
Licht aus dem Süden
Utopien sind – aus guten Gründen – in Misskredit geraten, Weltuntergangsszenarien haben Konjunktur. Aber auch diese Geschichte ist nicht zu Ende. Aus einer Ecke, aus der man/frau/wir/obergscheiten Intellektuellen es nicht erwartet haben, erschallt ein Ruf der Hoffnung: Der Kontinent, der für sich den „Status als Erstgeborener der Menschheit“ in Anspruch nehmen kann, sucht einen eigenen Weg – jenseits des Wettstreits, „in dem die Nationen sich verächtlich anschauen, um zu ermessen, wer am meisten Wohlstand angehäuft hat“ hat, und die „in ihrem verantwortungslosen Vorgehen die gesellschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen menschlichen Lebens aufs Spiel“ setzen.
Diese Zitate stehen am Schluss des kleinen Bandes von Felwine Sarr, der die Begriffe, die Indikatoren für Wohlstand, die Denkmuster und kulturellen Bezugspunkte für die Beurteilung Afrikas infrage stellt. Farr will nicht aufholen, nicht überholen, und auch nicht eine abgeschottete schwarze Identität verherrlichen, sondern eine afrikanische Moderne entwerfen. Er fragt, wie eine Heilung von den Wunden der jahrhundertelangen Ausbeutung möglich wäre, und wie ein Denken aussehen könnte, das der Menschenwürde gerecht wird. Afrika, das meist als dunkler zurückgebliebener Kontinent beschrieben wird, ist mehr als Sklaverei und Kolonialismus, aber es ist von Knechtung und Entfremdung geprägt. Auch das Selbstbild der Afrikaner ist kolonial gefärbt, die Wahrnehmung des eigenen Lebens, einschließlich Minderwertigkeitskomplex gehören ebenso dazu, wie die Neigung, alles was aus dem Westen kommt, für überlegen zu halten.
Afrika solle – und könne – sich vom Vater (den Vätern?), die „uns misshandelt haben“ freimachen. Es brauche Träume (auch Visionen), um Zukunft zu entwerfen; dazu ist es wichtig, „die Hegemonie westlicher Denktraditionen“ zu beenden und sich auf afrikanische Traditionen zu besinnen. „Die Welt hält mehr Möglichkeiten bereit, als das Reelle, in dem wir agieren, ahnen lässt.“
Der Autor plädiert für eine Bestandsaufnahme, um die Ursachen der Probleme zu kennen, die Krankheiten einschätzen und Heilmittel finden zu können. Am Beispiel Ökonomie zeigt er, wie scheinbar neutrale Begriffe die Wahrnehmung und mit ihr auch die Wertsetzungen prägen. Er will nicht zurück zu irgendwelchen authentischen Ursprüngen, sondern sucht nach Wegen zu einer realisierbaren besseren Zukunft.

Sarr, ist hierzulande u.a. durch die Debatte um Restitution afrikanischer Kunst bekannt geworden und kürzlich beim afrikanischen Festival in Stuttgart aufgetreten, er kennt und zitiert afrikanische Künstler, Philosophen, Architekten und Wissenschaftler, von denen ich (und vermutlich viele andere Leser) nie gehört haben. Bei ihnen findet er Entwürfe, die einen Möglichkeitsraum eröffnen, „der erst noch geschaffen werden muss“. In Romanen und in der Musik, in Stadtplanung und Ökonomie stecken Bausteine für den „Afrotopos“. Schriftsteller in der Diaspora haben über „nomadische und zirkulierende Identitäten“ nachgedacht, er nennt sie „Setzlinge, die in fremden Böden Wurzeln geschlagen“ haben, auch sie könnten zu einer kulturellen Synthese beitragen. Synthese, Synkretismus, Hybridisierung sind in diesem Kontext nicht postmodern, sondern aus der Realität einer Kultur gewonnen, die über Jahrhunderte fremdbestimmt war (und noch ist), und sich trotzdem Bräuche, Sitten und eigene Wertvorstellungen bewahrt hat. Sie weisen in eine andere Richtung als von den Wirtschaften vorgegeben, „die gerade den Planeten zugrunde richten“.

Nicht schwarz oder weiß: die Afrikaner sollen wählen können, was sie übernehmen wollen und was nicht. Man müsse „sich die Ruhe gönnen, um zu sortieren, zu experimentieren, Blumen aus verschiedenen Gärten sammeln“. Dazu sei es nötig, mehr über die eigene Geschichte zu wissen, die über Jahrhunderte der Sklaverei hinausgeht. Für die Erkundung der Zukunft verwendet er den Begriff „Sankofa“, das hier übersetzt wird mit „sich von der Vergangenheit nähren, um besser voranzukommen.“ Seinen Optimismus begründet er damit, dass Afrikaner angesichts all der Leiden und Prüfungen bislang beträchtliche Resilienz und Ausdauer bewiesen haben.
Natürlich habe ich als weiße weibliche Europäerin Einwände. Seine Hoffnung auf das enorme Wachstum afrikanischer Bevölkerung halte ich bei allem Verständnis für seinen Afrozentismus, angesichts des Platzmangels auf unserem gemeinsamen Globus für bedrohlich; Gastfreundschaft, Würde und Solidarität sind schöne Traditionen, die Beschneidung von Frauen wird nicht erwähnt. Die Suche nach neuen Zukunftsmetaphern ist trotzdem spannend, auch für Bewohner anderer Kontinente.
Trotz großen Interesses an an diesen Thesen und Träumen habe ich mich nur mühsam durch die 170 Seiten durchgefressen. Das liegt an der Sprache. Manch schöner Gedanke ist grauslich formuliert (eventuell auch im Original). Vielleicht wurde der Übersetzer schlecht bezahlt oder gedrängelt, an mehreren Stellen hatte ich den Eindruck, es ist ein BOT drübergelaufen, und kein Lektor hat noch einen Blick darauf geworfen. Das ist schade.
Hazel Rosenstrauch
- Felwine Sarr: Afrotopia (2016). Aus dem Französischen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 176 Seiten, 20 Euro.

Ebenfalls bei Matthes & Seitz, zusammen mit Bénédicte Savoy: Zurückgegeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.
Mitte Juni erscheint ihr neues Buch „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro).