Günther Grosser
Sonja Hartl
John Harvey
Bodo V. Hechelhammer
Brigitte Helbling
Günther Grosser: Scherbenlese
Lohnt es sich, an dieser Stelle über das Erwartbare, das Übliche zu reden. Nein, beim Jahresrückblick muss es um Enttäuschungen und Überraschungen gehen, vergessen sind längst die `guten Krimis´, die `Na-ja-Filme´, die `So-La-La-Theaterinszenierungen´, sie pflastern den Weg zum Unvergesslichen, zu jenen Büchern, bei denen man sich freute, nach Hause zu kommen und weiterlesen zu können, zu jenen Filmen und Aufführungen, nach denen man Kino oder Theater als anderer Mensch verlässt.
Schwerer zu vergessen, kaum abzuschütteln sind die großen Enttäuschungen, weil sie hohen Erwartungen nicht gerecht werden wie diese gehemmte deutsche Fussballnationalmannschaft, wie Denis Lehanes elende Schwarte „Der Abgrund in dir“, wo zwei Korsettstangen des realistischen Erzählens, Plausibilität und Glaubwürdigkeit, zerbröselt zurückbleiben; wie Ralf Rothmanns Roman „Der Gott jenes Sommers“, der sich damit auf den „Ach ja“-Ton Fontanes zurobbt; wie das kleine Stück „Kluge Gefühle“ von Niels Bormann und Maryam Zaree am Berliner HAU, das als „komische Tragödie“ Höhenflüge versprach und vollkommen flach blieb; wie James Grays Abenteuerfilm „Die versunkene Stadt Z.“ , der sich als langweiliges Sammelsurium zahlreicher Genre-Versatzstücke erwies; wie die miese Serie „Dogs of Berlin“ mit ihrer Männchen-Philosophie, den immer gleichen Stereotypen und einer schon nach zehn Minuten ausgelutschten Story.
Der größte Kinotag war Josef Bierbichlers „Zwei Herren im Anzug“, in dem Schuld und Unschuld zwischen Stalingrad und Starnberg zertanzt, zersungen und zerlegt werden wie nie zuvor.
Die erfreulichsten Theatererlebnisse waren zum einen Sebastian Nüblings Version von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ am Berliner Gorki-Theater. Dieser so enigmatisch daherkommende Brocken Text wird gerne zu einem Bühnenrätsel verdichtet und dem Zuschauer als Hirn-Rauchen-Lassen-Aufgabe auf den Nachhauseweg mitgegeben. Nübling hingegen lässt seine Schauspieler des Exil Ensembles ein Feuerwerk von Deutungen abbrennen. Zum anderen das immersive Theatererlebnis „The Lost O´Casey“ der Gruppe ANU im Rahmen des Dublin International Theatrefestival: jeder Zuschauer allein auf weiter Flur in den Abgründen des irischen Lowlife; nur du und der alltägliche Kampf der Alkis, Junkies, Raucher bis hinein in den Notfalltrailer der Drogenklinik draußen auf dem Hof – du und die Schauspieler am Rande des Erträglichen.
Drei wunderbare Roman-Überraschungen: Jo Bakers „Ein Ire in Paris“ (Knaus) – die Geschichte von Samuel Beckett als Mitglied der französischen Resistance, wie er Infos über deutsche Truppenbewegungen weiterleitet, wie er fliehen muss, wie er Waffen bunkert in der Provence, wie er stoisch durchhält und an seiner Literatur werkelt. [Leider vom deutschen Verlag mit einem völlig irreführenden Titel und fehlleitendem Cover versehen: die, die das Buch finden, werden enttäuscht sein; die es angeht, werden es so nicht finden.]
Philip Schwenke: „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ (Kiepenheuer & Witsch) – ein hübsch ironischer Roman über Karl Mays einzige echte Reise, nach Ägypten und Ostasien, wie ihn die Phantasie übermannt und die Realität knechtet, wie ihm die Frauen so arg mitspielen.
