Geschrieben am 1. März 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (22): Giulia Radaelli

Gaze

Giulia Radaelli

Frühling

Vorgestellt von Corinna Sigmund

Frühling

Wieviele begrabene Bäume im Trasimeno-See.
Keine Eile, keine Eile, Geduld, Schweigen,
wenn er tot ist, musiziert die Staatskapelle Dresden, und der Frühling zögert und zögert.

Mein stummer Bote,
Deine misstönigen Schritte durch dänischen Torf.
Ein gefrorener Ast, ein Knickgeräusch von früher,
vertraue Dir: mein Baum lauscht unbekannt.
Werde ihn ausschlämmen im Frühling.

Erinnerst Du Dich in Surakarta, die Lotusblüten im Garten
so schwer, dass sie sich bückten?
Ewigen Frühling bescherte uns der Augenblick
hinter den Lidern, dort,
wo nichts verwelkt.

In einem CD-Booklet der Aufnahme von Robert Schumanns „Frühlingssymphonie“ nennt der Musikjournalist Richard Wigmore als klangliches Charakteristikum der Dresdner Staatskapelle folgende Worte: „mellow, veiled“.

Der Trasimeno-See liegt im italienischen Stiefelschaft genau zwischen Tyrrhenischem Meer und Adria. Ich erinnere mich, wie ich an einem Spätsommertag mit dem Auto zu diesem See fuhr. Dort: das Ufer verschilft. Die kleinen Zuflüsse, von denen der See gespeist wird, waren durch die Trockenperiode versiegt. Insekten legten ihre Eier in das seichte, schlammige Gewässer. Aus den Böschungen erhoben sich Vögel, deren Leiber beim Flug nur knapp über dem Wasserspiegel hielten.

Ich lese das Gedicht Frühling von Giulia Radaelli. Ich höre den zweiten, den Adagio-Satz, der Schumannschen Frühlings-Symphonie. Ich sehe die erinnerte Trübnis des trasimenischen Sees. Im Vorübergehen: das Gefühl des Ausbleibens von Bewußtsein. Was geschieht ist, was nicht geschieht.

Der Frühling geschieht nicht I:

Große Verlangsamung. Keine Eile! fordert wer; keine Eile, sagt er zum zweiten Mal, beeilt sich nicht. So wartet der Frühling in der ersten Strophe: „zögert und zögert“. Kein doppeltes Zögern, ein zögerndes Zögern.

Der Frühling geschieht nicht II:

Ein Bote kommt. Den Frühling anzukündigen? Er spricht aber nicht. Es friert. Der Frühling: irgendwann..

Der Frühling geschieht nicht III:

Gewesener Frühling. Es-war-einmal-Frühling weit weg in der Ferne (Surakarta, Lotusblüten). Der utopisch konservierte Frühling mit dem Widerspruch des ewigen Anfangs. Kein Zyklus, ein Still.

Die Orte der drei Gedichtteile liegen weit auseinander: Mittelitalien, Ostdeutschland, Dänemark, Java. Die Wegmarken dieser Orte: begrabene Bäume, ein Orchester, ein gefrorener Ast, die Blüten des Lotus. Bilder, vereinzelt, kein Gemälde.

Und trotzdem: die Übergänge bleiben ohne Brüche. Die drei Frühlinge fassen ineinander wie an den Rändern radierte Gedankensequenzen, die mit demselben wehen Sentiment gezeichnet sind, das wie ein Vorhang aus Gaze sich schließt vor einem ‚Du’: „weich, verschleiert“.

Corinna Sigmund

Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (23): Christoph Leisten

Zu Neuer Wort Schatz II (21): Anja Utler

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist unveröffentlicht.