Leid und Leidenschaften
Die kongeniale Verfilmung eines phänomenalen Bestsellers. Stieg Larssons Psychothriller „Verblendung“ als fesselndes Mystery-Drama. Dazu die anbetungswürdige Noomi Rapace. Jörg von Bilavsky war im Kino …
Das Licht geht aus. Dunkle, schwebende Harmonien erfüllen im perfekten Dolby-Surround-Sound den gut gefüllten Saal. Die Kinogänger blicken erwartungsvoll auf die noch schwarze Leinwand. Doch was werden die nächsten zweieinhalb Stunden bringen? Enttäuschung oder Erstaunen über die Verfilmung eines unglaublich erfolgreichen Bestsellers? Wird der Film den gleichen Nervenkitzel generieren wie das Buch? Werden die Hauptdarsteller des Films mit den Figuren in den Köpfen der Leser verschmelzen. Vor allem aber: Bildet der Film die komplexen Seelenlandschaften von Jägern und Gejagten, der Täter und der Opfer ab? Die meisten der Anwesenden werden sich diese Fragen stellen, weil die meisten von ihnen Stieg Larssons Thriller „Verblendung“ zuvor schon verschlungen haben dürften. Seine „Millenniums-Trilogie“ ging weltweit 15 Millionen Mal über die Ladentheke oder den online-Versand, in der EU war es 2008 das meistverkaufte Buch.
Man tuschelt …
Doch schon nach den ersten Szenen fangen die Zuschauer an zu tuscheln. Sie gleichen die Bilder in ihrer Fantasie mit denen auf der Leinwand ab und kommen zu dem lapidaren Ergebnis: Hier spielt die Affäre zwischen dem Enthüllungsjournalisten Mikael Blomkvist und der Chefredakteurin des Millenniums-Magazin Erika Berger keine Rolle, dafür wird auf die bösen Kindheitserinnerungen der ebenso gewalttätigen wie genialen Lisbeth Salander zurückgeblendet, von denen erst in den späteren Romanen die Rede sein wird. Auch sonst fehlt das ein oder andere Detail. Wie so oft erwarten die naiven Leser im Kino die Originalkopie des Buches. Enttäuschungen sind da vorprogrammiert.
Gewalt gegen Frauen
Allerdings nicht für diejenigen, die sich auf die filmische Dramaturgie einlassen und ihre Lektüreerlebnisse nur im Hinterkopf abspulen lassen. Sie erkennen rasch die innere Kohärenz des Drehbuchs, die perfekte Verknüpfung der Handlungsstränge, das stilsichere Legen, Verwischen und Aufspüren von Spuren. Keine Frage, Regisseur Niels Arden Oplev und die Drehbuchautoren Nikolaj Arcel und Rasmus Heisterberg haben den dramaturgischen Kern des 700 Seiten starken Opus erfasst und präzise freigelegt. Konzentriert haben sie sich auf den zentralen Aspekt des Romans „Gewalt gegen Frauen“. Vielleicht neben seinem Kampf gegen den Neofaschismus das Lebensthema von Stieg Larsson. Die im Roman als Rahmenhandlung fungierende „Wennerström-Affäre“, Blomkvists zunächst fehlgeschlagene Enthüllungsstory über Korruption, Steuerhinterziehung und Waffenhandel in der schwedischen Wirtschaft blendet der Film aus und somit auch die Frage nach Moral und Unmoral, nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Journalismus wie auch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der enervierende sozialmoralische Impetus vieler Schweden-Krimis bleibt uns erspart.