Hilmar Klute: „Was nachher so schön fliegt“(Galliani) – über den wahren Wert der Poesie und wo man ihn herholt.
Nicht wirklich Überraschungen, weil nicht unerwartet, aber brillant: Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“(Suhrkamp) und Annie Ernaux´ „Erinnerung eines Mädchens“ (Suhrkamp).
Größte Krimi-Überraschungen? Roland Sprangers Provinz-Knaller „Tiefenscharf“ und Pierre Lemaitres drastisch-hartes „Opfer“.
Schön dass Frank Nowatzkis PulpMaster-Verlag wirklich 30 Jahre alt wurde. Mit diesen radikalen Covern und dem unbedingten Qualitätsanspruch, und dann in 2018 tatsächlich den brillanten Tom Franklin-Roman „Krumme Type, krumme Type“ noch obendrauf zu setzen: Chapeau! Und dranbleiben!
Und zuletzt die großen Wieder-Entdeckungen: Scerbanencos Mailand-Romane und Ed McBains „Killer´s Choice“.
Günther Grosser: Autor zu Genre-Themen, u. a. mit einer monatlichen Krimikolumne in der Berliner Zeitung. Theatermacher, Regisseur, Leiter des English Theatre Berlin.
Sonja Hartl: Den männlichen Blick dekonstruieren
Es sind zwei Körper, die nebeneinandersitzen, die sich in diesem Jahr unauslöschlich in meinen Kopf und mein Herz gebrannt haben. Der Körper eines Kindes. Und der Körper eines erwachsenen Mannes. Wenn er sich zu der 13-jährigen Jennifer hinwendet und sie küsst, schreit dieses Bild förmlich hinaus, wie falsch es ist, was wir dort sehen. Wenn er auf ihrem Körper liegt, wir nur ihr Gesicht sehen, möchte ich mich hinterher genauso übergeben wie Jennifer es im Film tut. Und wenn ich mitansehen muss, wie sie es für Liebe hält, was dort geschieht, bricht mein Herz. „The Tale“ von Jennifer Fox ist ein fantastischer Film.
Allein mit ihrer Filmsprache verhandelt die Regisseurin und Drehbuchautorin so viele Themen und Aspekte der Geschichte, die sie erzählt: die Authentizität und Beeinflussbarkeit von Erinnerungen, die Zweifel, die wir an eigene Erinnerungen haben, die Macht der Geschichte, die wir über uns und die wir uns erzählen. Die Geschichte in „The Tale“ handelt von einer erwachsenen Frau namens Jennifer (Laura Dern), der eine Geschichte in die Hände fällt, die sie als 13-Jährige geschrieben hat. Eine Liebesgeschichte, glaubt sie, denn sie erinnert sich daran, dass sie damals einen Mann geliebt hat, der 40 Jahre alt war. Der erwachsenen Frau wird aber klar, was das Kind von damals nicht gesehen hat: Es ist keine Liebesgeschichte, die sie erzählt, es ist eine Geschichte fortgesetzter sexueller Gewalt. Diesen schmerzhaften Erkenntnisprozess verhandelt Jennifer Fox in diesem Film. Bei jedem Satz, den der Mann zu der 13-jährigen Jennifer sagt, ziehen sich meine Gedärme zusammen. Nicht aufgrund ihrer Obszönität, ganz im Gegenteil: aufgrund der Sanftheit, des liebevollen Verständnisses, das aus ihnen klingt. Über sexuelle Gewalt gegen Kinder wird oftmals gesprochen, als sei die Bedrohung schwarz und dunkel. Stattdessen aber kommt sie in Form eines Mannes, der genau weiß, was er einem jungen Mädchen sagen muss. Und ich weiß, wie diese Sätze auf ein Mädchen in diesem Alter wirken könne. Deshalb glaube ich mühelos, dass diese 13-Jährige glaubt, sie sei in den charismatischen Mann verliebt. Aber er muss wissen, dass es falsch ist, was er tut
In diesem Film wird es in jedem Bild deutlich – allein durch die Besetzung der jeweiligen Rollen mit SchauspielerInnen im entsprechenden Alter. Allzu oft werden in Filmen die Rollen von jüngeren Mädchen von älteren Schauspielerinnen gespielt – aber zwischen 13 und 16 Jahren liegt schon ein gewaltiger optischer Unterschied. In „The Tale“ aber wird klar, dass das Verführerische dieses Mädchens allein im Blick des erwachsenen Mannes liegt. Jennifer Fox dekonstruiert den männlichen Blick, an den wir uns so gewöhnt haben.
