Geschrieben am 3. Februar 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2019

Sonja Hartl über „Bluebird, Bluebird“

Down South

Eine Rezension von Sonja Hartl

Zwei Leichen in einer Woche sind zu viel für den kleinen Ort Lark in Texas, das weiß die 69-jährige Geneva ganz genau. Zwei Tote – Michael Wright, ein schwarzer Anwalt aus Chicago, und Missy Dale, eine weiße Kellnerin aus Lark –, einfach zurückgelassen an einem Ufer. „Sie verschwenden keinen Gedanken mehr an den Mann (…), wenn ein weißes Mädchen tot aufgefunden wird“, bemerkt auch einer der Gäste in Genevas Café am Highway 59. Und vielleicht hätte er recht behalten, dass sich die Polizei nicht weiter um Michael Wright gekümmert hätte. Aber es gibt Darren Mathews. Privat steckt er gerade in einigen Schwierigkeiten: seine Frau Lisa, eine erfolgreiche Anwältin, versteht nicht, warum er trotz Jura-Studium bei den Texas Rangers arbeiten will und hat ihn aus dem Haus geworfen. Beruflich hat er ebenfalls Ärger, seit er einem alten Freund geholfen hat, der nun möglicherweise wegen Mordes angeklagt wird. Also tut Darren, was Männer in diesem Fall tun: er trinkt zu viel und versucht, irgendwie seine Haut zu retten. Da passt es ganz gut, dass ein alter Kumpel vom FBI ihn auf den Fall in Lark aufmerksam macht, zumal dort auch die weiße Gang herrschen könnte, die Mathews zur Strecke bringen will. Also sieht er sich um – und stürzt sich alsbald in die Ermittlungen, von der niemand will, dass er sie führt. 

Ein Protagonist mit Alkoholproblem und beschädigter Karriere, der in einem Ort ermitteln muss, in dem die Bewohner Fremden gegenüber misstrauisch sind und das Gesetz zugunsten alter Loyalitäten schon einmal gebeugt wird. Ganz genregemäß klingt „Bluebird, Bluebird“ von Attica Locke in dieser Zusammenfassung. Doch die Autorin entwickelt aus diesen Muster einen unmittelbar, sehr aktuelle Geschichte, der Kriminalfall ist hier vor allem Spiegel des gegenwärtigen Texas, in dem sich nicht nur äußerlich „über vierzig Jahre nach dem Tod von Jim Crow“ kaum etwas geändert hat. Auch die alten Seilschaften und Hierarchien sind ebenso lebendig wie der ins Mark gehende Rassismus. 

In dieses Land stellt Locke mit Darren Mathews einen Mann, der aus einer Familie stammt, „die seit Generationen in Osttexas lebte; Schwarze, deren Selbstachtung sowohl ein natürlicher Zustand als auch eine Überlebensstrategie war.“ Seine beiden Onkel haben ihm eingetrichtert, niemals einem Weißen einen Grund zu geben, ihn anzuhalten. Der eine war Texas Ranger, der andere ist Anwalt – sie „hielten sich an diese alten Regeln des Lebens im Süden, weil sie begriffen hatten, wie schnell sich das alltägliche Verhalten eines schwarzen Mannes in eine Sache auf Leben und Tod verwandeln konnte.“ Doch trotz dieser Regeln, trotz des Rassismus sehen sie Osttexas als ihre Heimat an – und auch Darren fühlt sich diesem Ort verpflichtet, was seine Frau nicht verstehen kann. Es ist ein Staat, den Darren liebt, „der aus ihm gleichermaßen einen Gentleman und Kämpfer gemacht hat“ und er will nicht hinnehmen. Damit ähnelt er dem toten Anwalt, der wie er aus Texas stammt und dessen Frau Randie nicht versteht, warum er unbedingt an diesen Ort zurückkommen musste. Darren ist damit mehr als nur der Außenseiter, der in einen Ort kommt, um die Wahrheit herauszufinden. Wie seine Onkel vor ihm, die jeweils nach ihrer eigenen Haltung gegenüber den Gesetzen suchten, verbindet er als schwarzer Texas Ranger den Respekt, die dieser Institution und ihren Männer entgegengebracht wird, und erfährt zugleich den selbstverständlichen, allgegenwärtigen Rassismus der Weißen. 

Es ist die Liebe zu diesen Ortschaften, die Liebe zu Osttexas, die dieses Buch durchzieht. Attica Locke hat ein herausragendes Gespür für die Atmosphäre in Cafés und Bars, den Wohnhäusern weißer und schwarzer Texaner, dazu gehören unwiederbringlich die Widersprüche, die sich an diesen Orten manifestieren. Beispielhaft stehen dafür Genevas Café und das Haus von Wally Jefferson, Sohn eines ehemaligen Plantagenbesitzers, aus der Lark entstand. Sie sind nur einen Steinwurf voneinander entfernt, aber zwischen ihnen liegt die jahrhundertelange Geschichte dieses Landstrichs, ihre Nähe voller Abstand repräsentiert Entwicklungen, Verstrickungen, Verfehlungen, enttäuschte Hoffnungen, hoffnungsvolle Zukunft und verhängnisvolle Vergangenheiten. Wie diese Häuser ist auch Geneva Sweet verwurzelt in diesem Ort, aber zugleich verwickelt in die Geschichte der Familie Jefferson. Ihr Café ist Wally verhasst, sie putzt ihn regelmäßig runter. Aber obwohl sie regelrecht Krieg gegeneinander führen, ist da gleichermaßen eine Nähe, eine Vertrautheit. 

Allein in dieser Beziehung, deren Komplexität Locke nach und nach entfaltet, steckt beeindruckend viel Geschichte. Es sind dann diese Geschichten, die familiären Bindungen, die nicht nur den Ort Lark, sondern auch Darren Mathews und das Leben in Osttexas belasten. Und in „Bluebird, Bluebird“ kann einen niemand von dieser Last befreien. 

Attica Locke: Bluebird, Bluebird (2018). Übersetzt von Susanna Mende. Polar Verlag, Stuttgart 2019. 329 Seiten, 20 Euro.

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