„Missions“ – Platon, der Mars und Was wir schon einmal verloren haben.
„Die Hemmungen vor der unverantwortlichen Anwendung der Technik
sind klein und weltweit fast immer kurzfristigen nationalen oder
unternehmerischen Interessen untergeordnet.
Heute sind wir in der Lage, absichtlich oder unbeabsichtigt, die globale Umwelt zu verändern.“[1] (Carl Sagan)
„Narren, die des Hyperions-Sohnes, des Helios, Rinderin sich stopften; doch der nahm ihnen den Tag ihrer Heimkehr.
Davon berichte – beginn, wo du willst –, Zeus’ Tochter, auch uns nun!“[2](Homer)

„Missions“[3]: eine europäischen Raumfahrtmission, gesponsert von dem Milliardär W. Meyer, führt zum „♂ Mars“. Die Episodentitel werden interessanterweise in verschiedenen, vor allem indoeuropäischen Sprachen (z.B. auf Französisch, Englisch oder Deutsch) und mit dem Schriftsystem der entsprechenden Originalsprache (z.B. Hebräisch, Russisch oder Griechisch) angegeben. Ulysse lautet beispielsweise der Name der Landungsfähre und verweist auf „’Οδυσσεύς“ („Odysseus“) und damit explizit auf Homer und implizit auf 2001 – Odyssee im Weltall.
Hauptfigur der Serie ist die Psychologin Jeanne Renoir[4]. Auf dem Mars angekommen, findet die europäische Mission den Kosmonauten einer zerstörten Sojus-Kapsel (aber keine Überlebenden der zuvor abgestürzten US-Crew), was jedoch vollkommen unmöglich scheint, denn W. Komarow ist 1967 bei seinem Weltraumflug ums Leben gekommen. Er führt die Europäer zu einem „Stein“ („Pierre“), einem marsianischen Bauwerk. Dieses bestehe, wie die SchiffsKI[5] „IRN“[6] erläutert, aus vier dorischen Säulen, die einem antike Tempel auf Sizilien ähneln würden; das zentrale Motive verweise auf die Maya-Kultur und das Verhältnis von Länge zu Breite entspreche φ (phi), dem Goldenen Schnitt. Im französischen Original wird dies korrekt angegeben, während die deutsche Übersetzung φ mit π (pi) verwechselt. Zu sehen auf dem Computerbildschirm außerdem die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci. Die Schlussfolgerung: Der Stein vereinigt die Kunst einer Mars-Zivilisation, deren isolierte Elemente dann für verschiedene irdische Kulturen stilbildend wurden. Aber wie ist das möglich? (Außerdem stand auf dem Stein ein kleines, pyramidenförmiges Gebilde.[7]) Hinzukommt – jetzt wird es unheimlich –, dass Meyer schon durch vier Jahre alte CURIOSITY-Bilder über die Existenz des Steins informiert war. Meyer erläutert Jeanne, es sei auch eine elektromagnetische Strahlung entdeckt worden, die, sichtbar gemacht, Konturen von Jeannes Gesichts zeigten. Dies ist indirekt auch eine Anspielung auf die berühmten Mars-Gesichter.[8] Auch die Episodentitel erweisen sich somit im Rückblick (in hermeneutischer Korrektur zur klassischen Primärreaktion: hmm, watsollndat?) als sprachliche Variationen oder Weiterentwicklungen einer Kultur (oder waren es doch mehrere Kulturen?), die ihren Ursprung auf den Mars hatte.