Bei den Krimis sind es vor allem Details, an die ich mich erinnern werde: wenn sich Alex Morrow mit kurzen Worten mit der Kollegin in Denise Minas „Blut Salz Wasser“ verbündet, weil sie erkennen, dass sie beide es hart haben. Die aberwitzigen Tötungsmethoden in „Fuck you very much“, ein Buch, das so cool ist, wie Tarantino gerne wäre. Die gnadenlose Ursula Lopez aus „Krokodilstränen“, die sich endlich nimmt, was ihr zusteht. Und ein wenig mehr. Das Käserad in „Shootout“ von Dietrich Kalteis, über die ich immer noch ein wenig lache. Das schmerzhafte Erinnern in Anne Goldmanns „Das größere Verbrechen“. Das Gefühl des Verständnisses in Patricia Melos „Der Nachbar“. Und der Stumpfheit, ja, fast Taubheit in Simone Buchholz‘ „Mexikoring“.
Das große Leseerlebnis des Jahres kam indes völlig unvermutet in Form eines schmalen Buchs von 160 Seiten, das noch dazu in der Kategorie der derzeit so beliebten „autobiographischen Literatur“ anzusiedeln ist: Annie Ernaux‘ „Erinnerungen eines Mädchens“ verhandelt ebenfalls sexuelle Gewalt, die der Erzählerin und Autorin widerfahren ist. Und auch sie hat diese Erfahrung in der Erinnerung umgedeutet in eine Liebesgeschichte. 18 Jahre alt war sie, als sie als Betreuerin in einem Jugendcamp in Frankreich in einen Betreuer verliebte, der sie dann vergewaltigte. Nirgends in diesem Buch steht „Vergewaltigung“ oder „vergewaltigt“ und doch ist völlig klar, was passiert. Aber wie Jennifer in „The Tale“ hadert auch Annie in „Erinnerungen eines Mädchens“ mit den Folgen, die dieses Eingeständnis mit sich bringen würde. Man wäre ein Opfer, ein Mann hätte das Leben so beeinflusst, wie man es nicht wahrhaben will. Und in Ernaux’ Erinnerungen klingt noch etwas an: die Folgen der Moralvorstellungen der Gesellschaft. Die junge Annie hat sie verinnerlicht, sie begehrt nicht auf, sie fügt sich den gängigen Narrativen. Und es ist so viel einfacher, sich das Erlebnis als Geschichte der Rebellion zu erzählen, sich selbst als verrucht wahrzunehmen als sich einzugestehen, dass das, was damals passiert ist, das gesamte Leben überschattet hat.
Sonja Hartls CrimeMag-Beiträge hier. Ihr Blog „Zeilenkino. Wo Film und Literatur sich treffen“ hier.
John Harvey: Oddly compulsive
Much of my reading time this year has been spent working my way through a two-volume edition of D. H.Lawrence’s Complete (?) Letters. Currently, I’m up to page 945, November 1926. 301 pages and four years to go. Other large works that have happily taken my time are Thomas McGuane’s Collected and New Stories, Cloudbursts, weighing in a 556 pages and two books about Abstract Expressionism and the art world of New York in the middle of the last century – de Kooning: An American Master by Mark Stevens and Annalyn Swan and Mary Gabriel’s Ninth Street Women, which concentrates on five women artists who kept their heads above water in an otherwise all-male tide: Lee Krasner, Elaine de Kooning, Grace Hartigan, Joan Mitchell and Helen Frankenthaler. Pretty much the subject matter of the PhD thesis I never got around to writing, in fact, save that I would have concentrated more on the work and less on the biography. I think.
