Geschrieben am 5. August 2019 von für Litmag, NATUR Special, News, Specials

Johannes Groschupf in Sibirien

Irkutsk, 1735 © Wiki Commons

Mückenschwärme auf Kamtschatka

Schiffbruch eines Romanprojekts: Eine Reise auf den Spuren des Naturforschers Georg Steller und der Großen Nordischen Expedition – von Johannes Groschupf

Überhaupt Mangel, Blöße,
Frost, Nässe, Ohnmacht, Krankheit,
Ungeduld und Verzweiflung waren die täglichen Gäste.

Ich weiß nicht mehr, wann genau ich aufgab. In welchem Moment mir klar wurde, dass ich diesen Roman nicht schreiben würde. Vielleicht auf Kamtschatka, in der Awatscha-Bucht von Petropawlowsk, wo zwei Schiffe vor 270 Jahren ausliefen, um die amerikanische Küste zu finden. Vielleicht aber schon auf dem Weg von Moskau nach Irkutsk, in den endlosen Tagen in der Sibirischen Eisenbahn, während denen das Land draußen an mir vorbeizog. Wald und Steppe. „Die Steppe ist ein trockenes Meer“, schrieb Sergej Solowjew, und ich ahnte noch nichts von dem Schiffbruch, der mir bevorstand.

Unser Schiff schwimmt wie ein Stück totes Holz, niemand lenkt es, wir treiben hierhin und dorthin, wie Wind und Wellen wollen. Wir lassen uns treiben wie Blinde, die nicht wissen, wohin sie torkeln. Kurz, wir befinden uns im größten Elend. 

Aber ich war noch lange nicht am Pazifischen Ozean angelangt. In Sankt Petersburg hatte ich meine Reise begonnen und tagelang im Archiv des Naturkundemuseums die Manuskripte des Naturforschers Georg Stellers durchgesehen, teils auf Deutsch, teils auf Lateinisch. Steller hatte Sibirien und Kamtschatka erforscht, die Pflanzen und Tiere, auch die Lebensweise der Einheimischen erkundet. Unten in den Kammern des Petersburger Museums waren Kajaks der Itelmenen zu sehen, Harpunenspitzen, Fellkleider aus dem 18. Jahrhundert, wie auch das gewaltige Skelett einer Seekuh. Steller hatte das Tier als erster beschrieben, ehe es wenig später ausstarb. Die Archive der Akademie der Wissenschaften müssen heute noch voller Kisten mit Pflanzen und Knochen stehen, die Steller von der Expedition nach Sankt Petersburg schickte. Er kam ursprünglich aus Windsheim in Franken, hatte in Wittenberg und Halle Theologie, dann Medizin, Zoologie und Botanik studiert, nach der Prüfung in Berlin aber keine Anstellung gefunden. Als Steller hörte, dass in Russland eine große Expedition bevorstand, machte er sich auf nach Sankt Petersburg. 1738 reiste er dem großen Tross der Expedition als Adjunkt der Akademie nach, anfangs noch mit seiner Frau, die er kurz zuvor geheiratet hatte und die ihm schon in Moskau erklärte, dass sie keine Lust auf eine weitere Reise hatte, und ihn verließ. Steller aber zog weiter.

Stellers Seeotter, 1751

Er brauchte keine Perücke und keinen Puder; ein jeder Schuh und ein jeder Stiefel war ihm gerecht; er hatte bey allem diesem keinen Verdruß über die elende Lebensart; er war immer gutes Muths, und je unordentlicher alles bey ihm zugieng, desto frölicher war … Dabey bemerkten wir, daß ohngeachtet aller der Unordnung, die er in seiner Lebensart von sich blicken ließ, er doch in Anstellung seiner Wahrnehmungen überaus pünktlich und in allen seinen Unternehmungen unermüdet war. Es war ihm nicht schwer, einen ganzen Tag zu hungern und zu dursten, wann er etwas den Wisenschaften ersprießliches ins Werk richten konnte.

Ich hatte nun ebenfalls Moskau hinter mir gelassen und war nach Kasan gefahren, wo ich im Keller eines Restaurants einen riesigen Billardsaal vorfand, in dem an diesem Nachmittag nur zwei Jungs mit den weißen Kugeln herumballerten. Von Georg Steller fand ich keine Spur. Über Jekaterinburg passierte ich den Ural, die natürliche Grenze zwischen Europa und Asien.

