Geschrieben am 3. Juni 2018 von für Litmag, News, TABUMAG

Ute Cohen: Editorial TABU-Mag

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Wollt ihr das totale Tabu?

Ende der Achtziger: Das Tabu befindet sich im gesellschaftlichen Niedergang. Seit Jahrzehnten siecht es vor sich hin. Nach dem Einzug des Rock’n’Roll in Europa versetzten ihm die Achtundsechziger endgültigen einen Nackenschlag. Es folgte ein Abgesang auf Ordnung und Regelwerk. Punk und Postpunk versetzten der Zukunft einen Tritt in den Hintern. Fortan vegetierte das Tabu nur noch als Spiel vor sich hin. Bei Spieleabenden vergnügten sich die Prä-Millenials en privé mit der Erklärung von Tabubegriffen wie „Eisbär“. Ein Zähl- und ein Quietschmeister wachten gestreng über die Einhaltung der Regeln.

So amüsant die Szenerie erscheint, sie ist eine Vorahnung dessen, was noch kommen sollte, die perfekte Allianz von kapitalistischen Mechanismen und bürgerlicher Normierungswut.

Während sich nahezu sämtliche Tabus im freien Fall befanden, schossen Regelungen aller Art aus dem Boden. Vor allem Sprachpolitiken dominierten die letzten zwei Jahrzehnte. Der wohlmeinende Ansatz, Unsichtbares sichtbar zu machen durch Sprache, verkehrte sich ins Gegenteil: Man sah und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Statt Visionen einer das Gemeinwohl postulierenden Gesellschaft setzten sich Identitätspolitiken durch, die untereinander in schärfste Konkurrenz traten. Die friedliche Koexistenz der Meinungen versuchte man dadurch zu gewährleisten, dass man einen respektvollen Umgang mit Sprache einforderte, dabei aber zunehmend Andersdenkende und -sprechende sanktionierte. Verschärfte Konkurrenz um Ressourcen (Zeit, Geld!) zur Durchsetzung der eigenen Zielsetzungen, gepaart mit Quietschmeistern und -meisterinnen, die beim geringsten Fauxpas auf die Hupe drücken, führt zu einer paradoxen Situation: Die einstige Bekämpfung der Tabus führt zu deren Stärkung. Der Tabuinflation im öffentlichen Raum sowie zunehmenden Befindlichkeiten stehen Exzesse im Privaten gegenüber. Ergebnis sind Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit. Aus Ideologiehörigkeit und Angst vor Verletzungen wird das Gemeinte tabuisiert, einem korrekten, dem mit der jeweiligen Community konformen Diskurs unterworfen. Dieser Twisted-Tongue-Speak führt zur Spaltung der Gesellschaft. Durch die permanente Ventilierung immer neuer Sprachnormen, keimen neue Tabus auf, die sich inflationär vermehren. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, lautet daher: Wollt ihr das totale Tabu?

In unserem TABUMAG rütteln wir am Thema, nehmen es auseinander, bis kein Spielstein mehr auf dem anderen steht.

Barbara Weitzel widersteht der Versuchung, dem Tabu einen generellen Platzverweis zu erteilen. Das Tabu, als Unantastbares, ist für sie das Protektorat der Schutzbedürftigen, regiert jenseits von Recht und Gesetz mit Scham und Respekt.

Dass es Fragilität auch in unserem oftmals taffen Leben gibt, verdeutlichen gleich drei Autorinnen. Zwischen Cannes und „kann nicht mehr“ bewegt sich die Schauspielerin Iris Boss. Das Tabu zu scheitern, meistert man auf den Brettern, die die Welt bedeuten, auf ganz eigene Art: Fake it till you make it!

P.B. Fuchs springt dem Tod furchtlos auf die Schippe, flüstert ihm ins Ohr: Ja, ich habe Angst vor dir. Das Leben ist eben kein Tom und Jerry-Film! Die Dampfwalze befördert uns unweigerlich in den Orkus.

Auch Caroline Elias scheut nicht vor dem Argen zurück: sie geht den Ängsten auf den Grund, hört zu, analysiert, bricht das Schweigen über das unselige Tabu, seelische Erkrankungen zu ignorieren oder zu diffamieren.

Lars Hartmann versetzt das Tabu in ein gesellschaftliches Laboratorium zur Austestung sozialer Normen. Sprache und Kunst sieht er als die letzten Windmühlen identitärer Don Quichotes.

