Geschrieben am 21. September 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (1): Christian Filips

Neustart

Christian Filips
Zur Strafe: jetzt ein paar Stunden irrwitzige Übernahmen an die Wand malen

Vorgestellt von Angela Sanmann

Zur Strafe: jetzt ein paar Stunden irrwitzige Übernahmen an die Wand malen

Am Anfang ein Betteln
um Neustart, die müden Versprechen,
ein paar vom Staatsgeld am Leben erhaltene
Sterne, schon werde, wie kein Auge je gesehen,

leuchten das All. Ein Schleppen durch
die laufenden Verluste. Da wieder
zwei Schlingernde, Hand in Hand,
mit einem Satz vom Gipfeltreffen, eben

eine Stunde alt, ganz ohne Richtwert,
sehr innig aneinander in die Tiefe.
O ihr abstoßenden Firmentöchter! Eure Anzeichen
verdichten sich. Ihr wisst, es hilft nicht mehr,

in einem Jet auf ein Atoll verschwinden.
Nein, nein. Eheu! Auch dort, auch dort.
Und doch, ich höre die Erde, den armen Mutterkonzern,
ganz leise um Euch weinen. Die schönste Goldanlage

ihre Tränen.

Aktueller geht es nicht. Und vielschichtiger wohl kaum. Christian Filips’ Gedicht Zur Strafe: jetzt ein paar Stunden irrwitzige Übernahmen an die Wand malen, ein (Ab)Gesang auf die vergeblichen Fusions- und Abstoßungsphantasien der Wirtschaftsakteure, liest sich als lyrische Quintessenz der weltweit grassierenden Finanzkrise. Und bedient sich dabei aller Register des hohen, anspielungsreichen Tons. Werden gleich im ersten Vers Krisenbeginn und Schöpfungsursprung in eins gesetzt („Am Anfang ein Betteln/um Neustart…“), so bringt selbst der leise ironisierende Verweis auf einen vorausgegangenen Absturz der zentralen Rechner kaum Erleichterung von dieser verbalen Daumenschraube. Nach den ersten sechs Worten des Gedichtes scheint klar: Es kann kein erneutes Hochfahren der heißgelaufenen Wirtschaftsmaschinerie mehr geben; der Kontrollverlust ist allumfassend und es bleibt nichts, als seine Facetten durchzudeklinieren. Oder? Genau diese Form der Geißelung schickt ja immerhin der Titel voraus: „Zur Strafe: jetzt ein paar Stunden irrwitzige Übernahmen an die Wand malen“. Die bedrohliche Bewegung ist hier eine doppelte, sie weist zugleich in Vergangenheit und Zukunft: Bestrafung und Menetekel bedingen sich gegenseitig und fügen sich zum Teufelskreis der Krise zusammen.

In dem über die ersten zweieinhalb Strophen sich entfaltenden Bildkomplex zeigt ein unbeteiligt, ja spöttisch wirkender Sprecher an den kurzzeitig „vom Staatsgeld am Leben erhaltene[n] /Sterne[n]“ die Vergeblichkeit politischer Interventionen auf. Die Gestirne stürzen und müssen stürzen (scheint hier nicht auch Hyperions Schicksalslied durch?), da die sie umgebenden Konstellationen schon lange aus den Fugen geraten sind. In das Protokoll des fortschreitenden Zusammenbruchs mogeln sich die falschen Versprechen der Manager hinein: Die künstlich betriebenen Sterne am Himmel der freien Marktwirtschaft werden, so heißt es, das All erleuchten, „wie kein Auge je gesehen“. Eignen sich die Manager hier den prophetischen Ton der Verkündigung Jesajas von Gottes Einzigartigkeit an („Was kein Auge je gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“), so entlarven sie damit ihre eigene prätentiöse Unbelehrbarkeit, die die Krise überhaupt erst ausgelöst hat.

Beispielhaft führt der Sprecher nun die zum gemeinsamen Untergang verdammten Firmen vor („da wieder zwei Schlingernde“), die sich nur zu gerne von der Regierung aus der finanziellen Patsche helfen lassen möchten. Doch „der Satz vom Gipfeltreffen, eben eine Stunde alt, ohne Richtwert“, hält sein „müde[s] Versprechen“ nicht und der Sternensturz ist nicht mehr aufzuhalten – die Fusionssehnsüchtigen verschwinden „sehr innig aneinander in die Tiefe“ der Zahlungsunfähigkeit.

Vom fusionellen Aneinanderschmiegen der taumelnden Wirtschaftsakteure schwenkt die Perspektive hin zur Abstoßung als einer zweiten Reaktionsvariante in Krisenzeiten. War zunächst die Rede von künstlich leuchtenden Sternen, so wendet sich der Sprecher jetzt direkt an die sich von der kranken Mutter Erde abstoßenden Trabanten, d.h. an die vom Mutterkonzern abgekoppelten Tochterfirmen (man darf hier ruhig an Opels Hassliebe für General Motors denken): „O ihr abstoßenden Firmentöchter!“ Der überlebensnotwendige Befreiungsschlag macht aus den sich Abstoßenden selbst Abstoßende, Widerwärtige. Doch auch für sie gibt es kein Entrinnen und selbst die Flucht „in einem Jet auf ein Atoll“ als dem entferntesten Punkt auf dem Planeten verspricht keine Rettung. „Nein, nein. Eheu! Auch dort, auch dort“, so der Sprecher in beschwörend-bedrohlichem Ton. Man mag sich hier an Horaz’ Postumus-Ode erinnert fühlen, die mit dem Ausruf „Eheu!“ ihre Klage um die Vergänglichkeit des Lebens anhebt. Aus dem antiken Vanitas-Gesang wird bei Christian Filips eine ironisch gebrochene Elegie auf die Fragilität von Reichtum, Sicherheit und Fortschritt in unserer finanzgesteuerten Gesellschaft.

Die Vielzahl der intertextuellen Bezugspunkte und Anklänge in Filips’ Text an Horaz, Heine, Hölderlin oder das Alte Testament (vielleicht gibt es ja auch noch mehr?) wirft übrigens noch ein ganz anderes Licht auf den Gedichttitel: Vielleicht meinen die „irrwitzigen Übernahmen“ ja auch das poetische Bauprinzip des Textes selbst, der seine Motivelemente aus den unterschiedlichsten Bereichen heranzieht.

Das wohl kryptischste dieser Elemente findet sich in den letzten Versen: „Und doch, ich höre die Erde, den armen Mutterkonzern,/ ganz leise um Euch weinen. Die schönste Goldanlage// ihre Tränen“. Gilt diese emotionale Regung der Trauer als letzter, nicht in Ziffern subsummierbarer Wert an sich in einer vollends durchrationalisierten Geschäftswelt – ein Wert, der auch noch so etwas wie Schönheit verheißt? Oder werden in Wirklichkeit auch die Tränen von der Wirtschaftsmaschinerie sofort wieder funktionalisiert und in ihre systemreproduzierende Dynamik von Aufschwung und Abschwung eingespeist? Will die Krise sich hier als Chance deuten lassen? Setzt das Gedicht mit seinem Schlusswort einen letzten, durchaus pathosverdächtigen Akzent, so bleibt der Tonfall des Sprechers doch in einem gebrochen-widersprüchlichen Register und lässt die Frage nach dem Potential dieser „Goldanlage“ offen.

Angela Sanmann

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (2): Udo Grashoff

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Das Gedicht ist erschienen in:

Christian Filips:
Heiße Fusionen. Gesang von der Krisis.
Kontrollverlag 2009.