Die Bilder von gequälten, gedemütigten und grausam getöteten Frauen erzeugen ausreichend Ekel und Abscheu gegenüber Tat und Tätern. Der gesellschaftskritische Kommentar des nordischen Gutmenschen ist genauso überflüssig wie die künstliche Misanthropie diverser Schwedenkommissare. Und so geben Blomkvist und seine gewiefte Assistentin Salander ihrem Entsetzen mimisch den passenden Ausdruck und kämpfen mit nicht immer legalen Mitteln und Methoden gegen die Perversitäten an. Allein so entwickelt sich wirkliche Empathie mit den Jägern und wahre Antipathie gegenüber den Gejagten. Dennoch funktionieren weder Film noch Buch nach einem schlichten Schwarz-Weiß-Schema. Grautöne gibt es mehr als genug. Verkörpert werden sie vor allem durch Lisbeth Salander. Gerade, weil sie immer getreten und gedemütigt wurde, tritt und demütigt sie selbst, aber nur ihre eigenen Peiniger und die anderer misshandelter Frauen.
Lisbeth Salander
Während Mikael Blomkvist mitunter etwas blass und eindimensional wirkt, übt die von Larsson psychologisch äußerst komplex und ambivalent angelegte Figur der Lisbeth Salander eine unglaubliche Faszination aus. Im Buch wie im Film. Noomi Rapace ist im wahrsten Sinne des Wortes in Lisbeth Salanders Haut geschlüpft. Optisch wie seelisch. Ihre Augen sagen mindestens genauso viel wie die Tausende von Worten, mit denen Larsson ihr Schicksal und ihre Verletzungen andeutet. Ihre Mimik, ihre Motorik, vor allem aber ihre Blicke lassen tief in ihre Seele blicken, ohne dass wir sie genau ergründen können. Wir werden genauso wenig schlau aus ihr wie Blomkvist, der ihr näher kommt als jeder andere Mensch in ihrem Leben. Die eigentliche Mystery dieses Thrillers verbirgt sich nämlich nicht in der Suche nach dem Mörder einer vermeintlich oder tatsächlich verschwundenen Frau, sondern in der Suche nach den Defekten in den Seelen der Verwundeten.
Allerdings gibt sich der Film wenig Mühe, die Motive des Täters genauer zu ergründen. Wie aber erklärt sich die bloße Lust am Töten und Quälen wehrloser Frauen. Was treibt einen scheinbar unbescholtenen Bürger zur grausamen Gewalttat? Leid oder Leidenschaft etwa? Diesem psychologischen Rätsel vermag weder das Buch, aber noch weniger der Film zu klären. In der cineastischen Variante wird der sich lange als allmächtig fühlende Täter am Ende zum Feigling degradiert. In der belletristischen Version hingegen ist er am Schluss noch bis zu einem gewissen Grad Herr über sein eigenes Schicksal. Aber solche vage Abweichungen und Andeutungen wiegen nicht allzu schwer. Bedenkt man, mit wie viel Einfühlungsvermögen die Schauspieler sich die Charaktere angeeignet haben und mit welchem dramaturgischen Know-how der komplexe Stoff sich in übrigens sehr beeindruckende Bilder verwandelt hat. Wollen wir hoffen, dass uns der für Februar 2010 angekündigte zweite Teil der Trilogie „Verdammnis“ ebenso überzeugt.
Jörg von Bilavsky
Stieg Larsson: Verblendung (Män som hatar kvinnor, 2006). Roman. Deutsch von Wiebke Kuhn. München: Heyne 2009. 688 Seiten. 9,95 Euro.
Verblendung (Basierend auf der Romanvorlage Verblendung von Stieg Larsson)
Deutschland, Schweden, Dänemark/F 2008. R: Niels Arden Oplev. B: Nikolaj Arcel, Rasmus Heisterberg. K: Eric Kress. S: Anne Østerud. P: Søren Stærmose. D: Michael Nyqvist, Noomi Rapace, Lena Endre, Sven-Bertil Taube, Peter Haber, Peter Andersson, Marika Lagercrantz, Ingvar Hirdwall, Willie Andréason, Björn Granath, Ewa Fröling, Per Oscarsson, Michalis Koutsogiannakis, Annika Hallin, Sofia Ledarp, Thomas Köhler, David Dencik, Stefan Sauk, Gösta Bredefeldt, Fredrik Ohlsson, Gunnel Lindblom. 151 Min.