Die Serie verknüpft russische, amerikanische und europäische Raumfahrt mit der Vision einer Reise zum Mars. Doch die Träume einer möglichen Besiedlung zerbrechen, auch ästhetisch in den unheimlich gut inszenierten Wüsten- und Gebirgslandschaften mit ihren gewaltigen Stürmen. (Manches wirkt wie ein Zitat oder Echo aus INTERSTELLAR: eben dieses Scheitern, einen neuen, bewohnbaren Planeten zu entdecken.) Doch es finden sich auf dem Mars keine Außerirdischen, sondern Relikte unserer Vorfahren, die zur Erde übergesiedelt waren, wo deren Nachfahren nun im Begriff sind, auch diesen Planeten zu ruinieren. Und auf dem Mars existiert in Gestalt (ein Avatar?) von Komarow diese einsame, Millionen von Jahren alte, so traurige KI, die auf die Ankunft von Jeanne Renoir[9] geradezu sehnsüchtig wartet. Die Psychologin verschmilzt am Ende mit der Mars-KI (nach meiner Deutung) und repräsentiert eine neue Form der menschlichen Evolution.

Es kommt davor noch zu einer bedrohlichen Allianz („bərîṯ“[10]) mit einer amerikanischen Rettungsmission. (Die Europäer können nämlich aus eigener Kraft nicht mehr zur Erde zurückkehren.) Komarow wird von einem europäischen Besatzungsmitglied erschossen, als er von den Amerikanern zur Erde gebracht werden soll. Aber die KI erscheint wieder an einem anderen Ort den Menschen – wie ein Phönix[11] aus der Asche. Meyer übernimmt gewissermaßen die Funktion eines Boten (eines Engels oder Apostels?), der sowohl den Getöteten als auch den Auferstandenen (Komarow) gesehen hat.
Die Parallelen sind offensichtlich: die Menschen zerstören Mars und Erde; die Menschen bauen auf Mars und Erde KIs; die ursprünglichen marsianischen Menschen beherrschten die Raumfahrt so wie jetzt die irdischen. Doch zurück zum Anfang: Diese Serie arbeitet mit einfachen, aber sehr wirksamen Mitteln. Auf dem Rückweg von einer zerschellten Rakete findet man im Mars-Nirgendwo einen Kosmonauten, der schon längst tot sein sollte. Dieser Kosmonaut war aber der Held der Erzählung von Jeannes Vater. Geschickte Rückblenden heben die lineare Erzählweise und Zeitlinie gewissermaßen auf, weil Jeannes Vergangenheit auf der Erde mit ihrer Gegenwart auf dem Mars konvergiert. Dann entdecken die Menschen den schon erwähnten Stein; später gelangt eine kleine Gruppe in eine Art Höhle oder Gruft mit Wasser und atembarer Luft. Sie befinden sich in einem Grabmonument (… auf einer riesigen Wand eingemauerte Menschen- bzw. Marsianerschädel …), das zugleich auch über ein Portal verfügt, welches sie zum Nordpol des Mars bringen kann (Oder war es letztlich doch eine Reise in die Vergangenheit oder nur eine Simulation?). Dort erfahren Jeanne und die anderen von Komarow, das sich hier die letzten Überlebenden umgebracht hätten. Die Migration zur Erde sei im Laufe der Zeit zu einer Legende geworden, Platon habe sie Atlantis genannt. Aus dem platonischen Dialog Timaios:
„Auf dieser Insel Atlantis bestand eine bedeutende und bewundernswerte Königsmacht […]. Als sich später dann gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen ereigneten, versank binnen eines einzigen schlimmen Tages und einer einzigen schlimmen Nacht bei euch das ganze kämpferische Volk in der Erde und die Insel Atlantis verschwand ebenso, indem sie ins Meer eintauchte.“[12]
Ein idealisiertes Ur-Athen habe sich gegen den Expansionsdrang von Atlantis gewehrt, so der Timaios. Und Mars verweist zudem auf das Imperium Romanum, dessen mythologischer Gründer Romulus eben von dem Kriegsgott Mars, also vom Krieg, abstammen soll. Anders gewendet, Gewalt zwischen Individuen oder Staaten kann auch in planetare Maßstäbe eskalieren. Die Serie lebt von diesen Andeutungen, Anspielungen und vielen Geheimnissen, die gerade nicht alle aufgeklärt werden. Und wohltuend: keine sinnlosen Zerstörungsorgien; außerdem haben die Marsianer ja schon selbst eine solche durchgeführt.
