Geschrieben am 3. Mai 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz (30): Robert Schindel

culturmag_logo_quadratKlugstädtchen

Robert Schindel

Geschichtszauber

 

Vorgestellt von Irina Bondas

Geschichtszauber

Wenn wir mit all unseren Gliedmaßen nach
Weimar fahren im Mai, dann kostet das was
Dann kostet das was

Weimar ist wohl das Klugstädtchen aus der Büchse
Mit Legendenfurzen und Knochenmühlen im Umland
Knochenmühlen im Umland

Auf dem Weg dahin mittels Eisengleisen
Zahlt jemand vorher schon, was er nachher erleidet
Zahlt vorher schon nachher

Nach Weimar fahren statt in Birkenau bleiben
Im »Elephanten« speisen, statt aus den Wolken scheißen
Das kostet doch was, das ist doch was

Wir fahren nach Weimar. Vom Kulturbahnhof aus laufen wir Richtung Innenstadt, diesem idyllischen Freilichtmuseum der deutschen Kulturgeschichte, der Geburtsstätte der Weimarer Klassik. An jeder Ecke sprechen die großen Dichter und Denker zu uns.

Im Mai sollte gutes Wetter für einen Ausflug zu erwarten sein. Es wäre so einfach, in Weimar die Zeit still stehen zu lassen, wäre die Weimarer Republik nie gescheitert, hätten die Züge diesen Ort nie verlassen, hätte nie stattgefunden, was dem Mai 1945 vorausging.

Geradezu an ein Volkslied erinnert die Form des Gedichts. Die letzten Zeilen jeder Strophe allerdings schweben wie ein Nachhall der dynamischen ersten Verse und lassen den Leser mit dem Gefühl zurück, dass ein vierter Vers fehlt. Etwas bleibt unausgesprochen, kann nicht gesagt werden. Heiter und unbeschwert möchte das Liedchen daherkommen, aber erwischt immer wieder die falschen – tieferen Töne.

Unwillkürlich drängen sich Assoziationen an grausame Details aus dem eigenen Wissen über die Shoah auf. Es ist, als würden die Begriffe in ihrer eigenen Mehrdeutigkeit hängen bleiben. Das eindringliche Echo, die Wiederholung einzelner Worte ist wie ein mahnendes Gewissen. Der Preis für die Fahrt ist das Leitmotiv.

Dass der Weg zum Konzentrationslager Buchenwald, zu den Knochenmühlen im Umland, mittels Eisengleisen über das Klugstädtchen führte, ist genauso Teil von Weimars historischer Identität wie das Wohnhaus Schillers. Die Touristenattraktion „Elephant“ kann sich nicht nur mit den Stammgästen Liszt oder Wagner rühmen, sondern war auch Hitlers Lieblingsgasthaus, auf dessen Balkon ihn die Weimarer mit dem Reim: „Lieber Führer komm heraus aus dem Elefantenhaus“ gelockt haben sollen. Dass die bloßen Substantive Gleise, Gliedmaßen, Knochenmühle, Büchse unddie geographischen Bezeichnungen Weimar oder Birkenau heute innerhalb des historischen Zusammenhanges  – des Umlandes– aufgeladen sind, ist unvermeidlich.

Die mehrfache Besetzungder Geschichte kann nicht ignoriert werden, zu fest ist sie in unserem Bewusstsein verankert. Historische Gegebenheiten lassen sich nicht isoliert voneinander betrachten, wie groß die Versuchung auch sein mag. Gerade in Weimar hat Goethe Mephisto sagen lassen: „Was ist daran zu lesen? Es ist so gut, als wär es nicht gewesen. / Und treibt sich doch im Kreis als wenn es wäre. Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.“ Theodor Adorno hat darin das „innerste“ Prinzip des Teufels gesehen: die „Zerstörung von Erinnerung“.

Robert Schindels Gedicht ist nicht als moralischer Imperativ zu verstehen. Vielmehr zeigt es das Dilemma unseres historischen Selbstverständnisses. In der letzten Strophe kulminiert die Frage nach einer Alternative:

„Nach Weimar fahren statt in Birkenau bleiben
Im »Elephanten« speisen, statt aus den Wolken scheißen“

Warum können wir uns nicht einfach den Glanzlichtern zuwenden, anstatt auf die dunkle Seite der Geschichte zu starren? Wie viel verlockender ist die Alternative, sich den angenehmen Seiten des Lebens hinzugeben und mit Körper und Geist im Einklang zu leben, als auf die bloße körperliche Existenz reduziert zu sein. Das scheißen ist vulgär im Kontrast zum feinsinnigen speisen. Unangenehm sind also solche Mahnungen aus den Wolken inmitten der hohen, erlesenen Kultur.

Der Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Erinnerung und dem Wunsch zu vergessen ist der individuellen Reflexion der Vergangenheit stets inhärent. Theodor Adorno schreibt: „Die Tilgung der Erinnerung ist eher eine Leistung des allzu wachen Bewußtseins als dessen Schwäche gegenüber der Übermacht unbewußter Prozesse.“Die Konfrontation mit unserer Erinnerung, mit der Geschichte, fordert eine Reaktion von uns – sowohl emotionaler als auch intellektueller Art. Bereits in Erfahrung gebrachtes Wissen – ob als Be-wusstsein oder als Ge-wissen – lässt sich nicht wieder umkehren.

Das Zauberhafte kann nur durch Verschleierung und Verschiebung des Tatsächlichen geschaffen werden. Zauber bedeutet nicht nur Faszination, sondern auch Manipulation. Dem Zauber wohnt die Ungewissheit des Unerklärlichen inne. Manipulation macht Geschichte zu einem Zauberhut – einer leeren Hülle, zum Ewig Leeren, zur zerstörten Erinnerung. Geschichte impliziert hingegen gerade die Aufklärung dieser Ungewissheit, der Mythen – der Legendenfurze. Deswegen kann es nach Auschwitz kein vor Auschwitz mehr geben. Heute ist vorher schon nachher.

In wenigen Strophen bringt Geschichtszauber die Aufarbeitung vieler Jahrzehnte auf den Punkt: wenn wir nach Weimar fahren, fahren wir nach Buchenwald, fahren wir nach Auschwitz-Birkenau, fahren wir nach Weimar. Jemand hat – für immer – bereits dafür gezahlt. Und uns kostet es  – vor allem – Überwindung.

Irina Bondas

Gedichte mit kritischer Neugier zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (31): Oswald Egger

Zu Neuer Wort Schatz II (29): Adrian Kasnitz

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist nachzulesen auf der Homepage von Robert Schindel.

Es erschien außerdem in dem Band:
Robert Schindel: Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen.
Suhrkamp 2000. 95 Seiten. 6,99 Euro.

| Zur Homepage von Robert Schindel