Geschrieben am 15. November 2018 von für Crimemag, CrimeMag November 2018

Cloé Mehdi „Nichts ist verloren“ (Textauszug)

Nichts_ist_verloren_Cloe_Mehdi_600Prolog

So, es ist so weit, ihr habt ihn gefunden. Da ist er.
Er läuft vor sich hin, hat die Hände in den Taschen vergraben, den Blick gesenkt, als spürte er instinktiv die Bedrohung. Er ist hier nicht in Sicherheit, das weiß er. Er hätte nicht erneut seine Füße in diese Stadt setzen sollen. Er hat hier nichts verloren. Weil das feindliches Gebiet ist, weil man nicht vergessen hat, was passiert ist, und Rache will.
Ihr lauft hinter ihm her, Seite an Seite, den Blick auf seinen Nacken geheftet. Ihr habt beide den gleichen Gedanken, aber wollt ihn nicht aussprechen: »Und was tun wir jetzt?« Ihr wisst es nicht. Ihr habt nicht darüber nachgedacht. Ihr habt ihn gefunden, das war’s auch schon.
Er nähert sich dem Portal, durch das man auf die Straße gelangt, und lässt das Krankenhausgelände hinter sich. Ihr wartet ein paar Sekunden und schließt euch dann einer Besuchergruppe an, um ihm zu folgen. Ihr habt eure Kapuzen über den Kopf gezogen, damit man euch später nicht auf den Bildern der Überwachungskamera, die über dem Eingangsbereich angebracht ist, identifizieren kann.
Da ist er, am anderen Ende der Straße. Ihr beschleunigt eure Schritte, um ihn einzuholen. Und jetzt? Irgendwann wird er merken, dass ihr ihm folgt. Ihr seid keine Profis, ihr seid keine Bullen. Er kennt eure Gesichter. Und ihr fragt euch erneut, ob er wohl schlaflose Nächte hat beim Gedanken an euch, beim Gedanken an ihn, an das, was er ihm angetan hat, und was keiner wiedergutgemacht hat.
Macht euch nichts vor: Ihr seid keine Racheengel. Gebt es auf. Ihr habt keine Waffe, niemand nimmt euch in Schutz, ihr habt nichts, ihr seid nichts, und eben darum ist es so weit gekommen. Ich flehe euch an, gebt auf. Das Feuer ist erloschen, so ist es nun einmal. Die Leute haben es vergessen. Niemand wird euch helfen. Niemand wird euch verzeihen.
Fünfzehn Jahre ist es nun schon her. Es ist zu spät. Man hätte sofort etwas tun müssen. Aber ihr wart noch zu jung. Zu wütend. Und die, die etwas hätten tun können, haben es vorgezogen, sich an die Spielregeln zu halten. Wie kann man es ihnen verübeln?
Ihr wisst, dass ihn das nicht wieder lebendig macht. Also, was wollt ihr damit bezwecken? Das Gleichgewicht wieder herstellen?
Dreht um. Wenn ihr euch weigert, das Spiel mitzuspielen, werden sie es euch hundertfach heimzahlen. Sie haben das Recht zu tricksen, aber ihr nicht, keiner hat behauptet, dass das gerecht wäre.
Er verschwindet im Bus, ihr auch.
Die Nacht verschluckt euch

Erstes Kapitel

Einige Monate früher

Gestern Nachmittag beim Einparken in der Nähe des Krankenhauses fiel es mir ins Auge, ein Graffito in roter Farbe an einer Fabrikmauer, auf der schon zig andere waren. Es zeigte das Gesicht eines Jugendlichen, und darunter stand: »Gerechtigkeit für Saïd.«
Das kam mir komisch vor, klar. Schließlich kannte ich dieses Graffito gut. Als ich klein war, prangte es an sämtlichen Mauern meines Viertels, aber mit der Zeit waren die Umrisse verblasst, und die Erinnerungen auch.
Am nächsten Morgen war die Wand weiß überstrichen. Die anderen Graffiti waren unwichtig, aber dieses hier durfte nicht wieder auftauchen, das konnte man nicht zulassen.
Fast hätte ich Zé darauf angesprochen, als wir daran vorbeigingen. Ich fing seinen finsteren Blick auf. Da schwieg ich lieber.
Wir waren auf dem Weg zu Gabrielle, nichts anderes zählte für ihn, schon gar nicht das Gesicht eines Jungen, der seit fünfzehn Jahren tot war.
Ein Krankenhausbett.
Gabrielles Gesicht ist blass, in ihrer Armbeuge steckt eine Nadel, ihre Handgelenke sind bandagiert. Sie atmet langsam und tief. Die Fensterläden sind halb geschlossen, ein düsterer Mittwoch im Oktober. Draußen ist es kalt. Das Krankenhaus ist gut geheizt.
Sie hat die Augen weit geöffnet, starrt seit Tagen an die Decke. Zé sitzt am Bettende, hat ein Buch in der Hand, die Méditations poétiques von Lamartine. Sie sagen beide nichts. Sie sehen sich nicht an. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, eine einzige große Leere. Daher auch die Bandagen, die Infusion und das Krankenhaus.

