisch geschickt
(JF) Die Küstenregion rund um das Atomkraftwerk Dungeness in der englischen Grafschaft Kent hat einen ganz eigenen Charme, der sich dem zufälligen Besucher nur schwer erschließen mag. Es braucht schon einen Sinn für die Ästhetik des Trostlosen, um dem Reiz der harschen Landschaft zu verfallen. Oder man ist ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter wie William South, den es als Dreizehnjährigen dorthin verschlagen hat. Eigentlich hatte seine Mutter vor, mit ihrem Sohn nach Frankreich zu emigrieren, doch dieser Plan war unrealistisch. Es ging vor allem darum, dem bürgerkriegsgeplagten Nordirland zu entkommen. Kurz zuvor war Williams Vater Opfer einer internen Fehde protestantischer Paramilitärs geworden. So lautet zumindest die offizielle Variante. William South allerdings meint zu wissen, was damals wirklich vorgefallen ist, und es quält ihn auch 38 Jahre später noch.
Dies ist einer der Gründe, warum er sich zunächst sträubt, die Ermittlungen in einem Mordfall zu unterstützen, der sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zugetragen hat. Ein pensionierter Lehrer, mit dem South befreundet war, ist auf brutale Weise ums Leben gebracht worden. Das Motiv bleibt unklar, doch schon bald fallen Ungereimtheiten auf. Als jedoch ein Obdachloser erhängt aufgefunden wird, meint man, den Mörder zu kennen und der Fall wird zu den Akten gelegt. Doch South weiß es besser und ermittelt weiter. Parallel wird die Geschichte vom Tod seines Vaters aufgerollt, bis am Ende eine Wahrheit ans Licht kommt, die aufmerksame Leser schon lange geahnt haben dürften. Die wirkliche Überraschung bereitet in ihrer relativen Banalität die Aufklärung des aktuellen Mordfalls.
William Shaws Kriminalroman Der gute Mörder präsentiert sein Rätsel auf erzählerisch geschickte Weise und psychologisch nachvollziehbar. Wer möchte, kann sich an den Parallelen der beiden Handlungsstränge erfreuen und dabei über gewagte Zufallskonstruktionen hinwegsehen. Getrübt wird das Vergnügen allerdings, wenn man auf die deutsche Textfassung angewiesen ist. Da verwandelt sich Benzin, das jemand offenbar in seinem Wohnwagen lagerte, in Erdöl, und Williams Vater, einem Angehörigen der protestantischen Terrortruppe Ulster Volunteer Force, wird unterstellt, er habe für ein „vereinigtes Irland“ gekämpft. (Im Original steht schlicht „the union“ – also die politische Einheit mit Großbritannien.) Wäre dem tatsächlich so, läge der Grund für seine Ermordung auf der Hand. Und unser Held hätte ein Problem weniger gehabt.
William Shaw: Der gute Mörder (The Birdwatcher, 2016) Aus dem Englischen von Christine Burkhard. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 348 Seiten, 14,99 Euro.
Nazi sells, das ist schon alles
(TW) Lasch und bieder und schlicht, das ist München, das neue Buch des (mit Ausnahme von Fatherland) weit überschätzen Robert Harris. Seine Romane aus der Antike – vor allem die über Cicero – waren wenigstens unfreiwillig lustig, weil er das alte Rom ohne ein Hauch von Feeling für Alterität in Parametern von heutigen family values und Cicero als Vorsteher einer Londoner oder New Yorker law firm aufgezogen hatte, und auch sein Dreyfuss-Roman Intrige war eigentlich eine Whistleblower-Geschichte nach heutigem Verständnis minus des krass antisemitischen Kerns der historischen Ereignisse.
Jetzt also das Appeasement von 1938. Harris versucht, Chamberlains Politik ex post zu legitimieren: Es sei ihm, so die implizite These des Buches, darum gegangen, den unausweichlichen Krieg mit Deutschland noch ein paar Jahre hinauszuschieben, weil die britische Rüstung noch nicht kriegsbereit war. Im Grunde habe er damit Hitler eine Niederlage bereitet, weil der sofort habe losschlagen wollen. Das ist historisch, naja, diskutabel, wenn auch keinesfalls originell. Um die Münchner Konferenz herum bastelt er dann einen schwachen Plot: Eine deutsche Widerstandsgruppe plant den Putsch, möglicherweise auch schon die Ermordung Hitlers, wenn es nur gelingt, den Chamberlain´schen Plan scheitern zu lassen. Weil Hitler sich aber von Chamberlain beschwatzen lässt, entfallen Attentat und Putsch. That´s it und alle gehen nach Hause.