I was pleased that Robin Robertson’s noirish The Long Take won the Goldsmiths’ Prize for fiction that “opens up new possibilities for the novel form”. As far as I can see it’s a long poem sequence hemmed together with occasional sections of prose: a poem in the form of a novel – new possibilities, indeed. Also short-listed for the Goldsmiths’ was Gabriel Josipovici’s enigmatic and beautifully written The Cemetery in Barnes – at a fraction over 100 pages more (less?) a novella than a novel and, in these days of overblown fiction, all the better for it. The Long Take was also on the short list for this year’s Man Booker Prize, which was won by Anna Burns’ Milkman, which I found oddly compulsive in parts – chilling and funny – but by my take overly repetitive and just, yes, too long. I haven’t yet read the Daisy Johnson, but intend to as I very much enjoyed her short story collection, Fen. After greatly admiring Sarah Baume’s A Line Made By Walking, I began Spill, Simmer, Falter, Wither with considerable anticipation which the first section, Spill, did nothing to allay – quite superb, in fact – but after that … oh, dear, what a falling away …
Amongst the crime fiction I’ve read, I’ve enjoyed new novels by Eva Dolan, Kjell Ola-Dahl, Mick Herron, Attica Locke, Garry Disher and John Lincoln (Williams), as well as rereading Peter Temple’s Jack Irish series and Jamie Harrison’s delightful The Edge of the Crazies. Best of all, Ross Thomas’ 1984 novel, Briarpatch. So good I read it twice.
And, overall, the book that impressed me most this year – and one that I went back to with no little trepidation – was Scott Fitzgerald’s Tender is the Night. Even better than I’d remembered.
Here they are, in order of seeing, the best, to my eyes, of this year’s new releases; the films I enjoyed most and would happily see again.
Loveless : Andrey Zvyagintsev
Western : Valeska Grisebach
BlacKkKlansman : Spike Lee
Cold War : Pawel Pawlikowski
The Rider : Chloe Zhao
The Miseducation of Cameron Post : Desiree Akhavan
Lucky : John Carroll Lynch
Nae Pasaran : Felipe Bustos Sierra
Skate Kitchen : Crystal Moselle
Shoplifters : Hirokazu Koreeda
Disobedience : Sebastian Lelio
Roma : Alfonso Cuaron
The Old Man and The Gun : David Lowery
Okay, I know the last mentioned is a little on the lightweight side, especially when compared to a heavy-duty [but brilliant] film like Loveless, or Cold War, or Cuaron’s Roma, but it does have an absolutely sparkling performance by Sissy Spacek, who – excuse the cliché – lights up the screen whenever she appears. And hey, I’m of the age when I can happily take sustenance from watching someone of, shall we say, advancing years running the screen and living a mostly happy and fulfilling life – even if that life does comprise robbing banks. I felt the same about the Harry Dean Stanton character in Lucky, just as I did about the real-life Rolls Royce workers who refused to handle airplane engine parts that were destined to be used by the Chilean government against their own people. Watch those deeply principled yet otherwise ordinary, now elderly men finally getting their due recognition in the final scenes of Nae Pasaran and hold the tears back if you can. More movies for old geezers, that’s what I say!
And the most disappointing film of the year? For me, without a doubt, Nuri Bilge Ceylon’s The Wild Pear Tree. After watching his marvellous Once Upon a Time in Anatolia for the third time just a few days before, I was hoping for something more striking and cinematic than his previous effort, the dull, overly-Chekovian and aptly titled Winter Sleep, which won the Palme D’Or at the 2014 Cannes Film Festival. Sadly, no such luck. Until – far too late – the last twenty minutes or so, Ceylan’s latest film revolves around three hours of argument and aimless conversation, relieved only by his trademark shots of empty and beautiful Turkish countryside.