Jeanne durchläuft eine typische Heldenreise: durch schieren Zufall scheint sie an dieser Marsmission teilnehmen zu können. Doch ihr Gesicht auf dem Mars zeigt, dass sie schon erwartet wurde. In Rückblenden erinnert Jeanne sich an ihren verstorbenen Vater, der sie für Astronomie begeisterte, dessen Held Komarow war (weil dieser sich in einer Art Selbstmordmission für Gagarin geopfert habe) und der bei den gemeinsamen Beobachtungen der abendlichen Gestirne zu sagen pflegte, der Mars sei zur Stelle. Genau dies zitiert übrigens die Mars-KI, als Jeanne den Stein entdeckt.
Allein ein Blick nur in das Inhaltsverzeichnis von C. Voglers „Die Odyssee des Drehbuchschreibers“ kann zeigen, wie viel davon in Missions umgesetzt wurde. H. Debeurne betont in den Extras der DVD, dass die Serien-Schöpfer Archetypen erschaffen wollten. Jeanne (die Psyche, die Anima – im Gegensatz zum Animus Mars?) verweist schon mittels ihres Berufes auf C. G. Jung oder auf S. Freud. Sie wird vom „Ruf des Abenteuers“[13] auf den Mars gebracht, wo auf sie ein „Vordringen zur tiefsten Höhle“[14] wartet. Ihr Vater hat die Rolle des Mentors und in Komarow begegnet ihr der Avatar einer KI – ein Gestaltwandler gewissermaßen, der durch Räume und Zeiten und durch ihre Erinnerungen wandern kann. Überhaupt scheinen sich in Missions die Zeitenebenen bzw. deren linearer Verlauf aufzuheben. Natürlich gibt es Feinde: die aggressiven ‚Mitarbeiter‘ der amerikanischen Rettungsmission, hinter denen wie ein Schatten der Milliardär I. Goldstein agiert, dem das Leben und das Wohl anderer Menschen mehr als gleichgültig sind, wenn nur darum geht, sein eigenes um jeden Preis zu verlängern. Darum die auch von ihm finanzierten US-Mars-Missionen. Zum Schluss bleibt Jeanne, die neue Jeanne mit neuen Fähigkeiten, auf dem Mars zurück, nachdem sie ihre Crew gerettet hat – ein Echo des Anfangs der Serie, als sich der Kommandant, der auch ihr Geliebter war, bei der komplizieren Ladung für alle opfern musste. Vielleicht hat sie durch ihre Metamorphose das „Elexier“[15] gefunden, um die Menschheit zu retten? Denn der Planet Mars selbst erweist sich in Mission als das gigantische Monument einer selbstverschuldeten Vertreibung aus dem Paradies und keinesfalls als der Traum irdischer Expansion. „Die Erde ist eine Anomalie. Im gesamten Sonnensystem ist sie, soweit wir wissen, der einzige bewohnte Planet. […] Wir sind so rar und kostbar, weil wir am Leben sind, weil wir denken können, so gut wir es vermögen.“[16]

Der Regisseur J. Lacombe betont (im Bonus-Teil der DVD) unter anderem beim Design den Einfluss von ALIEN: das Prinzip weniger Kulissen (z.B. das Innere der Ulysse) oder im Motiv der Kammer, was hier einen Abstieg in eine bedrückende Vergangenheit bedeutet, die wie ein (platonisches) Urbild der anstehenden ökologischen Katastrophe auf dem Abbild Erde zu deuten wäre. Jeanne als Heilbringerin, die aus der Gruft wörtlich und metaphorisch ins Licht gestiegen ist, wäre vielleicht die einzige Hoffnung. Auch dies kann als Variante des platonischen Höhlengleichnisses aus der Politeia gelesen werden. Es gäbe noch viel, viel mehr über diese phantastische Serie zu schreiben.