Wenn Kunst im Kreuzworträtsel landet, ist Vorsicht geboten. Alf Mayer begnügt sich nicht mit „Porno-Schiele“, sondern positioniert Speerspitzen auf Brandmarker und Simplifizierer.

Roland Osswald liegt „Hiobs Spiel“ am Herzen. Nicht ganz ungefährlich. Schließlich ist der blutgierige Springteufel seit fünfzwanzig Jahren geübt im Verschlingen von Innereien.

Wolfgang Wagner demonstriert, dass die Revolution ihre Kinder frisst und als Monstren wiedergebiert. Er sinniert über sakrale Räume, die Schutz bieten vor gargantuesken Tabuisierungsgelüsten.

Um Safe Spaces geht es auch bei Annekathrin Kohout. Sie blickt in zwei Richtungen: Produktion und Rezeption von Kunst. Der White Cube als Lab für Tabubrecher wird gekapert von Safe-Space-Konsumenten.

Agata Norek zielt mit ihrer Kunst auf die Enttabuisierung des Schmerzes. Ihre Schutzschilde sind Intermediäre im Spannungsfeld zwischen Aggression und Verteidigung.

Den Tretminen im Herrschaftsbereich der Tabus spürt Hans-Jürgen Döpp hinterher. Sexuelle Freiheit sieht er untergraben von Neo-Viktorianern, die Fortschrittsglauben als Trugbild entlarven.

Einen Blick zurück, in Zeiten, in denen es noch keine Pornhubs gab, sondern Zelluloid und Nylon, wirft Christian Platz. Projiziert für Zungenbrecher, inspiziert und penetriert wird da – ein Augenschmaus!

Anything goes? Eine Frage, die für Verleger nicht ganz ohne Pikanterie ist. Wolfgang Franßen entlockt das Tabu als Marktmechanismus nur ein müdes Gähnen. Roaarr! Er frisst es mit Haut und Haar, Agatha Christies Teatime-Sitten zum Trotz.

Noch strenger als bei der Krimilady geht es im Bundespräsidialamt zu. Reginald Grünenberg sorgt für einen herrlichen So-Shocking!-Effekt, als er den Herren Beamten seine Alternativthesen zur Demokratie serviert.

Die Verhältnisse auf den Kopf stellt auch Rainer Zitelmann, der die Minderheiten-Thematik auf die Reichen und Schönen überträgt. Doc Zitelmann misst die Temperatur der Oligarchen und kommt zu verblüffenden Diagnosen.

Über das diffizile Verhältnis der anti-hedonistischen „Bauchlinken“ zu Pecunia klärt uns Leander F. Badura auf. Pecunia non olet? Sniff!

Auf den Boden der Tatsachen holt uns Hazel Rosenstrauch zurück: Sie knöpft sich die antisemitische Liebe zu Juden vor und bevorzugt – q.e.d. – Differenzierung statt populistischer Pauschalisierung.

Gunnar Kaiser stellt sich die Frage, ob sich die Menschheit bei ihren eifrigen Grabungen, den ewigen Weiterungen ihres Höhlenschachts nicht selbst ein Grab schaufelt. Kritikverbot am Egotrip als letztes Tabu der permissiven Gesellschaft?

Heiko Hesh Schramm bildet das futuristische Bindeglied mit unseren Tabu-Miniaturen. „Ihr Kinderlein kommet“, freuet euch auch aufs nächste Weihnachtsfest, wenn das Supi-Dupi-Gerät „NoTaboo – NT-One“ auf dem Gabentisch liegt. Holy Shit!

Ganz unheilig geht’s in unseren QUICKIES zu einer „Welt ohne Tabu – Dystopie oder Utopie?“ weiter.

Bei Stephen Urbanski gibt’s Bukkake gegen Gewalt. „Urbi et Uzi“, sagt der Mohr zur Welt.

Sam Bennet imaginiert sich die tabulose Welt als Dantes Inferno.

In die Höhle des Löwen begibt sich Marcel Luthe. Als FDP-Abgeordneter weiß er, was es mit Tabus und Butlers „fearless speech“ auf sich hat.

Patrick Ueberle lässt den Finanzwahnsinn crashen. Ganz unblutig. Peace, man!

Martin Westenberger hingegen zettelt Metzeleien und Blutorgien vom Himmelbett aus an.

