Nachruf auf Yu-chien Kuan / Guan Yuqian
Je älter ich werde, desto weniger Menschen gibt es, die ich um ihr Leben und ihre Persönlichkeit beneide. Das war als jüngerer Mensch sicher anders, doch je älter man wird, desto gewisser ist man auch, dass sich noch hinter dem strahlendsten Gesicht etwas nicht ganz so Strahlendes verbirgt. Bei Guan Yuqian / Yu-Chien Kuan war das anders. Ihn habe ich beneidet, zumindest ein bisschen. Nicht unbedingt um sein Leben, aber auf jeden Fall um seine Persönlichkeit.
Eigentlich musste einem aber auch sein Leben Bewunderung abnötigen. 1931 im südchinesischen Guangzhou (Kanton) geboren, wuchs er bei seiner Mutter – der Vater war im Untergrund – in Shanghai auf. Hier lernte er nach dem Ende des zweiten Weltkriegs auch rasch Englisch, weil er für die amerikanischen GIs in der Stadt als Laufbursche Besorgungen machte.
Als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 vom Tor des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China ausrief, stand Yuqian unten auf dem Platz. Er wäre gerne Englischdolmetscher geworden, um beim Aufbau des Landes zu helfen und weil er die Sprache schon konnte, doch man brauchte Russischübersetzer; so studierte er halt diese Sprache und wurde Dolmetscher für die sowjetischen Experten im Land. Kaum hatte er sich eingearbeitet, geriet er 1958 in die Mühlen der „Kampagne gegen Rechtsabweichler“ und wurde nach Qinghai ins tibetische Hochland verbannt. An den Entbehrungen, die er hier erlitt, wäre er am Ende fast gestorben, hätte sein Vater, der inzwischen ein hoher Kader im Staatsrat war, nicht dafür gesorgt, dass der Sohn zurück nach Peking kam.
Als Yuqian im Verlauf der Kulturrevolution wieder in die Schusslinie geriet, entschloss er sich zu einer halsbrecherischen Flucht, die ihn statt nach Paris allerdings nur bis Kairo führte. Hier wurde er für anderthalb Jahre in ein berüchtigtes Gefängnis gesperrt, während sich die Geheimdienste der Welt um den prominenten Gefangenen stritten. Schließlich sorgte das Rote Kreuz dafür, dass Guan Yuqian 1969 nach Deutschland ausreisen konnte, wo er zunächst in Münster, dann in Hamburg landete. Hier studierte er noch einmal und wurde 1974 in Sinologie promoviert. Am wichtigsten aber war wohl, dass er in Hamburg seine spätere Frau Petra Häring kennenlernte.
Ich habe wohl in meinem Leben noch keine Person mit einer ähnlich aufregenden Lebensgeschichte kennengelernt. Was mir aber immer am meisten an Yuqian imponierte, war die Tatsache, wie souverän er jede neue Lebenssituation meisterte und das jeweils Beste aus ihr machte. In der Verbannung arbeitete er als Fotograf für ein Blatt in der Provinzhauptstadt und fing diverse Liebschaften an; im ägyptischen Knast gelang es ihm, sich den Respekt eines Unterweltkönigs zu erwerben, der insgeheim das ganze Gefängnis kontrollierte. Der stellte Yuqian unter seinen persönlichen Schutz. Auch im Deutschland der Siebziger fand er sich schnell zurecht.
Anfangs vermutete ich, ein echtes Glückskind vor mir zu haben, denn auch solche Menschen soll es ja geben, denen mehr oder weniger durch Zufall alles gelingt. Doch ich glaube, das war es nicht. Die Anerkennung, die ihm schnell in den unterschiedlichsten Milieus zuteil wurde, verdankte sich hauptsächlich seinem großen Wissen, das gepaart war mit ebenso großer Freundlichkeit, Humor, Ironie und einer allgemeinen Weltoffenheit. Dazu gesellte sich eine große Neugier für alles und jeden, die auch im Alter nicht erlosch. Dass durfte ich selbst erfahren, nachdem ich Petra und Yuqian vor neun Jahren persönlich kennengelernt hatte.
Kaum zu ermessen ist, was die deutsch-chinesischen Beziehungen Yuqian zu verdanken haben. In Hamburg hat er gleich mehreren Generationen von Sinologen Chinesisch beigebracht und in ungezählten Büchern und Artikeln hat er zusammen mit Petra versucht, Deutschen und Chinesen das jeweils andere Land zu erklären. Auch deutsche Politiker wurden von Yuqian beraten, unter ihnen Ex-Kanzler Helmut Schmidt, weshalb dieser sich wenigstens zu China immer wieder vernünftig äusserte, denn auch ein von Vernunft geleiteter Pragmatismus war ein Wesenszug von Guan Yuqian.
Dabei hätte er nun wirklich allen Grund gehabt, als verbitterter Dissident zu enden. Doch eben das entsprach nicht seinem Charakter. So kehrte er auch recht bald, nachdem es ihm erlaubt wurde, immer wieder zu langen Besuchen nach China zurück, um danach in Deutschland noch präziser und differenzierter das chinesische Modell erklären zu können, und zwar ohne dabei in unkritische Affirmation zu verfallen. Ich habe viel in Gesprächen mit ihm und Petra – ich traf sie immer zusammen – profitiert.
Als bei Yuqian vor nun mehr als zwei Jahren Krebs diagnostiziert wurde, entschied er sich – wie Petra jetzt auf WeChat schrieb -, auch daraus das Beste zu machen. Petra und er begannen noch einmal fast den gesamten Globus zu bereisen: Nord- und Südamerika, Europa und Asien. Erst vor ein paar Wochen fühlte sich dann Yuqian dazu zu schwach. Am 22. November, um die Mittagszeit, ist er im Alter von 87 Jahren in Berlin gestorben. Ein großer Mann und einer der wenigen, die ich wirklich bewundert und ein wenig beneidet habe. Ich bin sehr traurig, genauso wie meine Frau Yingxin.
Christian Y. Schmidt

Anmerkung: Die unterschiedliche Schreibweise des Namens erklärt sich durch verschiedene Umschriften. Yuqian (das ist sein Vorname) hat in Deutschland unter dem Namen Yuchien bzw. Yu-chien bzw. Y.C. Kuan veröffentlicht. (Das ist die alte Wade-Giles-Umschrift, nicht das heute hauptsächlich verwendete Pinyin.) Außerdem hat er die Namensreihenfolge den Gepflogenheiten im Westen angepasst. In China kommt der Nachname zuerst, ganz so wie in Bayern. Der Wikipedia-Eintrag über ihn ist insofern falsch, als er in Sinologie, und nicht in Geschichte promoviert wurde.
Christian Y. Schmidt, 1956 geboren, war von 1989 bis 1996 Redakteur der «Titanic». Seitdem arbeitet er als freier Autor, u. a. für FAZ, SZ, taz, Stern, konkret, NZZ, Zeit sowie für verschiedene Fernsehredaktionen. Er ist Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und war Gesellschafter und Redakteur des Weblogs «Riesenmaschine». 2003 zog er nach Singapur, 2005 nach China. Er lebt heute in Berlin und Peking, hat etliche Bücher veröffentlicht, so etwa „Bliefe nach dlüben. Der China-Crashkurs“ oder „Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu“.
2018 erschien sein erster, vielbeachteter Roman: „Der letzte Hülsenbeck“. CulturMag mit zwei Stimmen dazu hier.