LIVE …
I’ve seen even less live music this past year than previously, something I hope to put right in 2019. But of those performances I have been fortunate enough to see, these are the most memorable.
Ethan’s Last Rent Party at Kings Place. Ethan Iverson, aided and abetted by fellow-pianists Alexander Hawkins and Adam Fairhall, exploring the links between British music in the first decades of the twentieth century and Black American music, syncopation and jazz.
Kairos 4tet at Rich Mix. Saxophonist Adam Waldman, leading a quartet through his own compositions, with Emilia Martensson and Alice Zawadski on vocals.
Amy Rigby at The Betsy Trotwood. A joyous and generous solo performance of Amy’s songs, with readings from her prose and poetry to match. Great evening!
Shostakovich 6th Symphony – LPO / Vladimir Jurowski at the Royal Festival Hall.
Shostakovich 1st Violin Concerto. Nicola Benedetti with the LSO /Gianandrea Noseda at the Barbican.
Shostakovich String Quartet No. 8 & Beethoven String Quartet No. 7. Emerson String Quartet at Milton Court.
And, pre-recorded, but very much a living experience, the Forty Part Motet (Spem in Alium – Tallis) arranged by Janet Cardiff at the Richmond Chapel, Penzance.
RECORDED …
Just as Shostakovich tends to dominate the live music selection, so Thelonious Monk [no surprise!] dominates my selection of music on CD. Monk features a live session recorded in Copenhagen in March, 1963 and previously thought lost, and, similarly, Monk: The Lost Recordings, captures a 1967 concert in Rotterdam. Wadada Leo Smith’s Solo: Reflections & Meditations on Monk mixes his solo interpretations on trumpet of five Monk compositions with three of his own.
Tracey Thorn’s Record contains a number of beautifully written and crafted songs ,exploring the life of a woman not too far distant from, one imagines, herself. And the 14th Volume of the Bob Dylan Bootleg Series, More Blood, More Tracks, presents the original, stripped down versions of the songs from one of his best albums, Blood on the Tracks and encourages you to listen to them afresh.
John Harvey is one of Britain’s finest novelists and a CrimeMag columnist, his essays can be found here. His blog „Some Days You Do …“ is recommended, these lists appeared there first. John’s body of work here (in Deutsch). His last Charlie Resnick novel darkness, darkness appeared in Germany as Unter Tage. Alf Mayer’s review and interview here. 2018 saw the return of Frank Elder in „Body & Soul“, reviewed by Alf Mayer here, translated into English on John’s blog.
Bodo V. Hechelhammer: Extremo anno – Excelsior!
„Das eigentliche Schreiben ist´s doch, wofür man lebt. Der Rest ist etwas, was man durchstehen muß, um zum Eigentlichen zu kommen“, argumentierte trocken, aber durchaus treffend der wunderbare Raymond Chandler gegenüber dem Verleger Hamish Hamilton im September 1951. Mit Blick auf den Kalender und getreu der Worte des Krimi-Altmeisters ist nun bald wieder ein bisschen mehr vom Rest durchgestanden. Anstrengend war 2018. Aus der ganz persönlichen Perspektive aus betrachtet könnte man sagen, es blieb kein gutes Haar am alten Jahr. Insider wissen, wie´s gemeint ist.
