Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Karan Mahajan „In Gesellschaft kleiner Bomben“ (Textauszug)

Cover_Mahajan_web_300Erst war er blind, dann konnte er alles sehen…

Kapitel 0

Der Bombenanschlag, bei dem Mr. und Mrs. Khurana nicht anwesend waren, breitete sich flach und dröhnend aus und hatte seinen Ursprung unter der Kühlerhaube eines geparkten weißen Maruti 800, wobei dieses Detail, das Detail mit dem Wagen, natürlich erst später bestätigt werden konnte. Ein ordentlicher Bombenanschlag hat überall gleichzeitig seinen Ursprung.

Ein überfüllter Markt hat auch überall gleichzeitig seinen Ursprung, und Lajpat Nagar war beispielhaft für dergleichen Getümmel. Seine Stände bildeten einen unförmigen Sumpf, aus dem hier und dort Gesichter und Rollwagen und verwachsene Bettler wie Blasen aufstiegen. Wahrscheinlich herrschten auf seiner gesamten Fläche vier Jahreszeiten gleichzeitig, und sie waren alle heiß. Wenn man von einem Ende des Markts zum anderen gelangt war, hatten sich die Holzkarren mit ihren glänzenden Aluminiumrädern schon wieder so umgruppiert, dass es sich eigentlich gar nicht mehr um denselben Markt handelte, den man betreten hatte: Es war ein Heisenberg’scher Albtraum aus Bewegung und Mehrdeutigkeit. Im Grunde hatte niemand wirklich den geparkten Wagen bemerkt, bis er in einer schwindelerregenden Scherbenwolke auseinanderflog.

Von seltsamen Beobachtungen wurde berichtet. Ein blaues Dach aus Fiberglas ploppte von einem Laden und knallte wenige Meter entfernt auf einen Bus. Der Bus bremste, das Dach rutschte nach vorn, ließ einen prächtigen Sandstrahl herabströmen und fiel zu Boden. Der Bus fuhr an, es zerbarst unter seinen Reifen, er fuhr weiter, die Passagiere waren benommen, fast belustigt. (Wenn etwas in einem Teil einer Großstadt geschieht, ist keiner der anderen Teile auch nur verblüfft.) Auf dem Markt brachen Menschen zusammen, rappelten sich wieder auf, pressten die Hände auf ihre Wunden, als hätten sie unter Hypnose Eier an ihren Körpern zerdrückt und wüssten jetzt nicht recht, was sie mit dem auslaufenden, blutigen Eigelb machen sollten. Was sowohl die Überlebenden als auch die Rettungskräfte am meisten verwunderte, war die Erkenntnis, wie fest der staubige Hauptplatz mit einem halben Dutzend riesiger Bäume verwurzelt war, Bäume, die in all den Jahren nahezu unbemerkt geblieben waren, ihre Schatten trüb vom Handel, ihre Äste gekrümmt unter den Waren, die daran hingen, ihre Maulbeeren abgesammelt und verkauft – bis die Bombe die grüne Lunge der Bäume löste und als Blätterschwall abwarf, den Mr. Khurana vom Boden aufwirbelte, als er versuchte, die Körper seiner beiden Söhne zu finden.

Die Blätter waren trocken, selbst nichts weiter als Bruchstücke, und sie konnten ihm nichts offenbaren. Seine Söhne lagen tot in einem nahen Krankenhaus, und er war zu spät gekommen.

Die beiden Jungs machten die Gesamtheit von Khuranas Kindern aus. Sie waren elf und dreizehn Jahre alt und begierig darauf, Botengänge erledigen zu dürfen. Und an diesem besonderen Tag waren sie mit einem Freund in einer Autorikscha unterwegs gewesen, um den alten Onida-Farbfernseher abzuholen, der zum vielleicht zehnten Mal dem Elektriker anvertraut worden war. Aber wann immer Mr. Khurana von seinen Freunden gefragt wurde, was die Kinder dort zu suchen hatten (der Junge, der sie begleitet hatte, war mit einem Knochenbruch davongekommen), sagte er: »Sie wollten meine Uhr vom Uhrmacher abholen.« Seine Frau hielt ihn nicht davon ab, vielmehr beteiligte sie sich an seiner Lüge. »Alle Uhren waren stehen geblieben«, sagte sie. »Deshalb wusste man, um wie viel Uhr die Bombe explodiert war. Man hat die durchschnittliche Zeit aller stehen gebliebenen Uhren am Uhrmacherstand errechnet.«

