Morden und Moral
Nein, Nero hat Rom nicht angezündet. Musste er auch nicht, um ein veritables Scheusal in einer Reihe von Scheusal-Kaisern (korrekt: principes) zu sein. Immerhin hatte er seinen Seneca, der ihm lange den Anschein von Reputierlichkeit verschaffte. Was dem aber auch nichts nutzte. James Romm hat aus diesem prekären Verhältnis ein faszinierendes Sachbuch gemacht, das auch ein paar Schlaglichter auf unsere Zeit wirft. Thomas Wörtche freut sich.
Immer wenn flugs ein schickes, tiefsinnges Zitat gebraucht wird, ist Lucius Annaeus Seneca (1-65) zur Hand – sozusagen das Flaggschiff der römischen Stoa. Seneca passt immer, und wenn noch der gröbste Unfug scheinheilig damit geadelt werden soll, wie es gerade bei Roger Smiths „Mann am Boden“ geschehen ist. Ironischerweise passt das perfekt, denn möglicherweise war auch Seneca eine Heuchelbacke von Gnaden. Einerseits der Verfasser berühmter und wirkmächtiger Schriften über noble Themen: „De Vita Beata“ (Über das glückliche Leben), „De Constantia Sapientis“ (Über die Unerschütterbarkeit des Weisen), „De Clementia“ (Über die Güte) und so weiter. Dazu Legitimationen des Selbstmords, Trostschriften an allerlei Zeitgenossen, Berge von Briefen über das gute und gelungene Leben – milde, weise, gerecht. Und gleichzeitig war er Berater, Erzieher, Mitwisser, möglicherweise auch Strippenzieher (und Verfasser schleimiger Texte verschiedener Genres zum Lob seines Herren) für das Scheusal Nero, zu dessen Opfer er am Ende auch wurde. Der paranoide Tyrann, der seines (nöligen?) Lehrmeisters überdrüssig wurde, zwang Seneca zum Selbstmord – ein Lieblings-Modus-Operandi römischer Machthaber – eine perfide Variante des plato o plomo, nur auswegloser: Wer sich umbrachte, durfte immerhin noch die Hälfte seines Vermögens an seine Verwandtschaft vererben, wenn nicht, ging die leer aus und wurde notfalls auch abgeräumt. Wenn sie nicht vorsichtshalber sowieso entsorgt wurde, die Römer waren sehr konsequent-pragmatisch in solchen Dingen. Diesen Selbstmord baute Seneca natürlich nach einigen Anlaufschwierigkeiten der Sokrates-Nummer nach; auch das ging erstmal schief, aber tat der Fama vom duldsamen und aufrechten Stoiker keinen Abbruch. Seine Frau sollte mit ihm sterben (macht sich auch gut in der Öffentlichkeit), überlegte es sich dann aber doch in letzter Sekunde anders.
Rätsel Seneca?
Der amerikanische Altphilologe James Romm hat sich den historischen Seneca genauer angesehen und dabei ein grandioses, brillantes und allgemeinverständliches Buch über das Verhältnis von Macht und Moral geschrieben: „Seneca und der Tyrann. Die Kunst des Mordens an Neros Hof“. Romm diskutiert zwei Seneca-Bilder, die sich bis heute durch die Rezeption ziehen. Einmal: „Ein Mann, zu dessen höchsten Idealen Besonnenheit, Vernunft und moralische Tugendhaftigkeit gehörten, wurde ins Zentrum der römischen Politik katapultiert. Er tat sein Bestes, die Launen eines irregeleiteten Tyrannen zu mäßigen, während er fortfuhr, die moralischen Abhandlungen zu veröffentlichen, die seine eigentliche Berufung waren.“ Und das ist zum anderen auch wahr: „Ein schlauer Manipulant aus bescheidenen Verhältnissen erschmeichelt sich den Weg ins Machtzentrum des Römischen Reiches. Er nutzte seine glänzende Sprachbegabung dazu, sich als Philosoph darzustellen, nutzte … seinen großen Einfluss, um sich zu bereichern … beteiligte sich an den finstersten Verbrechen des Palasts als Mitverschwörer oder sogar als Anstifter, … versuchte seinen Ruf mit wohlbedacht ausformulierten literarischen Paradestücken zu retten“. Also Rätsel Seneca? Ein Mann mit zwei Gesichtern, die man auch auf zwei völlig unterschiedlichen Plastiken sehr gut sehen kann.