Donald Pleasences Interpretation des Ernst Stavro Blofeld steht einem von nun an näher als dessen ewiger Gegenspieler als eigentlicher Kollege. Aber der gute James Bond vergangener Tage ist sowieso bald selbst am Ende. Er raucht nicht mehr, seine Frauenbeziehungen werden immer schwieriger und damit realistischer. Wer will das schon sehen? Bleibt irgendwann nur noch die Bar. Aber nein, wenn man sich die aktuelle australische Studie „Licence to swill: Jame´s Bond drinking over six decades“ vor Augen führt. Die Anzahl der Drinks, seine Aussagen und sein Verhalten lassen aus medizinischer Sicht nur ein Ergebnis zu: Bond ist der klassische Alkoholiker. Eigentlich müssten seine Vorgesetzten beim MI6 disziplinarisch belangt werden. So kann man doch keinen Mitarbeiter im Feld führen. Bezeichnend an der Studie ist allerdings, dass lediglich die Verfilmungen ausgewertet wurden, nicht jedoch die Originalbücher Ian Flemings. Immer ein Fehler. Immer wieder. Hoffentlich werten Wissenschaftler später auch einmal das Verhalten und die Aussagen der Brexit-Befürworter in Großbritannien aus. Übermäßiger Alkoholkonsum wäre zumindest eine nachvollziehbare Erklärung. Überhaupt der Brexit. Schon jetzt das europäische Unwort. Als überzeugter Europäer fällt es einem schwer sich mit dem Gedanken anzufreunden, was im kommenden Jahr tatsächlich umgesetzt werden soll.
Die Tochter Agenors beginnt sich erstmals selbst zu verstümmeln. Ein Einschnitt. Konsequenterweise müsste aus dem Kranz der europäischen Flagge auch ein Stern herausgeschnitten werden, wenn schon keine Einheit mehr besteht. Einen Stern hat Deutschland in Russland dagegen im Sommer gejagt. Doch aus einem „Aus, aus, aus! – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister…“ wurde 2018 bekanntlich nichts. Der deutsche Reporter Herbert Zimmermann schrie diese Worte am Ende seiner legendären Radioübertragung über das Wunder von Bern, als die deutsche Nationalmannschaft am 4. Juli 1954 im Endspiel sensationell die Ungarn bezwang. Die Zeiten ändern sich eben. Mitunter auch schnell. Gerade im Fußball. Der amtierende Weltmeister Deutschland, noch kurze Zeit davor überhöht als die „Mannschaft“ verehrt, und ganz besonders der Deutsche Fußball Bund (DFB) verspielten mit ihrer arroganten Behäbigkeit nicht nur leichtfüßig das Turnier in Russland, sondern im Anschluss daran durch ein katastrophales Krisenmanagement gleich auch noch viele Sympathien deutscher Fußballfans. „Siege erzeugen Reden, Niederlagen Ausreden“, erklärte C. P. Fröhling einmal zutreffend. Und es gab wahrlich viele Niederlagen. So gab es im zurückliegenden Jahr keinen neuen 4. Juli. Ein wichtiges transatlantisches Datum für die USA, schließlich erklärten die englischen Kolonien Nordamerikas 1776 an diesem Tag ihre Unabhängigkeit von England. Der Beginn einer Entwicklung eines klassischen Einwanderungslandes, Vorbild für gelebte demokratische Ideale, für Weltoffenheit und Inspiration. Trotz zahlreicher Spannungen und Widersprüchlichkeiten, der sich über wenige Jahrhunderte entwickelnden amerikanischen Kultur. 2018 trübte sich auch dieser Blick angesichts der amtierenden, noch mehr allerdings golfenden und twitternden Präsidentenpersiflage Donald Trump weiter ein. Der mächtigste Mann der Welt als Realsatire. Einst zurecht Teil einer Realityshow, heute erschreckenderweise nur noch Realität. Von einer weltumgreifenden Inspiration durch wortgewandte präsidiale Reden kann bei ihm gar keine Rede mehr sein. Es sind noch nicht einmal mehr Reden, sondern nur noch Worthülsen. Leer im Inhalt, leider dennoch mit enormer und politischer Sprengkraft. Gold wäre wünschenswert, doch ist es nur Hotelsilber!