Eine Krankenschwester betritt das Zimmer, um die vierzig, Falten um die Augen, eine kleine Narbe am Hals. Sie beachtet Zé nicht weiter, sie ist es schon gewohnt, dass er hier über ein Buch gebeugt sitzt. Sie geht direkt auf das Bett zu, begrüßt Gabrielle mit einem »Hallo«, das etwas schroff klingt. Sie ist müde. Das merkt man. Weder der Mann noch die Frau sehen sie an. Sie entfernt die Nadel, hat eine sterile Kompresse in der Hand, die drückt sie auf die winzige Einstichstelle in der Armbeuge, befestigt sie mit einem Heftpflaster. Sie schickt sich an, das Zimmer zu verlassen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sie macht ihre Arbeit nicht schlecht, das nicht. Das tiefe Schweigen, das im Raum herrscht, ist nun mal ansteckend.
Aber in dem Moment sieht sie mich und zuckt zusammen.
»Was ist …«
Diese Worte reißen Zé aus seiner Lektüre heraus. Er wendet sich zu ihr um, dann zu mir, als hätte er vergessen, dass ich da bin.
»Was ist das für ein Kind?«
»Unwichtig«, antwortet er (vielen Dank auch). »Das ist nur mein Mündel.«
»Ihr Mündel?«
Sie blickt von einem zum anderen und fragt sich, wie wir altersmäßig zusammenpassen.
»Auf dieser Station sind Kinder unter fünfzehn Jahren nicht zugelassen, Monsieur.«
»Okay, bezahlen Sie mir einen Babysitter? Ich kann mir das nämlich nicht leisten. Seien Sie so nett und lassen uns in Ruhe. Das ist hier eine rein familiäre Angelegenheit.«

Sie mustert ihn. Ich sehe, wie sie wütend wird. Im Laufe der Jahre haben sich viele solcher Momente der Wut angehäuft, Jahre, in denen sie immer darum bemüht war, ihrem Berufsethos und ihrem Bestreben nach Menschlichkeit treu zu bleiben, trotz ihrer Verbitterung und ihrer schwierigen Arbeitsbedingungen. Jede neue Demütigung ruft ihr vermutlich all die anderen Demütigungen in Erinnerung. Zé hat sich bereits wieder abgewandt und ist erneut in die Lektüre der Méditationsvertieft. Zé kann ein richtiges Arschloch sein, wenn er will. Er liest noch nicht mal. Lamartine kennt er auswendig.
Die Krankenschwester lässt die Schultern sinken. Sie rastet an einem anderen Tag aus. Das wird nicht mehr lange dauern, denke ich. Vielleicht beleidigt sie dann einfach nur einen Patienten. Oder sie erhöht die tägliche Kalisalz-Dosis, die sie einem anderen Patienten injiziert. Schon ein paar Gramm mehr können tödlich sein, und anschließend kann man es als bloßen Dosierfehler hinstellen. Oder sie kommt eines Morgens mit einer Pumpgun ins Krankenhaus. Zé sagt, ich hätte zu viel Fantasie.
»Sie können ruhig etwas freundlicher sein, Monsieur. Ich verstehe, dass Sie nervös sind, aber das müssen Sie nicht am Personal auslassen.«
Sie verlässt den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie hätte sowieso keine bekommen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Zé sie überhaupt gehört hat. Und wenn doch, ist es ihm scheißegal. Es ist ihm so ungefähr alles scheißegal, außer ein paar Dichtern, aber nur ganz bestimmten. Und natürlich Gabrielle.
Ihre Handgelenke sind verbunden. Man kann die mit Betadine getränkten Stiche nicht sehen, und auch nicht, wie groß die Wunden waren, bevor sie sie zusammengenäht haben. Das Krankenhaus ist sauber, hygienisch. Die Verbände auch. Nicht so wie die Rückbank vom Auto, auf der Zé und ich sie gefunden haben, mit leerem Blick, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezo- gen hat.
Sie starrt an die Decke. Das tut sie schon die ganze Zeit, seit wir da sind.
Ich beobachte sie beide, sie beachten mich nicht, dann wende ich mich wieder meinem Englischbuch zu. Das Pflegepersonal läuft hin und her, ist immerzu am Laufen. Auch die Patienten laufen hin und her, aber sie haben es weniger eilig. Sie treten vor die Tür, um frische Luft zu schnappen, oder stellen sich vor die Kaffeemaschine. Es ist wie eine Fabrik mit ihren Arbeitern, ihren Maschinen, ihren Vorarbeitern, ihren eigenen Gesetzen.
Gabrielle ist seit einer Woche hier. Ihre Genesung schreitet nur langsam voran. Zé sagt, sie ruhe sich aus.
Die Stille in ihrem Zimmer wird von Tag zu Tag größer.
Zé hat mich auf dem Pausenhof abgeholt. Meine Klassenkameraden sind zur Seite gewichen, als diese große, in sich zusammengesunkene, seltsame Gestalt im übergroßen Regenmantel auftauchte – er sah echt aus wie ein Pädophiler – und die Lehrer stellten sich ihm in den Weg, aber ich sagte: »Das ist mein Vormund.« Keiner wollte mir glauben. Er hatte damit gerechnet und zog das Papier des Familiengerichts hervor, als handele es sich um ein Gottesurteil.
Er sagte:
»Ich brauche dich, du musst bei ihr Wache halten.«
Und ich verstand:
»Ich brauche dich, du musst bei mir Wache halten.«
Das bedeutet, ich gehe seit zwei Tagen nicht zur Schule. Nicht, dass ich da groß etwas versäume …

Cloé Mehdi: Nichts ist verloren (Rien ne se perd, 2017). Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Polar Verlag, Stuttgart 2018. Hardcover, 312 Seiten, 18 Euro. Verlagsinformationen.

Ihr Roman wurde alleine im frankophonen Raum bereits mit sieben Preisen ausgezeichnet. Eine Besprechung von Katharina Schmitz – „Leuchtender Schmerz“ – in „derFreitag“ hier.

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