Geschrieben am 3. Juni 2018 von für Litmag, News, TABUMAG

Wolfgang Wagner: Blinde Flecke und Neurosen

Bild: Christian Rudolf Noffke
Wolfgang Wagner: Blinde Flecke und Neurosen

Dies wird keine Reflexion über „Deep Throat“.

Nur zwei Anmerkungen dazu: „Wenn in den heutigen Sexfilmen das pornographische Element vorherrscht, so deshalb, weil sie in einer sexuell unterdrückten Gesellschaft produziert werden. Der enorme finanzielle Erfolg der harten Pornofilme läßt sich nicht anders erklären.“ (Vogel spricht von den frühen 70er Jahren – siehe unten, S. 220)

Ich erinnere mich, an die sonderbar aufgeräumte Stimmung bei der Wiederaufführung von „Deep Throat“ im ausverkauften Grazer Rechbauerkino in den 90ern. Ich erinnere mich auch an den auffallend hohen Frauenanteil unter den Besuchern.

Wenn ich versuche, mir eine tabulose Welt vorzustellen, entsteht ein inneres Bild einer ehrlichen, klugen und doch sensitiven Gesellschaft, die weiß, wo die Grenzen des Möglichen sind und sich den Grenzgebieten und den gefahrvollen Zonen des Außerhalb immer wieder stellt.
Irgendwie ist es eine Mischung aus manchen der utopischen Entwürfe von Charles Fourier, was Hippie- oder Punkgemeinschaften auszeichnet, wenn sie zur Abwechslung so halbwegs funktionieren, und einem zapatistischen Indianerdorf in Mexiko.

Das gegensätzliche Bild ist ein brutale, technisch überwucherte und flächendeckend pornographisierte Gesellschaft, die voller blinden Flecken ist. Hier orte ich die Dystopie.
Alles Unerwünschte ist unaussprechlich geworden. Auch die eigenen Strukturen und gesellschaftlichen Neurosen sind unberührbar geworden und wuchern ungebremst. Es wimmelt von geweihten Räumen, die dem kritischen Auge unzugänglich geworden sind.

Ein „Über-Tabu“ scheint jeden Blick auf den Ablauf des Regelwerks, der „gesellschaftlichen Maschine“, zu blockieren. Alles ist virtualisiert und käuflich. Die Vernunft schläft – und sie hat Monstren geboren.

Ein rationaler Sinn des Tabus – das Schützen eines sakralen Raums vor Profanierung – verändert sich und wird verfälscht. Zensur zieht einen Kreis (ich schlage die Wortwahl „säkularer Verbotskreis“ vor) um einen tabuisierten Bereich, zum Beispiel um eine unorthodoxe Auslegung der Bibel oder eine nicht anerkannte Auslegung des „Kapital“ oder die Abbildung ineinander verschränkter Genitalien.

Der Verbotskreis kann auch Detailabbildungen wie zum Beispiel Lippen, die eine brennende Zigarette umfassen, Ohrläppchen, Schamlippen, eine herausgestreckte Zunge, einen erigierten Penis als „tabu“ – mithin schädlich – und als für den Massenkonsum nicht geeignet erklären. Alle modernen Bürokratien können dies ohne Probleme handhaben und auf eine effektive Art und Weise handhaben.
Die Zensur stellt das Eindringen in den Bannkreis um den verbotenen Bereich unter Strafe. Dem Zensor bleibt es überlassen, den „Fall“ an den Richter weiterzureichen oder die Übertretung einfach zu tilgen oder vom Verantwortlichen der Übertretung zu fordern.

Einige Beispiele:

  • Als erstes sehe ich Wilhelm Reich vor mir, der, als dessen Schriften bereits auf den Weg in amerikanische Verbrennungsöfen waren, von Beamten angehalten wurde, seine Orgonakkumalatoren vor ihren Augen zu zerstören.
    – Manche Songs auf der LP von Rodriquez’ „Cold Fact“ (1970), die in Amerika floppte und in Südafrika unwahrscheinlich erfolgreich war, wurden dort durch gezielt gesetzte Kratzer unspielbar gemacht.
    – Die schwarzen Punkte, die sich in alten Sexmagazinen über den Schambereichen finden. Als Junge stellte ich mir vor, dass graue Beamte mit Ärmelschoner händisch jeden einzelnen Punkt anbrachten, nachdem sie die „verbotene Abbildung“ genau begutachtet hatten. Abertausende Brustwarzen und Genitalien knüppelhart getilgt: ein enormes Arbeitspensum.