Onomastisch verweist Donald zwar irritierenderweise auf eher kindlich anmutende Bildergeschichten. Aber auch in Comics wären seine donaldinischen Sprechblasen stets in giftgrün gezeichnet. Der New Yorker Donald wäre selbst orangefarbig kolorierter, aber wahrlich kein Superheld. Eher im Gewand des „Dooms“. Gerade unter den Superschurken und -helden in den Comics zählen ohne Frage diejenigen aus dem Marvel-Universum zu den weltweit bekanntesten und erfolgreichsten ihrer Art. Stan Lee war wohl deren berühmtester Schöpfer. Lee verstarb im November in Los Angeles: Immer höher, immer weiter. Ein ganz anderer Abschied, mit Sicherheit von weitaus weniger Menschen wahrgenommen und weitaus weniger persönlich betreffend, hat im Sommer stattgefunden. Der offizielle Einzug des Bundesnachrichtendienstes (BND) in seine neue Zentrale in Berlin-Mitte. Nicht mehr im Stillen, nicht länger im Geheimen, so wie die direkte Vorgängerorganisation am 6. Dezember 1947 in die alte Zentrale ins bayrische Pullach bei München eingezogen war. Im 21. Jahrhundert wird der Umzug eines Geheimdienstes von Journalisten und Medien begleitet. Die Bild-Zeitung schrieb über den Umzug des Archivs und half förmlich beim Auspacken der Umzugskisten mit. Die Deutsche Presseagentur (DPA) berichtete ausführlich vom Ereignis und blickte, wenn schon nicht in die Kartons, dann doch zumindest hinter die Kulissen. Als nächster logischer Schritt müsste eigentlich eine Live-Berichterstattung kommen. Während früher das Fotografieren, ja selbst das bloße Abzeichen des Geheimdienstgeländes bei hoher Geldstrafe strengstens verboten war, entwickelte sich das neue Zentrum der Geheimnisse zur touristischen Attraktion. Ist eben Berlin. Tempus fugit. Alles verändert sich eben. Das sollte einmal aufgeschrieben werden. Extremo anno – Excelsior
Bodo V. Hechelhammer ist Chefhistoriker des Bundesnachrichtendienstes (BND) – mit einem kundigen Faible für die populärkulturellen Spiegelungen der Agenten- und Geheimdienstwelt. Seine Texte bei CrimeMag hier. „Geheimdienst ist besonders spannend unter kulturhistorischer Sicht“, ein Interview von Alf Mayer mit dem Autor über das Buch „Doppelagent Heinz Felfe entdeckt Amerika. Der BND, die CIA und eine geheime Reise im Jahr 1956“ hier.
Brigitte Helbling
Hojoom (Invasion) von Shahram Mokri, Iran 2017: Der Film lief im Februar in der Panorama-Section der Berlinale 2018 und ließ nicht wenige Zuschauer ratlos zurück: Die kryptische Story spielt im undefinierbaren Zwielicht eines Sportstadions, unvermittelt und dabei eher beiläufig geschehen Morde, mehrfach wechseln die Spieler mitten im Geschehen ihre Rollen (Spiegel spielen da eine gewisse Rolle). Vielleicht muss man für solche Knobelfreuden eine Ader haben: Mich jedenfalls hat die MC Escher-Logik des Plots begeistert, nicht zuletzt, weil der One-Shot-Film, der sich endlos durch unterirdische Korridore und Umkleideräume bewegt, mich an Damals erinnerte, als ich Lars von Triers Element of Crime zum ersten Mal sah. Sich einer Narration hingeben, die sich nur aus sich selbst heraus erklären kann – was gibt es Schöneres? Mokri gehört zu einer jüngeren, leise radikalen Generation von iranischen Filmemachern und hat mit seinem ersten Langfilm, Fish and Cat von 2012, international bereits eine Menge Aufsehen erregt.
