Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Markus Pohlmeyer über „Die Sonne Chinas“ von Cixin Liu

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Eine Rezension von Markus Pohlmeyer

I „Die Sonne Chinas“ [1]  

Shuiwa verlässt seine Eltern und sein von Dürre geplagtes Dorf, wird Minenarbeiter und schließlich Schuhputzer in einer Stadt. Die fettgedruckten Kommentare über den einzelnen Kapiteln sind eine Art Minimalanleitung für biographischen Erfolg und wachsende Lebensqualität: von Station zu Station wird Wasser sauberer, wird Licht heller. Und auch das Geld wächst, wenn auch nur bescheiden. Shuiwa lernt in seiner Wanderarbeiterbruchbude Lu Hai kennen, der einen Solarkocher auf Nanotechnologiebasis erfunden hat, einen armen, ehemaligen Professor, dem bisher kein Erfolg mit seinen Erfindungen vergönnt war. Im Fernsehen erfahren sie später vom Projekt Die Sonne Chinas – und sofort machen sich die beiden auf nach Peking: „Das vierte Ziel im Leben: Ein Pekinger werden[2]. Sie trennen sich, finden sich.

Shuiwa ist mittlerweile ein sog „‘Spinnenmensch‘“[3] geworden, Fensterreiniger für gigantische Hochhäuser – ein riskanter, geradezu akrobatischer Job. Lu Hai wird von Shuiwa beim Fensterputzen in seinem neuen Büro entdeckt. Lu Hais Materialerfindung hatte sich nämlich erfolgreich für die Sonne Chinas durchgesetzt: „‘Es ist ein dreißigtausend Quadratkilometer großer Reflektor, der in einer geosynchronen Umlaufbahn in sechsunddreißigtausend Kilometer Höhe das Licht der Sonne auf die Erde leitet. Von der Erde wird es so aussehen, als wäre am Himmel eine zweite Sonne aufgegangen.‘“[4] Unterstützt von Supercomputern, solle dadurch die Klimasituation in China verbessert werden.

Und nun nimmt uns die Erzählung mit auf eine kleine Reise durch die Geschichte der Kosmologie. Lu Hai lädt den armen und völlig ungebildeten Shuiwa zum Essen ein – mit pädagogischer Absicht: „Er war in das geozentrische Zeitalter des Ptolemäus eingetreten. Als Lu Hai ihn am nächsten Abend zu einem Straßenimbiss mitnahm, ging er den nächsten Schritt und führte ihn erfolgreich in das kopernikanische Zeitalter ein. Nach zwei weiteren Abenden hatte Schuiwa mühsam Zugang zur newtonschen Ära gefunden und wusste nun (auch wenn er es noch nicht wirklich verstand), was Gravitation war.“[5] … usw., bis Shuiwa versteht, „warum die Sonne Chinas nicht herunterfallen würde.“[6] Die Sonne Chinas wird ein Erfolg – nur, wer reinigt diesen gigantischen Spiegel? Trotzt ihrer fehlenden akademischen Bildung setzt Lu Hai die Spinnenmenschen für diese Aufgabe ein, die bald darauf den Namen „‘Spiegelbauern‘“[7] erhalten.