Ziel des mit Zensur einhergehenden Verbotes ist, bestimmte Dinge jenseits der Diskussion zu halten. Sie zu betrachten und zur Diskussion zu stellen heißt schon gegen das Verbot verstoßen zu haben. Um es noch deutlicher zu sagen: Ziel der Zensur ist es, eine Diskussion und die damit mögliche Infragestellung der Tabus zu verhindern, die hinter dem offensichtlichen Verbot stehen. Die Entdeckung der kindlichen Sexualität beispielsweise und die Erkenntnis, dass es sich – wenn es nicht behindert und mit Schuldgefühlen, Drohungen und Strafen gekoppelt ist – um ein gesundes Verhalten handelt, stellte schlagartig die gängigen Erziehungsmuster zum folgsamen Gläubigen und Staatsbürger in Frage. Wilhelm Reich hat dies besonders klar hervorgehoben und konsequent betont.

Sonderbarerweise neigt man bei dem Wort „Tabu“ sofort dazu, an sexuelle Tabus zu denken, also im Wesentlichen an das, was man sich verwehrt, noch nicht getan hat aber vielleicht gern machen würde, phantasiert … Dies hat vermutlich mit der zentralen Stellung der nie enden wollenden sexuellen Unterdrückung zu tun, von der nahezu alle gesellschaftlichen Organisationsformen zehren. Dies verzerrt den Begriff noch mehr, der durch durch diese Verengung eher davon ablenkt, dass auf der anderen Seite eine weitgehend tabulose Wissenschaftsmaschinerie fast ungebremst und mit dem Presslufthammer in heikle Territorien vordringt. Die Atombombe, die Genforschung und die Reproduktionsmedizin sind repräsentativ für diese Entwicklungen. Hier hat ein „Meidungsgebot“ gefehlt und fehlt noch immer. In Zukunft wird sich etwas herausbilden müssen, was dem religiös klingendem „Schützen eines sakralen Raums vor Profanierung“ entspricht und überschießende und potentiell gefährliche Zugriffe auf die Kernzonen des Lebens unterbindet.

Kommen wir noch einmal zu dem Wesen des Verbots zurück. Eine weitgehend tabulose Gesellschaft ist deshalb nicht automatisch eine Gesellschaft ohne Verbote.

Tabus neigen dazu, kriminelle Verhaltensweisen schwerer greifbar zu machen. In gewisser Hinsicht verbergen sich manche besonders destruktive Erscheinungen hinter Tabus.

Die Information über Gewalt gegen Kinder innerhalb der Familie muss immer erst die Schranke der „funktionierenden Kleinfamilie“ überwinden, um nach außen zu dringen. Nach dramatischer ist es bei sexueller Gewalt gegen Kinder, die noch viel stärker tabuisiert ist als „normale Prügel“ und für das Kind noch schwerer nach außen zu bringen ist und es für mögliche helfende Hände noch schwerer machen, in den Bannkreis einer „intakten Familie“ vorzudringen.
In der „tabulosen Welt“ wird die „Heiligkeit“ und Unantastbarkeit der Kernfamilie aufgehoben sein.

Von allen Medien war es vor allem der Film, der wegen seiner suggestiven Kraft und seiner potentiellen Breitenwirkung die Zensoren auf den Plan gerufen hat. Deshalb sind die abschließenden Worte einem unverändert relevanten Werk über den Film entnommen.

„(Das) Thema dieses Buches ist menschliche Freiheit, und ihre Wächter sind zu allen Zeiten und zu allen Zeiten die Rebellen.“ (Vgl. Amos Vogel: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus, Hannibal, 1997) Auch wenn Kunst „niemals an die Stelle der sozialen Tat treten“ kann, „ihre Aufgabe bleibt aber für immer dieselbe: Veränderung des Bewußtseins“ (vgl. Ebda, S. 323).


Wolfgang Wagner, geboren vor mehr als 5 Jahrzehnten. Wandelte sich vom ständigen (und erfolglosen) zum gelegentlichen Textproduzenten. Wurde vor etwa 20 Jahren schlagartig erwachsen, als er aufhörte, nach literarischer Anerkennung zu heischen. Lebt und arbeitet in Graz (Österreich).

 

 

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