Blut, Profit und Seelenheil
Romm sammelt oder besser: versucht penibel gerecht und quellenkritisch Belege für beide Varianten zu sammeln. Aber angesichts der in der Tat finsteren Ranküne – Muttermord, Ausbeutung, Korruption, Auslöschung ganzer Familien und Erblinien, Verschwendung und schamloser Bereicherung (die Römer der Kaiserzeit ließen ja bekanntlich Game of Thrones ziemlich blass aussehen, auch wenn Nero, entgegen seinem Ruf, noch nicht einmal das Top-Monster war) – und angesichts der ungeheuren Profite, die Seneca für sich selbst herausholte (eine Art Hedgefond Operation in Britannien führte zu einem blutigen Krieg mit abertausenden von Opfern), fällt Romms Bilanz zu recht eher skeptisch aus. Der englische Originaltitel „Dying Everday Day“ allerdings verweist auf eine dritte Option: Nachdem sich Seneca nun einmal in diese scheußliche Lage gebracht hatte (war er blauäugig, naiv, allzu arrogant? Eher nicht, denn Neros Vorgänger Claudius hatte ihn auf Betreiben von Messalina schon einmal verbannt, mit Tyrannen ist nicht zu spaßen, das musste ihm klar sein), war es vermutlich erheblicher Stress, mit dem Damoklesschwert über dem Kopf am Hofe Neros zu leben, der bekanntermaßen und wortwörtlich keine Verwandten mehr kannte, wenn es um seine Launen und mehr noch, um seine Interessen ging. So könnte man Senecas stoische Haltung auch als virtuose praemeditatio malorum verstehen, aber vermutlich eine mit schlechtem Gewissen und immerhin sehr profitabel. Zugebenermaßen war das bei Nero wie bei der Mafia: Kündigen ist nicht.
Moralunternehmer?
Spannend dabei ist natürlich, dass Senecas Philosophie es geschafft hat, sich von ihren Kontexten loszulösen und ihre eklatante Instrumentalisierung (fast) vergessen zu machen und sich via Marc Aurel und Epiktet ins Weltkulturerbe einzuschreiben (egal, was Cassius Dio und natürlich die alte Giftspritze Sueton anzumerken hatten), zumindest für Nicht-Spezialisten. Insofern ist Romms Buch auch eine immer noch aktuellen Studie zu Macht, Realpolitik und Legitimationsstrategien. Es markiert auch die haarfeinen und subtilen Bruchstellen, die auch in der heutigen Ökonomie der Aufmerksamkeit zu beobachten sind. Womöglich war Seneca gar der Urtyp des „Moralunternehmers“, der sein eigenes, privatwirtschaftliches Marketing mit durchaus sinnvollen, guten und schönen und vor allem wohlfeilen Bekundungen, (die sich aber im Hinblick auf die eigene Rolle bedeckt halten) betreibt, die der realökonomischen Praxis des „guten Menschen“ zuwiderlaufen. True Crime vom Feinsten und ein Buch für Menschen, die gerne hinter rhetorische Nebelwände schauen.
Thomas Wörtche
James Romm: Seneca und der Tyrann. Die Kunst des Mordens an Neros Hof. (Dying Every Day. Seneca at the Court of Nero, 2014). Dt von Karl Heinz Siber. München: C.H. Beck 2018, 225 Seiten, € 24,95
Zu Buch und Autor: hier nachzulesen.