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Wunderbar, erhaben, die folgenden Beschreibungen des gigantischen Spiegels im All: seine Krümmungen, die Lichteffekte, die Ober- und Unterseite, der Blick auf die Erde. Und mit einem anderen, sozialen Effekt: „‘Die Raumfahrt ist nicht mehr allein einer kleinen Elite vorbehalten – sie steht ab sofort auch gewöhnlichen Menschen offen. Dies ist der erste Schritt zur industriellen Erschließung des Weltalls!‘“[8] Die Spiegelbauern schaffen sich ihre kleine Welt im All, und dabei trifft – ein wunderbarer erzählerischer Kunstgriff – Schuiwa auf Stephen Hawking, mittlerweile 100 Jahre alt und aus gesundheitlichen Gründen in der Schwerelosigkeit. „Shuiwa hatte selbstverständlich schon von ihm gehört, schließlich reichte Hawkings Ruhm zu dieser Zeit bereits an den von Einstein heran.“[9] Und so werden historisch die nächsten Schritte in der Geschichte der kosmischen Erkundung fast nebenbei eingeführt. (Und wir realen Leser und Leserinnen können nun die erzählte Zeit, die Zeit in dieser Geschichte, die 2002 publiziert wurde[10], ungefähr verorten: ein wenig später als unsere Gegenwart , was natürlich in 100 Jahren nicht mehr gilt, dann gehören wir nur noch zu den impliziten Lesern. Leider ist Hawking schon verstorben.) In vielen Spaziergängen auf dem Spiegel berichtet Hawking nun dem Spiegelbauern „vom Urknall, von Schwarzen Löchern und Quantengravitation“[11].

Schließlich hat die Sonne Chinas, von neuer Technologie überholt, ihren Zweck erfüllt und soll zu einem Museum umfunktioniert werden. Medial von aller Welt beobachtet, beginnt zwischen Lu Hai (mittlerweile Minister) und Shuiwa ein folgenschwerer Dialog. Lu Hai:

„‘Die Erschließung des Mondes betrachten wir als wirtschaftlich unergiebig, eine umfangreiche bemannte Erforschung anderer Planeten als wirtschaftliches Verbrechen. Interstellare Raumfahrt wäre für uns geradezu ein Ausdruck von Geistesgestörtheit. Denn heutzutage kreist unser Denken nur noch darum zu investieren, zu produzieren und die Früchte zu genießen.‘“[12]

sp4(Diese Position klingt kaum allzu futuristisch, wenn auch hier von einem gesprochen, dessen Welt die ökologischen Krisen schon gemeistert hat!) Schuiwa „‘Mit nur wenig Geld können wir den erdnahen Raum verlassen und in die Tiefen des Universums reisen. Der Strahlungsdruck der Sonne kann die Sonne Chinas nicht nur aus ihrer Erdumlaufbahn, sondern auch in weite Fernen transportieren.‘“[13] Man brauche 20 Mitreisende. Und: „Ich war noch nicht fertig. Ein Ökosystem sowie ein Lebenserhaltungssystem, mit dem wir einen Großteil der Reise im Tiefschlaf verbringen können. Dadurch müssten wir das Ökosystem erst bei unserer Annäherung an Proxima Centauri aktivieren. Mit der heutigen Technologie könnten wir tausend Jahre durchs All fahren.“[14] Gesagt, getan. Während noch die erste, fett gedruckte Kapitelüberschrift Lebensnotwendiges für den Einzelne als Ziel verkündet hat („Wasser trinken, das nicht bitter ist, und ein bisschen Geld verdienen[15]), beschreibt die letzte eine kosmische Vision: „Sechstes Ziel im Leben: Das Sternenmeer befahren und den Blick der Menschheit wieder in die Tiefen des Universums lenken[16].

Und genau das tut auch diese Erzählung mit narrativen Mitteln. Ein Niemand aus einer riesigen Masse von Menschen entwickelt sich zu einen kosmischen Entdecker – auch deshalb, weil er sich mühselig das entsprechende theoretische Wissen in Gesprächen mit Lu Hai und Hawking hat aneignen müssen, aber daraus die praktischen Konsequenzen zieht und so den selbstgewählten Status eines rein ökonomischen Vorsichhinvegetierens der Menschheit durchbricht und in Richtung Aufbruch und Abenteuer transzendiert. Und das auch zum Preis der Ungewissheit, vielleicht nie wieder zurückzukommen:

„Niemand konnte vorhersagen, wie weit die Sonne Chinas fliegen würde und was für wundersame Welten Schuiwa und seine Kameraden erblicken könnten. Vielleicht würden sie eines Tages die Menschheit zu einer diesen neuen Welten rufen, doch bis zu einer Antwort würden Tausende von Jahren vergehen.“[17]