Warum logen sie, warum jetzt? Nun, sie hätten sonst gegenüber ihren ausgesprochen erfolgreichen Freunden zugeben müssen, dass ihre Kinder nicht nur zwischen all den Armen gestorben waren, sondern dass sie einen Botengang unternommen hatten, der ganz und gar nach Armut roch – einen alten Fernseher reparieren zu lassen, der mittlerweile gegen eine von diesen sich selbst finanzierenden ausländischen Marken ausgetauscht sein müsste –, und das hätte in diesen tragischen Wochen, die auf den Bombenanschlag folgten, die letzten extrem angespannten Nerven zerrissen, die sie noch zusammenhielten. Natürlich waren sie arm, jedenfalls im Vergleich zu ihren Freunden, und nicht einmal das glatteste Englisch, das aus ihren Mündern strömte, konnte daran etwas ändern. Keine geschluchzten viktorianischen Sätze und keine Selbstvorwürfe im Gespräch mit den Moderatoren, die in Oxford studiert hatten und die sie jetzt auf The News Tonight interviewten, die ihre Wut schürten, konnten sie oder ihre toten Kinder im Glanz vorherbestimmten Erfolgs erscheinen lassen: Mr. und Mrs. Khurana waren vierzig und vierzig, sie hatten die prägende Tragödie ihres Lebens erlitten, und damit waren alle anderen konkurrierenden Tragödien zu bloßen Existenzumständen degradiert worden. Während des folgenden Monats behalfen sie sich ohne den Fernseher, der, soweit sie wussten, immer noch im Keller der Werkstatt des Elektrikers stand, die verborgenen Kojen der Microchips mit einer dicken Staubschicht überzogen, der Bildschirm abgeschraubt und blind auf dem Boden. Sie konnten nur einen Blick auf ihre Gesichter in The News Tonight werfen, weil ein Nachbar bei ihnen klopfte und sie zu sich nach Hause einlud, um die Nachrichten zu sehen. Seitdem behandelte er sie sehr freundschaftlich.

Plakat_MahajanMr. Khurana, der unter nervösen Schlafstörungen litt, seit er vor Jahren beschlossen hatte, Dokumentarfilmer zu werden, wurde von nun an von Träumen heimgesucht, die ihn tief verstörten, und er ließ keine Gelegenheit aus, sie mit seiner Frau oder seinen Mitarbeitern zu diskutieren. Er erwähnte nicht, wie sehr er sich während ihres nächtlichen Abspulens ängstigte, oder dass er wie ein Kleinkind in der Armbeuge seiner Frau schlief, der Körper von Schweiß überströmt, seine Beine rotierend wie die Flügel eines defekten Ventilators. Aber die Träume waren wirklich bemerkenswert, und in dem ersten und häufigsten wurde er für einige Minuten selbst zur Bombe. Wie er sich fühlte, lässt sich am besten so beschreiben: Erst war er blind, dann konnte er alles sehen. So fühlte es sich an, eine Bombe zu sein. Du warst zusammengerollt, von erhabener Schwärze, wusstest nichts von dem Universum, das außerhalb von dir existierte, und dann barst ein Draht und riss dir die Augenlider weit auf, und du hattest einen 360-Grad-Blick auf die Welt, und alles in Reichweite war dadurch, dass du es sehen konntest, dem Untergang geweiht.

Im Traum war der Markt – auf dem er viele Male, üblicherweise mit hochgeschlagenem Kragen, gewesen war – so lebendig in seinen Gedanken, so dreidimensional, dass er manchmal traumstundenlang bei Kleinigkeiten verweilte. Ein einzelner Fuß, der in einem der dunklen Ladenwürfel gelandet war, wurde gangränös und ungeheuer bedeutungsvoll; er trat ihm jedes Mal von innen direkt gegen die Schläfe und weckte ihn, bevor er sehen konnte, wie die Kinder durch die Ladenfront flogen, vor der sie mit dem Gesicht nach unten gefunden worden waren, mit einer Schärpe aus Blut, die sich unter dem geschwärzten Baumwollstoff auf ihren Rücken abzeichnete.

Morgens weckte er dann Mrs. Khurana, und sie schliefen auf schaurige Weise leidenschaftlich miteinander, heftiger als nötig, innerlich grässlich übersäuert, und dann ließen sie ihre schlaffen Körper aufeinandersinken und weinten, sodass Mrs. Khurana, wenn sie am Abend von ihren Erledigungen heimkehrte und das Bett zurückschlug, zwei parallele Salzstreifen vorfand, die anzeigten, wo sie am Morgen mit ihren tränennassen Schultern gelegen hatten.