Dörfer mit morastigen Wegen, Holzhütten. Städte mit sowjetischen Plattenbauten. Wieder Wald und Steppe, lichte Birkenwälder. Im Zug gab es Tee, wenn die Waggonschaffnerin gute Laune hatte. Ich lag in meiner Koje und las, stand nachts rauchend auf einem Bahnsteig im Nirgendwo, während der Zug wartete, und niemand wusste, worauf.

Wusste ich denn, wohin ich wollte? Was ich wollte? Einen Roman über einen Naturforscher schreiben – wozu? Ich hatte einige Berichte von Steller gelesen, er schrieb in der nüchternen und doch gespreizten Sprache der Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts. Er zeigte wenig von sich, und wenn, dann klang er rechthaberisch. 

In Tjumen kam ich in einem Hotel unter, das auch die Teilnehmer eines großen Box-Turniers beherbergte. Die jungen Männer saßen lachend in Unterhemd und Jogginghosen mit ihren Trainern beim Frühstück, tief über ihre Teller gebeugt, das Essen schmeckte ihnen. Ihre Freundinnen aßen Salatblätter und spielten mit dem Handy. Alle freuten sich auf den großen Kampfabend. Ich ging nicht hin, sondern suchte Georg Stellers Grab. Am nächsten Morgen war die Stimmung im Frühstückssaal gedrückt. Die Gesichter der Sportler sahen lädiert aus, die Augen, Nasen, Lippen zugeschwollen. Sie tranken Kaffee, kauten lustlos an den Broten, niemand sagte ein Wort.

In der TransSib waren jetzt viele asiatische Händler unterwegs, agile junge Burschen, die sich ständig Instantnudeln mit heißem Wasser aufbrühten und dann zur nächsten Zigarette schlürften. Großeltern mit ihren Enkeln. Ich konnte keine fünf Worte Russisch. Ein Mann gab mir ein Stück Zunge. Niemand reichte Wodka herum, niemand sang. Ich erreichte den Jenissei, den sibirischen Meridian, kam wenige Tage darauf nach Irkutsk, lief am Baikalsee entlang, lief in die Irre. War Steller hier gewesen? Was hatte er gesehen? Was hatte er erlebt? Mein Notizbuch war immer noch so gut wie leer und ich war müde. Aber das war nichts gegen die Müdigkeit der Männer, als sie mit dem Schiff unterwegs waren.

Die Krankheit beginnt mit bleierner Müdigkeit, weshalb sie auch Faulfieber genannt wird. Man will die ganze Zeit schlafen. Das Aufstehen fällt schwer. Die Glieder werden steif, Füße und Beine schwellen an und werden hart, so dass auch die kleinste Bewegung schmerzt. Die Gesichter der Männer sind nach wenigen Tagen gelb. Ihr Zahnfleisch nimmt die Farbe von Blei an und blutet beständig, die Zähne lockern sich. Der geringste Lärm oder Rufe von deck versetzen die Kranken in große Furcht. Sie liegen reglos in ihren Kojen und möchten lieber sterben als auf diese elende Weise
weiterleben.

Die Große Nordische Expedition von 1733 bis 1743 war eine der größten Expeditionen in der Geschichte. Sie sollte nicht nur das riesige Land Sibirien erschließen, sondern auch und vor allem erkunden, ob es einen Landweg gab zwischen Asien und Amerika oder nur eine Meeresenge. Der Däne Vitus Bering wurde als Kommandeur eingesetzt, Sven Waxell sein Stellvertreter. Ein riesiger Tross mit Tausenden von Leuten setzte sich in Bewegung: Seeleute, Offiziere, Soldaten, Gelehrte der Akademie, dienstverpflichtete Kosaken, Bauern, Einheimische, Verbannte. Von Anfang an war die Sache ein finanzielles Desaster. Bering hatte 10.000 Rubel für das gesamte Unternehmen veranschlagt, schon nach drei Jahren waren 300.000 Rubel verbraucht, und der Tross saß immer noch in Sibirien fest. Acht Jahre lang schleppten die Mannschaften unter unsäglichen Mühen Proviant und Gerätschaften durch das unwegsame Land nach Ochotsk, einer Hafenstadt an der Pazifikküste, eigentlich kaum mehr als ein Kosakenwinterlager. Von hier aus wollte man übersetzen auf die Halbinsel Kamtschatka. Man baute zwei Schiffe, die „St. Peter“ und die „St. Paul“, die 1741 endlich nach Kamtschatka übersetzen. Die Mannschaften überwinterten dort, Steller erforschte die Wildnis mit ihren Pflanzen und Tieren, wohnte gelegentlich bei den einheimischen Itelmenen, lernte von ihnen den Gebrauch der Kräuter und Pflanzen und die Vorteile, sich wie sie zu kleiden. Er galt als einer der ersten Ethnographen, die den Eingeborenen auf Augenhöhe begegneten, und er kritisierte scharf die brutale Unterwerfung dieser Stämme durch die Kosaken, die das russische Imperium vertraten. 

