Geschiebelehmsande
Thomas Böhme
DEN TEE MIT ERDE VERMISCHT
Vorgestellt von Gisela Trahms
DEN TEE MIT ERDE VERMISCHT: in diesem Zimmer
wird man süchtig an allem. Und manchmal
fällt einem dann ein Wort gegen Schmerz ein.
Ein Wort nur mit Zahngeräuschen, ein Wort
zwischen braunen, knirschenden Ablagerungen,
die aus Eiszeiten übrig gebliebenen
Geschiebelehmsande.
Du könntest jetzt hier sein, wenn ich zwölf wäre.
Und du, du wärst immer noch dreizehn.
Süchtige wären wir,
süchtig im Wachsen und einander Ähneln.
Solche Freundschaften halten
ein ganzes Leben und länger
müssen sie auch nicht dauern.
Du könntest jetzt hier sein, Süchtige wären wir
wie vor drei Ewigkeiten
in einem anderen Zimmer.
Zwischen braunen, knirschenden Ablagerungen
kann man es noch in den Nächten betreten
in einer nachgedunkelten, karg möblierten
Gedankenschleife.
Auch die Sehnsucht kann eine Sucht sein, taub gegen alle Argumente der Vernunft, besonders wenn sie sich auf Vergangenes richtet. Sinnlos, das Unwiederbringliche herbeizuwünschen, doch das Verlangen nimmt uns in den Klammergriff und wie wir da je wieder rauskommen (wenn wir es überhaupt wollen), weiß keiner. Man ist nicht mehr zwölf, der andere nicht mehr dreizehn, eine Barriere aus Konjunktiven trennt uns von abgelebter Jugend. Der Ort der Freundschaft wanderte aus dem Raum in die Zeit und ist nur noch in der „Gedankenschleife“ der Erinnerung erreichbar; dennoch bewahrt er seine Anziehungskraft.
Wie kann man süchtig werden „an“ allem? Die übliche Präposition ist ‚nach’: Die Hände ausstrecken nach dem Objekt der Begierde. Das Süchtig Werden „an“ lässt uns ein Ich sehen, das sich im Zimmer der Gegenwart an allem stößt: den Möbeln, dem Alleinsein, der Leere. An jeder Kleinigkeit reibt sich die Seele, alles treibt sie in die Sucht nach dem, was war. Ein Wort „gegen den Schmerz“ stellt sich zwar ein, aber es bleibt ohne Inhalt. Nichts als „Zahngeräusche“. Das Wort wird zermalmt „zwischen“ den eiszeitlichen Ablagerungen, so wie die Zähne deren letzte, winzige Brösel zermahlen. Gletscherwanderungen bewegen halbe Kontinente, die von den Jahrtausenden zu Sand pulverisiert werden: Gigantisches zerfällt in Mikro-Teilchen und erzeugt so befremdliche Wörter wie jenes „Geschiebelehmsande“, das in den verbalen Rezeptoren knirscht wie die Erde in den dentalen.
Eingebettet in die Zeitmassen ein biographisches Sandkorn: die Freundschaft zwischen Zweien, die gerade das Kindsein abgelegt haben und sich dem Erwachsenendasein entgegenrecken, wörtlich und metaphorisch. Süchtig danach, sich zu ähneln, einander zum Spiegelbild zu werden, zu dem man Ich sagen kann. Jeder kennt die Beziehungsglut dieses Alters, die monomane, erotisch schillernde Fixiertheit auf den Einen. Lebenslange Freundschaften erwachsen daraus, sagt die zweite Strophe (und führt den Leser zunächst auf den Irrweg, dass sie noch länger halten als das Leben, was ja unmöglich ist). Eine tröstliche Aussage, die durch kein Wort widerlegt wird, und doch steht sie seltsam verloren da. Im Beginn der nächsten Strophe triumphiert wieder der Irrealis – hat die Freundschaft nicht gehalten, endete sie im Streit? Ist der Freund unerreichbar? Tot? Handelt es sich eher um eine nachträgliche Glorifizierung?
Am Ende knirschen unter den Füßen des Ich die Sedimente der eigenen Lebensgeschichte. Nachgedunkelt und braun sind sie wie alte Fotos. Das Zimmer der Jugend ist „karg möbliert“, was nach ‚armselig’ klingt, aber auch ‚auf das Wesentliche konzentriert’ heißen könnte: Das Unwichtige wurde längst vergessen. Die optischen und akustischen Assoziationen schlagen den Bogen zurück zur ersten Strophe. Beide Male ein Zimmer, Süchtigsein, Ablagerungen so braun wie der Tee, der im Eröffnungsvers genannt wird. „Den Tee mit Erde vermischt“ – wer käme auf eine solche Idee? Zufall, Absicht? Ein jugendlicher Blödsinn? Haben die Freunde mit Tee und Erde experimentiert in der Hoffnung auf Rausch? Haben sie „was im Tee“? Oder der, der sich erinnert?
Einst stieg ganz Combray und alles, was daraus folgte, aus einer Tasse Tee und füllte Tausende von Seiten. Solche Ambitionen hat das Gedicht nicht. In beiläufigem (aber klug kalkulierten) Parlando kommt es daher und überträgt die Intensität der Sehnsucht auf den Leser. Ich weiß, nickt er und wird alles daran setzen, dass die eigenen nächtlichen Zimmer erreichbar bleiben, selbst wenn der Schmerz dort wartet.
Gisela Trahms
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (25): Monika Rinck
Zu Neuer Wort Schatz II (23): Christoph Leisten
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Das Gedicht ist erschien in:
Thomas Böhme: Nachklang des Feuers
Galrev Berlin 2005. 112 Seiten. 15,00 Euro.
Foto: © Ingo Wilhelm