Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Friedrich Ani, Textauszug „Ermordung des Glücks“

 ani glück 42755„Hörst du, wie sie schweigen, Lennard?“

Sie sagen mir nicht, was auf dem Heimweg meines Sohnes geschehen ist, Herr Kommissar, Sie haben versprochen, das Rätsel zu lösen. Wir warten immer noch auf das erlösende Wort, mein Sohn und ich, wir sitzen hier und war- ten, und ich weiß nicht, ob ich noch länger Geduld haben mag.

   Dunkel war’s, es regnete unaufhörlich, und der Regen und sein Mittäter, der Wind, verwischten alle Spuren, war’s nicht so? Zwei Stunden hab ich Ihrem Kollegen zugehört; er hat mir erklärt, wie die Polizei mit Supertechnik die Gegend durchsucht hat, stundenlang, tagelang, klang ein- drucksvoll. Aber der Regen halt; und der Sturm halt; und die Sonne war auch schon untergegangen; und kein Zeuge weit und breit; kein Mensch hat halt was gesehen.

   Kannst du das glauben, Lennard? Dass niemand auf der Straße war, als du aus der Schule kamst und im strömenden Regen dein Radl gesucht hast; der ganze Stadtteil menschenleer? Hab den Kommissar gefragt, ob denn keine Straßenbahnen gefahren sind, er sagte: dochdoch, auch Taxis, Autos überhaupt, dochdoch. Wahrscheinlich saßen in allen Fahrzeugen Blinde oder Insassen mit siebzehn Dioptrien und beschlagenen Brillen.«

***

   »Wir gehen den Weg allein, Herr Pfarrer, im Vertrauen auf Gott, den Herrn, heißt’s. Was kann Gott, der Herr, gegen ein Unwetter ausrichten? Offensichtlich nichts; wehrlos im Himmel, schlechte Sicht, lausiger Tag. Ich kam an einem Supermarkt vorbei; da kaufst du dir manchmal eine Cola oder was Süßes, was genau, verrätst du mir nicht. Musst du nicht; fällt nicht unter Unehrlichkeit, ist bloß ein Spiel; wenn ich rausfind, was du dir gekauft hast, gibst du’s gleich zu und musst gestehen, dass ich schlauer bin als du, zumindest ab und zu. Die Kassiererin kennt dich, hab ihr ein Foto von dir gezeigt, sie sagt, du bist ein höflicher Junge, auch ein wenig schüchtern; sie sieht dich oft; nicht oft genug; am Abend vom achtzehnten November saß sie bis acht an der Kasse, du kamst nicht rein; sie ging nicht raus zum Rauchen, wie sonst, hat sie gesagt, draußen hat’s gestürmt, und sie blieb im Trocknen, das kann man gut verstehen.

   Ging den Weg allein, die Eintrachtstraße runter, am Gasthaus vorbei, in dem wir jetzt sind, und ich hab überlegt, ob ich reingehen und mich aufwärmen soll, einen Tee mit Rum oder einen Obstler trinken. Hab’s nicht getan; hatte keine Zeit; hab meinen Schirm mit beiden Händen festgehalten, damit er nicht wegfliegt. Nicht weinen, hab ich zu mir gesagt, wieso weinst du denn? Dann hab ich begriffen, dass ich gar nicht wein, sondern der Regen mir dauernd seine Tränen ins Gesicht wirft. Das musst du mir schon glauben, wenn ich’s sag.

   An der Friedhofsmauer entlang bin ich gegangen, in die Regerstraße eingebogen, bis ich wieder zu Haus war. Un- terwegs hab ich jeden gefragt, der mir entgegenkam: Haben Sie meinen Sohn gesehen? Haben Sie meinen Sohn gesehen? Haben Sie meinen Sohn gesehen? Und sie sagten: neinnein; alle sagten: neinein. Sie haben mich belogen, hab ich recht, Lennard?

   Und der Junge, der dein Radl geklaut hat, behauptet, er würd dich nicht kennen; die Polizei ließ ihn laufen, er ist bloß ein Dieb, sagen sie, außerdem hätt er das Radl freiwillig wieder zurückgebracht. Kann schon sein. Mag ja sein. Er hat das Radl zurückgebracht, aber ohne dich drauf.

   Was nützt mir denn das Radl, wenn du nicht auf dem Sattel sitzt und fährst? Was hat so ein Radl dann für einen Sinn? Können Sie mir das erklären, Herr Kommissar? Herr Pfarrer? Ist einer hier, der ehrlich zu mir ist?

   Hörst du, wie sie schweigen, Lennard?«

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung aus:

Friedrich Ani: Die Ermordung des Glücks. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 317 Seiten, 20 Euro. Verlagsinformationen.

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. 

46720„Die Ermordung des Glücks“ folgt dem Exkommissar Jakob Franck aus dem mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Der namenlose Tag. Das Glück wird ermordet, als der elfjährige Lennard Grabbe im kalten Novembermünchen nicht nach Hause kommt und 34 Tage später als Mordopfer aufgefunden wird. Jakob Franck muss den Eltern die schrecklichste aller Nachrichten überbringen – und das Glück verschwindet. Das auch bei mit Lennard in Verbindung stehenden Personen. Während die Sonderkommission auf der Stelle tritt und die Familie keinen Weg findet, mit dem Verlust umzugehen, vergräbt Franck sich bis zur Erschöpfung in Zeugenaussagen und Protokollen, verbringt Stunden am Tatort und bedient sich seiner speziellen Technik der Gedankenfühligkeit – immer in der Hoffnung, das „Fossil“, den einen ausschlaggebenden Faktor zur Aufklärung des Falls, ans Licht bringen zu können. Antrieb sind ihm dabei auch die schmerzhaften Erinnerungen an die ungelösten Mordfälle seiner Karriere.

Friedrich Anis Hommage an Cornel Woolrich bei CrimeMag: „Kriminalschriftsteller sind die letzten Romantiker, wussten Sie das nicht?

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