Nazi sells, und so hüpfen die üblichen Knallchargen durch’s Bild – Himmler lacht fies, Ribbentrop ist blöd, Mussolini eitel, Daladier verpeilt, die SS ist roh und das diplomatische Corps opportunistisch, das Volk trägt Lederhose und Dirndl und sauft Bier. Ach ja, wo doch Deutsche und Brite so gute Freunde sein könnten wie die beiden jungen Diplomaten, die das jeweils Gute in ihren Nationen verkörpern. Das ganze in Holzschnittprosa, ohne Pointe, ohne Clou. Guido-Knopp-Geschichte mit Laiendarstellern. Einschlafhilfe.
Robert Harris: München (Munich, 2017). Übersetzt von Wolfgang Müller. Heyne Verlag, München 2017. 432 Seiten, 22 Euro.
Rue St. Denis, Essaouira und andere Orte
(AM) Nein, über Kriminalromane haben sie bisher noch nie etwas gemacht, ganz viel aber zur Populärkultur. 50 Themenbroschüren Kulleraugen – Visuelle Kommunikation in 40 Jahren, die Auflagen immer klein. Das jetzt erschienene Jubiläumsheft Nr. 50 hat eine Auflage von 250 Exemplaren. „Kulleraugen“ alleine als Suchbegriff reicht nicht, man muss schon „Kulleraugen-Verlag“ eingeben, um zur Website von Brigitte und Hans-Jürgen Tast aus Schellerten im Landkreis Hildesheim zu finden. Sie sind sich all die Jahre treu geblieben: eine leicht unterkühlte, nichts desto weniger aber entschiedene Fokussierung auf Randthemen unserer medialen Welt; etwa auf die einen von überall her anlächelnden Blicke der Werbung im öffentlichen Raum; eine Vorliebe für nicht ganz einfache Frauen aus der Welt des Films: Marion Michel, Frances Farmer oder Sybille Schmitz zum Beispiel (CulturMag-Besprechung hier); immer wieder Cross Over-Arbeiten und Fotoprojekte von Brigitte Tast. Mehr als einmal kam es vor, dass sie auf ein Filmfestival eingeladen werden sollte, etwa weil man in San Francisco den Katalog eines queer-Events in Deutschland gelesen hatte, es sich aber dann herausstellte, dass es sich bei „Rue St. Denis“ um keinen Film, sondern um eine Diageschichte in 96 Schwarz-weiß-Bildern handelte. 70 Minuten Publikumsereignis macht Brigitte Tast daraus.
Kritiken, Reaktionen, Resonanzen zu dieser Fotoarbeit von 1988/89 fasst das Jubiläumsheft zusammen, das – so sind sie, die Tasts – keine einzige Zeile an die Arbeit der letzten 40 Jahre verschwendet. Keine Werbung in eigener Sache. Kein Wort vom schönen Heft Orson Welles – Othello – Mogador. Aufenthalte in Essaouira (Nr. 42, 2013), dem über Sybille Schmitz (46. 2015), die es wie viele Kulleraugen auch in teuren, streng limitierten Vorzugsausgaben gab. Kein Hinweis auf Antonionis ‚Blow-Up’ und der Traumjob Fotograf (44, 2014), auf Still the wind cries Jimi. Hendrix in Marokko (40, 2012), auf Falsche 50er. Schule, Sex und dumme Witze. Die erfolgreichen Filmserien ‚Eis am Stiel’ und ‚Porky’s’ (1983), auf 30 Interviews mit John Travolta (1978), auf das Regenfestival von Fehmarn (41/ 2012), auf das Heft über die Disko ‚be bop’ in Hildesheim, oder auf – damals revolutionär im Bereich der Filmkritik: Normalprogramm. Was das Kino bringt (1983).
Brigitte und Hans-Jürgen Tast: Kulleraugen – Visuelle Kommunikation. Heft 50. Rue St. Denis. Eine Diageschichte. Kritiken, Reaktionen, Resonanzen. Kulleraugen-Verlag, Schellerten 2017. 60 Seiten, mit Abb., 8,90 Euro.