
Kein gutes Opfer
Ich stehe nachts vor einem Geldautomaten in einer Bankfiliale. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein Mann hereinkommt, eilig auf mich zutritt und mir einen Gegenstand in den Rücken bohrt.
„Keine Bewegung! Geld her!“, zischt er mir ins Ohr.
Ich richte den Blick starr auf das Display vor mir. „Ich habe nichts abgebucht“, erkläre ich ruhig. „Ich habe was eingezahlt.“
„Dann hebst du es wieder ab, und zwar alles“, höre ich es hinter mir.
„Das geht nicht.“
„Was soll das heißen, geht nicht?“
„Ich habe keine PIN-Nummer.“

„Willst du mich verarschen?“ Der Mann hinter mir wird unruhig. „Du hast ein Konto bei der Bank, zahlst Geld ein und willst mir erzählen, dass du es nicht wieder abheben kannst?“
„Es handelt sich um ein Vereinskonto“, berichte ich wahrheitsgemäß. „Ich bin der Kassenwart. Wir sind ein Kulturverein mit Barbetrieb. Wir zahlen nur Geld ein und begleichen unsere Rechnungen über Online Banking. Ich kenne die PIN-Nummer für die Karte nicht.“
„Verdammte Scheiße“, höre ich es von dem Mann. „Da habe ich ja richtig ins Klo gegriffen.“
„Tut mir leid“, sage ich.
Einen Moment lang herrscht Ruhe.
„Wie viel hast du eingezahlt?“, höre ich es von hinten.
Ich halte den Einzahlungsbeleg nach hinten. „850 Euro.“
Der Räuber nimmt den Zettel und knüllt ihn zusammen. „Weiß jemand von deinem Verein die PIN-Nummer?“
„Ich glaube nicht. Wir nutzen das Konto schon lange so. Ich bin erst seit kurzem Kassenwart und mir wurde vom Vorgänger nichts weiter übergeben als die Bankkarte und das Passwort für das Online Banking.“
Der Mann hinter mir entscheidet schnell. „Kannst du deinen Vorgänger anrufen? Vielleicht weiß er die PIN-Nummer.“
„Wenn ich das tue, wird er wissen wollen, wozu ich die brauche. Dann müsste ich eine Erklärung liefern. Außerdem wird er die nicht haben. Die ist in irgendeinem Ordner im Vereinsbüro abgeheftet.“
In diesem Augenblick denke ich, dass die Sache erledigt ist. Mit dieser Konstellation hat der Räuber nicht gerechnet und die Schwierigkeiten, die ich ihm als Opfer in den Weg lege, werden ihn von seinem Vorhaben abbringen. Aber ich täusche mich.
„Hat dein Verein gerade offen?“ Ich spüre wieder den Gegenstand im Rücken. Entweder hat der Mann einfach zu viel Zeit, oder er hat sich was wirklich in den Kopf gesetzt.
„Ja“, antworte ich und bin sicher, dass er gleich aufgeben wird. „Aber ich habe vorhin alles Bargeld aus dem Laden geholt und eingezahlt.“
„Ich frage nicht wegen des Geldes“, höre ich es hinter mir. „Ich frage wegen der PIN-Nummer.“
Ich seufze. „In dem Büro sieht es chaotisch aus. Da hat seit Jahren keiner mehr aufgeräumt. Es gibt etwa 30 Ordner. Alle sind beschriftet, aber das heißt nicht, dass da auch drin ist, was drin sein soll. Das meinte ich vorhin mit ‚in irgendeinem Ordner abgeheftet“. Bestimmt gibt es einen Ordner, der mit Bank oder Bankunterlagen beschriftet ist, aber es wäre ein Glücksfall, wenn sich dort dann auch tatsächlich die PIN-Nummer befindet. Es wird Stunden dauern, die zu finden.“
„Wir haben doch Zeit“, sagt der Räuber. „Die ganze Nacht.“
Jetzt drehe ich mich zu ihm um. „Und wie soll ich das der Tresenschicht erklären? Soll ich sagen: Ich geh mal eben mit dem Typen hinten ins Büro und suche die PIN-Nummer der Bankkarte. Dann gehe ich mit dem Typen wieder zurück und buche unser Vereinsgeld ab. Soll ich das sagen? Pass auf, die Sache ist so: Heute hat Harald Tresenschicht. Der macht in seiner Freizeit Karate. Am Tresen saßen vorhin Kalle, der war bis vor kurzem bei den Hells Angels, und Matze. Der ist Satanist. Kurz gesagt: Bei mir ist nicht zu holen, hast du das jetzt verstanden?“
Der Räuber lässt den Gegenstand sinken und fängt plötzlich an zu weinen. „Warum machst du es mir so schwierig? Sonst ist es doch kein Problem. Alle heben Geld ab, nur du nicht. Alle haben eine PIN-Nummer, entweder im Kopf oder auf einem Zettel. Nur du hast keine Nummer! Nur du machst mir Probleme, warum nur?“
„Tut mir leid“, sage ich instinktiv und schaue betreten zu Boden. Dann habe ich eine Idee. Ich greife nach meiner Brieftasche und hole einen 20-Euro-Schein heraus. „Hier“, sage ich zu meinem Gegenüber. „Nimm das als Ausgleich. Wegen deiner Mühen.“
Der Räuber sieht den Schein und hebt plötzlich wieder den Gegenstand. „Gib mir dein Geld“, ruft er.
Jetzt habe ich die Schnauze voll. „Also so geht das ja gar nicht. Ich meine, da gebe ich dir etwas Geld, zeige mich also wohltätig, und dann willst du mich plötzlich ausrauben. Du bist echt das größte Arschloch, das mir je begegnet ist.“ Ich reiße ihm den Schein aus der Hand und gehe an ihm vorbei.
Erneut bricht der Räuber in Tränen aus. Ich bleibe stehen, gehe einen Schritt zurück und drücke ihm das Geld wieder in die Hand. Er schaut auf den Schein, begutachtet ihn, fast so, als wäre er ein Kind, das seinen ersten Geldschein bekommt.
„Und dein Verein hat jetzt offen, ja? Mit Barbetrieb?“, fragt er schluchzend.
„Mit Barbetrieb“, bestätige ich. Ich warte einen Moment ab, unsicher, ob ich weiter freundlich zu ihm sein soll. Ich entscheide mich und lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Das erste Bier gebe ich dir aus, okay?“
Er schaut mich an und lächelt schüchtern.

Aus einem Bier wurden mehrere und irgendwann am frühen Morgen kamen wir auf die Idee, nach der PIN-Nummer zu suchen. Harald, Kalle und Matze haben mitgemacht und bei der Gelegenheit haben wir endlich mal aufgeräumt. Das war wirklich nötig, und wir verdanken es allein Benni, der mir nach einigen Bieren gestand, dass dies sein erster Überfall gewesen sei. Unterlagen von der Bank haben wir zwar gefunden, aber nicht die PIN-Nummer. Aber das war am Ende wohl auch besser so.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.