The Largesse of the Sea Maiden von Denis Johnson. Random House 2018: Jesus’ Son, Denis Johnsons sensationeller Erzählband von 1992, übte nachhaltig Wirkung auf die amerikanische Literaturszene aus. Danach erschien einiges von Johnson, doch nichts, was der Singularität von Jesus’ Sonnahegekommen wäre. Na und? Eine Supernova pro Autorenkarriere ist mehr als genug. Dachte ich manchmal – und dann erschien Anfang 2018, posthum (Johnson war im Mai des Vorjahrs gestorben) ein weiterer Erzählband, The Largesse of the Sea Maiden. Wow. Fünf perfekten Erzählungen, mindestens eine davon („Triumph Over The Grave“) überwältigend – das Mahnmal eines begnadeten Meisters dazu, was Literatur sein kann, was Erzählen sein kann, was Täuschung, List und Wahrheit im Spielen mit Sprache sein können… Zum immer und immer Wiederlesen. Den Band gibt es seit Mai auch in einer guten deutschen Übersetzung von Bettina Abarbanell, erschienen beim Rowohlt Verlag.
Peter Kamber: Reformation als bäuerliche Revolution. Bildersturm, Klosterbesetzungen und Kampf gegen die Leibeigenschaft in Zürich zur Zeit der Reformation (1522–1525). Chronos Verlag Zürich 2010. Der Band, ursprünglich die Disseration eines Schweizer Historikers, dem die Zürcher Erziehungsbehörde auf Grund politischer Aktivitäten einst das Leben (und Weiterkommen) schwer machten, lag im Zürcher Zwingli-Jubiläums-Jahr im genau richtigen Moment wieder in den Buchhandlungen auf, jedenfalls für mich, als es darum ging, unseren Reformator in eine theatrale Arbeit überzuführen. Nachhaltig beindruckend bin ich von der perfekt ausbalancierten Kombination von Sorgfalt und Leidenschaft in diesem Werk, zusätzlich großartig, wenn einem Historiker das Schreiben und Erzählen dabei soviel Spaß macht wie Kamber. Nicht zuletzt sind es die vielen Klatsch- und Tratschgeschichten aus alten Zürcher Akten, die die Euphorie, Hoffnungen und Niederlagen einer Zeit perfekt transportieren und die Lektüre insgesamt zu einem Genuss machen.
Stadt am Meer von Joanne Schwartz und Sydney Smith. Übersetzt von Bernadette Ott. Aladin Verlag, Hamburg 2018. Im September schloss der Aladin Verlag in Hamburg seine Tore, doch kurz davor erschien dort noch eins der hinreißendsten Bilderbücher, das mir seit langem untergekommen ist – eine Geschichte aus Kanada, mit Bildern (abwechselnd) von funkelnd hellen Ansichten von Klippen und Meeren und Häusern (die Stadt am Meer des Titels) und tiefschwarzen Bildern aus der Kohlegrube, in der der Vater des kindlichen Protagonisten arbeitet. Hier wird nie gewertet, sondern schlicht Einblick in ein Familienleben in atemberaubender Umgebung gegeben, die im Kontrast zum Arbeitsallltag im Dunkel der Grube steht; für den kindlichen Erzähler ist – das erzählt sich erst am Ende – von vornherein klar, dass er seinem Vater irgendwann ins Bergwerk folgen wird. Eine Bilderwelt, die Leser zur Ruhe bringt, ohne die leisen Beunruhigungen eines ganz normalen Lebens wegzuretuschieren: Ein Meisterwerk.
Brigitte Helbling ist CulturMag-Mitarbeiterin und Autorin und schreibt seit einigen Jahren eine ganze Menge für Theater. Ihre Zwingli Roadshow (mitkonzipiert / inszeniert von Niklaus Helbling) läuft seit Mitte September 2018 am Theater Kanton Zürich, seit November ist im Staatstheater Mainz ihre Bearbeitung von Pünktchen und Anton zu sehen. Ebenfalls in Mainz spielt noch bis Ende Jahr Musketiere! (mit Niklaus Helbling). Im Dezember 2018 erhielt sie von der Stadt Hamburg einen Förderpreis für Literatur. Ihr Text „Why I Write“ in unserem Verlust-Special DUE.