Alle Itelmenen sind klein von Statur, breit von Schultern, haben
hängende, vorstehende Bäuche, kurze Füße, schlechte und fast keine Waden, das Frauenzimmer hat ein rundes kleines fleischiges Gesäß,
die Haare auf dem Kopf sind sehr lang, stark, gleich und glänzen vor Schwärze, sie haben dicke Köpfe, meistenteils runde, platte, breite Gesichter, niedergedrückte Nasen, ihre Lippen sind schwülstig, der
Mund klein, die Zähne sind sehr dicht und fest und schneeweiß (…)
Außer der Wollust im Beischlaf, essen, trinken und ergötzen sie sich
mit allerlei wunderseltsamen Tänzen, unzähligen Liedern, die sie auf
keine unangenehme Weise singen.

Im Juni des darauffolgenden Jahres liefen die beiden Schiffe aus, um die amerikanische Küste zu finden. Die Amerikareise stand jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern. Nach wenigen Tagen verloren sich die beiden Fahrzeuge in einem Sturm aus den Augen und sollten einander nicht mehr begegnen. Sie hielten sich an eine falsche Seekarte und irrten im fremden Meer umher. Eher zufällig kamen sie an die amerikanische Küste. Die Männer der „St. Paul“ sichteten Land, ließen ein Boot zu Wasser, acht von ihnen ruderten hinüber. Sie kamen nicht zurück. Die anderen warteten zwei, drei Tage auf dem Schiff auf ihre Rückkehr und konnten sich die Sache nicht erklären. Schließlich rüsteten sie ein zweites Boot aus, und wieder fuhren acht Männer an die Küste, um nach ihren Kameraden zu suchen. Sie entzündeten ein Feuer am Strand und machten sich auf die Suche. Auch sie kehrten nicht zurück. Die restliche Besatzung wartete noch einige Tage, vergeblich, dann trat sie den Rückzug an.

Die Männer auf der „St. Peter“, auf der auch Vitus Bering und Georg Steller waren, sahen Mitte Juli die schneebedeckten Bergketten an der Südküste Alaskas. Den höchsten der Berge benannten sie St. Elias. Steller durfte nur für wenige Stunden am vorgelagerten Kayak Island an Land gehen, um Pflanzen zu sammeln, er fand auch eine Feuerstelle und sah Rauch von ferne. Zu einer Begegnung mit Einheimischen kam es aber nicht: Vitus Bering rief ihn zurück, er hatte es eilig, wollte zurück, ehe die Herbststürme einsetzen. Schon seine letzte Suche nach der amerikanischen Küste war im Herbstnebel gescheitert. Und auch diesmal wurde der Rückweg zur Katastrophe. 

Zwei bis drei Wochen lang sahen wir tags keine Sonne, nur einen
Kupferball hinter schweren Wolken, und nachts keine Sterne. Ein
Mann nach dem anderen wurde krank. Die Segel waren in den
Stürmen mittlerweile so zerschlissen, dass wir jeden Augenblick
fürchteten, sie könnten wegfliegen. Doch es gibt keine Leute mehr, 
die noch imstande sind, andere Segel aufzuziehen. Ich selbst kann
mich kaum an Deck bewegen, ohne mich festzuhalten. Wir wissen
nicht, was uns bevorsteht, und müssen jeden Augenblick auf den
letzten Stoß gefasst sein.

Anfang November wird das Schiff in einem heftigen Sturm an Land geschleudert. Sie wissen nicht, wo sie sind, hoffen noch darauf, dass es Kamtschatka ist. Die kranken Männer, die wochenlang unter Deck in der stickigen Enge, im üblen Gestank der Unterkünfte gelegen haben, sterben, als sie an die frische Luft kommen. Einige noch auf dem Schiff, andere, als man sie am Strand ablegt. Die Steinfüchse, die dort zu Hunderten leben, machen sich auch über die Kranken her.

Steller vermisst eine Seekuh

Steller und seine anderen hassten die Tiere, die ihnen sogar nachts, wenn sie ihre Notdurft verrichteten, nachliefen und nach den Hintern schnappten, bis aufs Blut.