Und die Sonne Chinas? Das ist nicht nur die Technologie, vielmehr sind es im Grunde die Menschen, die zu den Sternen aufbrechen. Und welche Funktion haben die Kapitelüberschriften? Meiner Meinung nach verallgemeinern sie, was am Schicksal von Shuiwa entfaltet wird. Wir alle – verzeihen Sie mir, liebe Leserin und lieber Leser, das folgende Pathos –, wir alle sind dazu aufgefordert, wieder das Sternenmeer befahren zu wollen. Gute Science Fiction erinnert uns daran, weiter, größer, mutiger zu träumen, kosmisch zu träumen. Diese liebenswürde Erzählung voller kosmischer Sehnsucht stellt also die berechtigte Frage nach der Aufgabe bzw. Wiederaufnahme von bemannter Raumfahrt. (Möglicherweise könnten wir schon auf dem Mars sein, aber Kriege zu führen, das scheint lukrativer für …) Und sie stellt auch die Frage nach Bildung für alle. Denn die ganze Entwicklung hätte nicht stattfinden können, wenn Schuiwa trotz all seiner praktischen Fähigkeiten und Erfahrungen nicht das theoretische Rüstzeug auf sekundären Wegen hätte erlernen können. Romantische Sehnsucht und Raumfahrttechnik in Kombination bringen erst die Sonne Chinas auf ihre phantastische Reise. Diese Geschichte zeigt: Menschsein ist mehr als nur Ökonomie.

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II „Die wandernde Erde“

Der vorliegende Sammelband umfasst elf Erzählungen. „Die wandernde Erde“ beispielsweise demonstriert geradezu dramatisch unsere Abhängigkeit von einer stabilen Sonne. Und wenn dies nicht mehr gegeben scheint, muss eben die Erde zu einem Raumschiff umfunktioniert werden. „Um Götter muss man sich kümmern“  fragt, was zu tun wäre, wenn unsere Schöpfer kämen, um ihren Lebensabend auf der Erde bei ihren Geschöpfen, ihren ‚Kindern‘, zu verbringen (Riesige Zeiträume werden dabei dank der Relativitätstheorie übersprungen.), zeigt die Spannungen, welche dadurch entstehen, zeigt letztlich die Unmöglichkeit, dass diese Götter hier bleiben können. Sie gehen mit einer Warnung, denn da draußen gebe es noch andere ‚Kinder‘ von ihnen, die weit gewalttätiger als die Erdlinge wären. Interstellare Kriege scheinen also vorprogrammiert. Und „Mit ihren Augen“ entwirft ein Szenario von einer Traurigkeit und Einsamkeit und Isolation, die kaum mehr auszuhalten sind.

Xin Liu gelingt es immer wieder, aus der Perspektive von Einzelnen Prozesse, die auf gesellschaftlicher Ebene kollektiven Charakter haben und sich zu globalen, ja kosmischen Perspektiven erweitern können, zu veranschaulichen und zu fokussieren, so dass sie annähernd anschaulich, verstehbarer und nachvollziehbar werden. Denn: Wie erzählen von diesem unfassbaren Universum? Gerade die kosmischen Dimensionen marginalisieren dieses oder jenes Individuum (und sogar den Planeten Erde), so dass die Probleme nur in einer Synthese aus gemeinsamer Anstrengung (der ganzen Menschheit) und der Bereitschaft zu heroischer, aufopfernder Einzeltat gemeistert werden können.