Bruno Schulz bevorzugt das Florett beziehungsweise das Schweizer Offiziersmesser im Spiel mit existenziellen Strafängsten.

Memento mori, ruft die Fachschwester für Intensivmedizin Astrid Farbenfroh. Tod und Krankheit, Ängsten vor Siechtum und Ohnmacht stellt sie sich täglich.

Christina Mohr wiederum spricht über den tabuisierten Akt der Geburt. Nicht schön, sondern schmerzhaft – die weniger ästhetische Seite der Körperlichkeit.

Jana Volkmann trackt confession-Hashtags und begreift Taboo Tales als Zweizeiler zur erotischen Selbstversicherung bzw. -vergewisserung.

Astrid Dornbrach verweigert sich postkoitalem Räkeln auf Kühlerhauben und tanzt lieber nackt im Wind.

Robin Becker hat keine Scheu vor dem aus der Mode gekommenen Begriff der Scham. Gewissensabwägung der Bedürfnisse in Indien.

Claudia Denker wiederum überlegt, ob sie sich mit Nazis an den Büchertisch setzen würde. Von Schweinetischen mal ganz abgesehen.

Lest, wenn ihr Lust habt, keiner zwingt euch! Wir alle aber wären glücklich, wenn wir euch mit unserem TABUMAG ermuntern könnten, über euren Schatten zu springen. Round-Table-Talk für alle!

Herzlich

Ute Cohen

Herausgeberin des TABUMAG-Specials ist Dr. Ute Cohen.

Die künstlerische Gestaltung des TABUMAGS übernahm Christian Rudolf Noffke.

Schlussredaktion: Karl Burkhard Timm

Dr. Ute Cohen lebt als Autorin und Kommunikationsberaterin in Berlin. Sie schreibt für kult, culturmag, Séparée, die Wochenzeitung „der Freitag“ und die Jüdische Allgemeine. 2017 erschien ihr Roman „Satans Spielfeld“ im Septime-Verlag. 2018 ist sie mit einer Krimi-Short-Story in Thomas Wörtches „Berlin Noir“ bei culturbooks vertreten. „C’est la mort“ lautet der Titel ihrer Krimi-Kolumne im „Freitag“.

Christian Rudolf Noffke ist freier Autor, Designer und Künstler 
2007: Ausgelebt-Poems 4 the undead, zusammen mit Lüder Grosser 
2012/2013: iPhonography-Ausstellung in Bremen
Fördermitglied der Kunsthalle Bremen; Mitglied des Klub Dialog e.V. Bremen
2018: „gamechangegames“-Bildband mit Designs, nebst Gedichten/ Geschichten in Planung 

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Podiumsdiskussion, veranstaltet von der „Valerian Arsène Verny Literaturstiftung für Kinder und Jugendliche“
am 30.6. 2018
um 19.00 Uhr
Veranstaltungsort:
St.-Michaels-Heim (ehem. Palais Mendelssohn)
Bismarckallee 23
D-14193 Berlin-Grunewald

WELT OHNE TABUS – DYSTOPIE ODER UTOPIE?

„Nein, das ist tabu für mich!“, „Das geht gar nicht! Das ist ein absolutes Tabu!“ sagen wir so leicht dahin wie „Nee, ich rauche nicht.“ und „Oh, Gott, bloß kein Fleisch!“. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller spricht vom “Negative-Newsspeak“ und einer Tabu-Inflation. Im Virtuellen und in der Fiktion gibt es andererseits kaum mehr Tabus, die gebrochen werden könnten. Die Herausforderung, vor der wir alle stehen, lautet daher: Wie gehen wir mit der Totaltabuisierung im öffentlichen Raum um, ohne uns in exzessive Traumwelten flüchten zu müssen? Und: Ist eine Welt ohne Tabus überhaupt wünschenswert oder doch ein Horrorszenario?

Auf der Bühne diskutieren:

Simone Barrientos – MdB und Kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE
Sam Bennet – Autorin des Erotikthrillers „Victima“
Holger Fuß – Journalist
Gunnar Kaiser – Schriftsteller („Unter der Haut“, Berlin Verlag)
Dr. Dr. Rainer Zitelmann – Historiker und Soziologe

Moderation:

Dr. Ute Cohen (Schriftstellerin und Journalistin)
Caroline Schwarz (Schauspielerin und Kommunikationsberaterin)

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