Es schien sogar, daß, je mehr wir erschlugen und aus Rache vor der
übrigen Augen auf das grausamste marterten, halbgeschunden ohne
Augen, Ohren und Schwanz, halbgebraten usw. laufen ließen, desto boshafter und verwegener wurden die übrigen, so daß sie auch in
unsere Wohnungen eindrangen und alles, was sie nur erwischen
konnten, davonschleppten, zuweilen aber mit listigen und
possierlichen Affenpossen uns bei allem Elend zum Lachen bewegten.

Die Männer gruben sich notdürftige Unterstände am Strand. Kommandeur Vitus Bering war so krank, dass er sich nicht mehr bewegte, er ließ sich mehr und mehr vom rieselnden Sand der Erdhöhle begraben: „Je tiefer ich in der Erde liege, desto wärmer ist mir.“ Am 19. Dezember 1741 starb der alte Däne. Nach ihm wurde die Insel benannt.

Ohne Zweifel würde er am Leben geblieben sein,
wenn er Kamtschatka erreicht und nur der Wärme eines Zimmers
und frischer Speisen sich hätte bedienen können.
So aber kam er vor Hunger, Kälte, Durst, Ungemach und Gram um.

Unterdessen bin ich auf Kamtschatka angekommen und reite in einer Gruppe auf robusten Kleinpferden durch die Wildnis. Mittags öffnet sich der Wald zu einer flachen Auenlandschaft, Berge links und rechts, ziehen sich gestaffelt gegen den Horizont hin. Kamtschatka ist das Land der Vulkane und Geysire: Von den mehr als 160 Vulkanen sind noch knapp 30 aktiv, jährlich brechen etwa sechs Vulkane aus. Das Land ist dünn besiedelt und verliert Jahr für Jahr weitere Einwohner, die einzige Stadt, Petropwalowsk, ist ein trauriges sowjetisches Nest. Über fünfzig Jahre lang war die Halbinsel Sperrgebiet; erst seit 1990 dürfen auch Touristen die Insel bereisen. Die heutigen Bewohner sind nahezu ausschließlich Russen. Die einstigen Ureinwohner wurden von den Kosaken als Statthalter der Russen nach und nach ausgerottet. Nur in den Naturparks leben noch einige Nachkommen der Itelmenen und Korjaken. 

Der Pfad wird schmaler und hört schließlich auf, es geht durch dichtes Gestrüpp von Farnen und knorrig verwachsenen Erlen. Jedes dritte Pferd hat ein Glöckchen um den Hals, damit die Bären, die hier zahlreich leben, rechtzeitig verschwinden. Sie wollen mit Menschen gemeinhin nichts zu tun haben. Die Glöckchen vertreiben aber nicht die Stechmücken, die heimlichen Herrscher Kamtschatkas. Sie fallen in dichten Schwärmen über Pferd und Reiter her, setzen sich auf Schultern und Beine und stechen munter durch die Kleidung hindurch. Es sind Hunderte, Tausende. Ohne Mückennetz und Handschuhe wäre es unerträglich, auch im Nieselregen hängen sie noch an einem. Erst nachts, wenn es kalt wird, verschwinden sie für wenige Stunden. Am nächsten Morgen sind sie mit den ersten Sonnenstrahlen zurück, wie die Zweifel am meinem Roman, die ständig in meinem Kopf schwirren und an Menge und Penetranz unablässig zulegen. Nichts von dem, was ich in Sibirien oder Kamtschatka sehe, ist irgendwie vergleichbar mit dem, was Steller auf der großen Expedition erlebt haben mag. Nichts, was ich denke, wird er gedacht haben, ein Mann des 18. Jahrhunderts. Welche Sprache ich ihm auch geben mag, welche Gedanken, Gefühle, Überlegungen – alles wirkt künstlich, albern, unangemessen. Während ich panisch meine letzten Zigaretten zähle, sitzt Steller auf der Insel, von der er nicht weiß, ob er den Winter dort überleben oder jemals wieder von ihr wegkommen wird, aber er nimmt sich zusammen, erkundet die Insel und studiert in allen erdenklichen Einzelheiten die Seekühe.