Der Band bietet noch „Anmerkungen“ und interessante „Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache“: „Erst ab achthundert ist man offiziell kein Analphabet mehr, und um wenigstens neunzig Prozent aller Texte lesen zu können, sollte man mindestens dreitausendfünfhundert Zeichen beherrschen (‚gebildet‘ gilt man ab etwa sechstausend Zeichen).“[18] Wichtig und sehr passend für diesen Band ist zudem das Nachwort von N. Cheetham: „Die neue Reise in den Westen. Wie Science-Fiction aus China die Welt eroberte.“[19] Dort werden drei Gründe für diese Eroberung genannt: „Erstens ist die Science-Fiction schon von der Anlage her international […]. Indem sie ein bestimmtes Konzept zum Ausgangspunkt nimmt und dieses extrapoliert, ist die SF zu einem Großteil selbsterklärend bzw. durch die Wissenschaft als lingua franca verständlich.[20] Andere Genres sind durch die Masse an historischem, geografischen oder mythologischem Wissen, das vorausgesetzt wird, praktisch unübersetzbar.“[21] Und für den dritten Aspekt kommt Cixin Liu selbst zu Wort: „‘Die SF beschäftigt sich mit Problemen, denen die ganze Menschheit gegenübersteht […]. Dieses Genre hat also eine einzigartige und sehr wertvolle Sichtweise auf die Menschheit – es betrachtet sie stets als eine unteilbare Einheit.‘“[22] Darum ist SF aus China nicht nur chinesisch, sondern vor allem universell.

Und hier meine Wünsche zum Abschluss: Lehrstühle für Sinologie (und auch für Indologie) nicht streichen; Kosmologie und Europa als Schulfächer etablieren und mehr SF aus Südamerika, Afrika und Asien übersetzen.

Lesehinweise:

Markus Pohlmeyer: Nachdenken über Stephen Hawking und andere kosmische Träume(r). Ein Essay, in: http://culturmag.de/crimemag/essay-markus-pohlmeyer-ueber-stephen-hawking/108662, Zugriff am 14.4.2018.

Markus Pohlmeyer: Cixin Liu: Weltenzerstörer. Novelle, übers. v. M. Hermann, München 2018 (HEYNE). Eine Rezension, in: http://culturmag.de/crimemag/novelle-cixin-liu-weltenzerstoerer/111578, Zugriff am 16.9.2018.

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg

[1] Cixin Liu: Die Sonne Chinas, in: Die wandernde Erde. Erzählungen, übers. v. K. Betz, J. Fiederling u. M. Hermann, HEYNE; München 2019, 201-264.
[2] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 217.
[3] Siehe dazu Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 217.
[4] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 225.
[5] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 227.
[6] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 227.
[7] Siehe dazu Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 239.
[8] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 235.
[9] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 247.
[10] Siehe dazu Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 201.
[11] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 248.
[12] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 255.
[13] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 255.
[14] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 259.
[15] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 205.
[16] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 260.
[17] Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 264.
[18] Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache, in: Cixin Liu: Sonne (s. Anm. 1), 633.
[19] N. Cheetham: Die neue Reise in den Westen. Wie Science-Fiction aus China die Welt eroberte. , in: Cixin Liu: Die Sonne Chinas, in: Die wandernde Erde. Erzählungen,  übers. v. K. Betz, J. Fiederling u. M. Hermann, HEYNE; München 2019, 637-649.
[20] Das mag sein; wir haben alle mehr oder weniger eine (un)bestimmte Ahnung über Physik, Biologie, Kosmologie etc. Eine ausführliche Erklärung von Schwarzen Löchern oder Quantengravitation bietet diese Erzählung nicht (kann und will sie auch nicht bieten), sondern belässt es bei Andeutungen. Nur für die Geschichte (fiction) und deren Verständnis relevante science wird ausführlicher dargestellt.
[21] Cheetham: Reise (s. Anm. 19), 648. Aber im Grunde ist dies eine Erklärung für eine hohe Rezeptionsschwelle, aber kein Argument für eine Nicht-Übersetzung, sonst bliebe für uns ein Großteil der Weltliteratur unerschlossen. 
[22] Cixin Liu, zitiert nach Cheetham: Reise (s. Anm. 19), 649.

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