Als ich dies schrieb – neben meinem Computer Platons Timaios –, schien fast den ganzen Tag lang eine allererste, wärmende Frühlingsonne, wieder die Vögel sangen nach des Winters Stille. Und – ich war in einem Park – unzählige Schneeglöcken hemmungslos glücklich auf grünem Moos, in Gelb und Violett mutig blühende Krokusse, später ein rötlicher Abendhimmel wie aus einem Gemälde der Romantik. Vielleicht fegt gerade ein gigantischer Sandsturm über die Wüsten des Mars, jagt durch den gigantischen Canyon des Valles Marineris und hüllt den Vulkan Olympus Mons ein?
Markus Pohlmeyer lehrt an der
Europa-Universität Flensburg.
[1] C. Sagan: Gott und der tropfende Wasserhahn. Gedanken über Mensch und Kosmos, übers. v. M. Schmidt, München 2001, 99.
[2] Homer: Odyssee, übers. v. K. Steinmann, 2. Aufl., München 2007, 5.
[3] Alle direkten und indirekten Zitate zur Serie wie auch die Episodentitel entnommen aus Missions. Sie dachten, sie wären alleine …, Staffel 1, Regie: Julien Lacombe, © 2019 PANDASTORM PICTURES GMBH, Berlin (© 2016 EMPREINTE DIGITALE).
[4] Ist der Nachnahme eine Anspielung auf den berühmten Maler?
[5] KI = Künstliche Intelligenz.
[6] Frz. Irène, von einem altgriechischen Wort für ‚Frieden‘.
[7] Zur sog. Marspyramide siehe T. Dambeck: Planeten – Welten. In den Tiefen des Sonnensystem, Stuttgart 2017, 89: „Dieser Marsfelsen misst 25 mal 40 Zentimeter und wurde von CURIOSITY im September 2012 analysiert. […] Die pyramidenförmige Gestalt wurde durch Winderosion geformt.“ Und weitere wunderbare Aufnahmen z.B. vom Olympus Mons, der nördlichen Polkappe und Valles Marineris, ebd. 84-88.
[8] Siehe dazu K. Frazier: Das Sonnensystem, übers. v. B. Reß-Bohusch, 5. Aufl., Amsterdam u.a., 1988, 101. „Eine seltsame Formation auf dem Mars, die der Viking-1-Orbiter im Jahre 1976 fotographierte, hat überraschende Ähnlichkeit mit der Skulptur eines Menschenkopfes. Aber der phantasiebeflügelte Gedanke, daß es sich hier um das Artefakt einer vergangenen Zivilisation handeln könnte, wurde von der photogeologischen Auswertung schnell widerlegt: Das Gebilde ist in Wirklichkeit ein schattengeflecktes Tafelland von 1,5 Kilometer Durchmesser.“
[9] Anspielung auf den berühmten Maler?
[10] Umschrift des hebräischen Originals angelehnt an T. O. Lambdin: Lehrbuch Bibel-Hebräisch, hg. v. H. v. Siebenthal, 2. Aufl., Gießen 1993, 53. (Dort auch die Übersetzung „Bund, Vertrag, Abkommen“.)
[11] So auch ein Episodentitel. (Zu Phönix siehe bitte Tacitus, Annalen 6, 28.) Hier ein Kontrast zwischen einer quasi-unsterblichen KI und den sterblichen Menschen?
[12] Platon: Timaios. Gr./Dt., übers. v. T. Paulsen u. R. Rehn, Stuttgart 2003, 29. Und ein Zitat aus Anm. 9 (ebd., 218): „Die Wahrscheinlichkeit ist indes groß, dass ganze Forschergenerationen ein Phantom gejagt haben und Atlantis lediglich der Phantasie Platons entsprungen ist. Ausführlicher wird der Mythos im Fragment gebliebenen Dialog Kritias […] fortgesetzt.“
[13] C. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, übers. v. F. Kuhnke, 6. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 5.
[14] Vogler: Odyssee (s. Anm. 13), 5.
[15] Vogler: Odyssee (s. Anm. 13), 7.
[16] Sagan: Gott (s. Anm. 1), 101 f.