Unter dem Fressen bewegen sie den Kopf und Hals wie ein Ochse,
und je nach Verlauf einiger Minuten erheben sie den Kopf aus dem
Wasser und schöpfen mit Räuspern oder Schnarchen frische Luft.
Zeichen eines bewundernswürdigen Verstandes konnte ich nicht an
ihnen wahrnehmen, aber wohl eine ungemeine Liebe gegeneinander,
die sich auch so weit erstreckt, daß, wenn eines von ihnen angehauen wurde, die anderen alle darauf bedacht waren, dasselbe zu retten. Wir bemerkten auch nicht ohne Verwunderung, daß ein Männlein zu
seinem am Strande liegenden toten Weiblein zwei Tage nacheinander
kam, als wenn es sich nach dessen Zustand erkundigen wollte.

Tatsächlich gelingt es Steller und den anderen Überlebenden im nächsten Frühling, aus den Resten ihres zerborstenen Schiffs ein neues zu bauen. Sie begeben sich – mit dem Fleisch der Seekühe als Proviant – wieder aufs Meer und erreichen glücklich Kamtschatka. Dort hatte man sie längst für tot gehalten und ihre Sachen untereinander aufgeteilt. Steller bleibt noch einige Jahre auf der Halbinsel, die Expedition wird 1743 für beendet erklärt, alle Teilnehmer nach Sankt Petersburg zurückgerufen. Widerwillig macht er sich 1746 auf den Weg durch Sibirien, wird noch von einer Anklage des Hochverrats ereilt, die er nur mühsam abwenden kann, und schließlich von einem Fieber, dem er im Durchgangsort Tjumen erliegt. Er ist 37 Jahre alt, als er stirbt. Man bestattet ihn an einem Hochufer des Flusses Tura, das bald fortgespült wird, womit auch Stellers Grab verschwindet.

Ich bin dort gewesen. Habe nichts von ihm gesehen. Mir gefiel der hohe sibirische Himmel. Als ich zurück in Berlin war, begann ich zu schreiben. Schrieb zehn Seiten. Verwarf sie wieder. Setzte neu an. Schrieb dreißig, siebzig Seiten. Die Sache gefiel mir nicht. Die Dialoge waren furchtbar, gestelzt, künstlich. Alles in die Tonne. Ein neuer Versuch, und noch einer. Ich betrachtete Pflanzen und Tierknochen, las wieder und wieder Stellers Schriften, schrieb mich in die Anfangsjahre von Sankt Petersburg hinein, verwarf die Seiten, schlich um das Manuskript herum, schob es auf, schaute es mir nach Wochen, nach Monaten von neuem an und fand es schlimmer, als ich befürchtet hatte. Dennoch vergingen vier oder fünf Jahre, ehe ich die Sache endgültig aufgab. Nie wieder Steller. Nie wieder Kamtschatka. Stattdessen schrieb ich eine Geschichte über Berliner Jugendliche – der Roman war nach drei Monaten fertig.

Johann Groschupf

Die kursiv gesetzten Einschübe sind Zitate von Georg Steller, Sven Waxell und Johann Georg Gmelin aus ihren Schriften zur Großen Nordischen Expedition:

  • Die Große Nordische Expedition von 1733 bis 1743. Aus Berichten der Forschungsreisenden Johann Georg Gmelin und Georg Wilhelm Steller. C. H. Beck. München 1990.
  • Sven Waxell, Die Brücke nach Amerika. Die Entdeckungsfahrt des Vitus Bering 1733 – 1743. Reisebericht seines Ersten Offiziers und Stellvertreters Sven Waxell. Ergänzt durch Berichte des mitreisenden Naturforschers Georg Steller, Walter Verlag, Freiburg 1968.
© Mike Auerbach

Johannes Groschupf, 1963 in Braunschweig geboren, wuchs in Lüneburg auf. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Publizistik an der Freien Universität in Berlin. Viele Jahre als freier Reisejournalist für Die Zeit, FAZ, FR u.a. unterwegs. 1994 Hubschrauberabsturz in der Sahara. 1998 entstand aus dieser Erfahrung das Radio-Feature Der Absturz, das im Jahr darauf den Robert Geisendörfer Preis erhielt. Danach literarische Arbeiten, vor allem im Jugendbuchbereich, und Artikel für Tagesspiegel und Die Welt. Zuletzt erschienen: Lost Places (2013), Der Zorn des Lammes (2014), Das Lächeln des Panthers (2015) Lost Girl und Lost Boy (2017). Aktuell macht er Eindruck mit dem Thriller Berlin PrepperCrimeMag-Besprechung von Ute Cohen hier, eine von Alf Mayer im strandgut hier (S. 24).

Tags : , , ,