Aber sie beide waren dankbar dafür, dass sie einander hatten, dafür, wie wenig sie in Erinnerungen schwelgten, wie sie sich weigerten, den Schmetterlingseffekt rückwirkend auf ihr Leben anzuwenden oder sich mit Was-wäre-wenns zu zerfleischen; dass keiner dem anderen Vorwürfe machte, weil die Kinder an dem Abend eine vom Mai-Smog stickige Autorikscha nach Lajpat Nagar genommen hatten. Warum sich quälen, wenn der gesamte Schaltkreis ihrer Gehirne neu verkabelt war, um immer wieder Trauerflammen zu zünden? Warum sich mit Gesprächen quälen? Du hebst den Löffel aus der Umklammerung eines dickflüssigen Eintopfs und weinst. Du schließt deine Hand um die Armlehne eines Busses (manchmal war Deepa Khurana mit den Kindern zum Lehrer-Eltern-Ausschuss in die Schule gefahren), und es ist, als wäre der brennende Stahl nur der Erde entrissen worden, um dich an die Hitze im Kern zu erinnern, zu dem deine Kinder nun zurückgekehrt waren. Unter der Dusche gibt es den Umriss deines Körpers, um den das Wasser herumfließt, dann folgt ein Schnauben und trockenkehlige Stille, in der du dich mit derselben Seife einreibst, mit der du, wie du dich erinnerst, schon die Schultern deiner Söhne abgeschrubbt hast. Nichts ist vor Bedeutung sicher. Die Jungs hatten alle Möglichkeiten dieser Welt zwischen sich verwahrt: Nakul war gut aussehend und sportlich gewesen, Tushar füllig und verantwortungsvoll – was spielte das für eine Rolle? Wer könnte schon sagen, dass sie so geblieben wären? Wer könnte euch, Mr. und Mrs. Khurana, schon sagen, dass ihr etwas verloren habt, das ihr kanntet?

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Karan Mahajan – Foto: CulturBooks

Bei der Feuerbestattung, die am stufenförmigen Ufer eines Kanals des Yamuna River stattfand, der mit tausend gekräuselten Ölaugen besprenkelt war und in dessen heilendem trüben Wasser tief verwurzelt Ranken von verwilderten hypochondrischen Pflanzen wucherten, bemerkte Mr. Khurana, dass außerhalb des Kreises aus brennendem Fleisch und Holz kleine, rotznasige Kinder nackt herumrannten und mit aufrecht stehenden Gummireifen spielten. Hinter ihnen hatte sich eine Kuh in Seilen verfangen und fraß Asche, und die wilden Dorfkinder traten ihr in den Bauch. Er hätte es nicht tun sollen, aber mitten während des letzten Gebets trat Mr. Khurana vor und brüllte sie an, vertrieb sie, die gesamte Bestattungsgesellschaft ließ sich in den wogenden schwarzen Teppich aus Feuerschatten zurückfallen. Die Kinder, die nicht seine waren, sahen nur kurz herüber und tauchten mit wunderschöner Gleichzeitigkeit kopfüber ins Wasser, hinter ihnen hüpften die Gummireifen, aber die Kuh betrachtete ihn mit sensationslüsterner Freude und ließ ihre lange, feuchte Zunge über die Erde gleiten. Die Gebete gingen weiter, aber ein Beben war spürbar: Während die Gesänge zuvor wie das tiefe Summen von Bienen geklungen hatten, war der Stimmenschwarm nun gelichtet und ausgedünnt, wie um dem Nachhall eines Schusses Raum zu gewähren. Der Rausch von Mr. Khuranas Trauer wich dem schlichten Umstand, dass er ein Mensch war, nackt und bloß in seinen Taten, und dass er als Mensch dazu verdammt war, Scham zu empfinden. Er spürte, wie sich zwischen den feierlichen Strophen Augen mit tadelnden Blicken flüchtig auf ihn richteten. Er hörte auf, an seine zwei Jungs zu denken, während sie vor ihm weiterbrannten in den Flammen, die die Luft mit ihren Hitzestacheln und dem jähen Brechen der Baumrindenknochen durchpeitschten. Mehr Asche für die Kuh.

 

Textauszug: Anfang, mit freundlicher Genehmigung, aus:

Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben (The Association of Small Bombs, 2016). Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks, Hamburg 2017. Hardcover mit Lesebändchen, 376 Seiten. 25 Euro, eBook 15,99 Euro. Verlagsinformationen. 
Dazu 
CrimeMag-Besprechung von Sonja Hartl: Erschütterungen.

Karan Mahajan wurde 1984 geboren, wuchs in Neu-Delhi auf und lebt in Austin, Texas. Er steht auf Grantas Liste der »Best Young American Novelists« 2017. Sein erster Roman, »Family Planning« (»Das Universum der Familie Ahuja«), war für den Dylan Thomas Prize nominiert und erschien in neun Ländern. Er schrieb Beiträge für zahlreiche internationale Publikationen wie The New York Times, The Believer, The New Yorker und The Wall Street Journal. Mahajan studierte an der Stanford University und dem Michener Center for Writers.
»In Gesellschaft kleiner Bomben« stand u.a. auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und erhielt den Bard Fiction Prize 2017, den Young Lions Fiction Award 2017, den Rosenthal Family Foundation Award der American Academy for Arts and Letters 2017, den Muse India Young Writer Award 2016 und den Anisfield-Wolf Book Award for Fiction 2017.

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