Geschrieben am 5. August 2019 von für Allgemein, Litmag, NATUR Special, News, Specials

Gärten: Ein Versuch über das Wesen der Menschen

Alle Menschen sind Gärtner. Eigentlich. 

Alf Mayer nicht nur über ein Buch von Robert Harrison

Buchstäblich liegt dem Gärtner die Welt zu Füßen. Er muss ein Liebesverhältnis zur Erde entwickeln, muss sich die Geheimnisse und Gesetze der organischen Unterwelt aneignen, ein Bewusstsein für das entwickeln, worauf man mit Füßen tritt. Hauchdünn nur ist der belebte Teil der Erdkruste, die kostbare Krume, die der Mensch in der wohl wichtigsten Revolution, der neolithischen, zu bestellen begann – zur Nahrung wie zur Muße. 

Die Welt des Gärtners unterscheidet sich fundamental von der des Nichtgärtners. Bevor man ein richtiger Gärtner werden kann, meint der tschechische Dichter Karel Čapek in dem unterschätzten „Das Jahr des Gärtners“ (1929), „ist eine gewisse Reife, besser gesagt, ein gewisses väterliches Alter nötig“. Wenn man jung ist, „dann ist man wie Adam vor dem Sündenfall. Man kostet von den Früchten des Lebens, die einem nicht gehören und glaubt, eine Blume sei das, was man im Knopfloch trägt oder seiner Angebeteten schenkt.“ Für den Gärtner hingegen ist eine Blume das, „was überwintert, was geharkt und gedüngt, gegossen und umgepflanzt, beschnitten und gestutzt, angebunden und von Unkraut, Keimlingen, vertrockneten Blättern, Blattläusen und Mehltau befreit werden muss.“ Laut Čapek ist „der Gärtner ein Adam, der sich wieder mit dem Element verbunden hat, aus dem er gemacht ist“ – „bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du gekommen bist (Erstes Buch Mose 3,19)“.

Seele und Garten ist etwas Wesentliches gemeinsam, den Paradiesgarten kennen viele Kulturen. „Ach, ist das nicht ein Paradies?“, seufzt gar mancher Gartengast ganz irdisch. Gärten freilich, darauf macht Ludwig Fischer immer wieder aufmerksam, sind „geliehene Paradiese“.

© Staudengärtmerei Gaissmayer, Illertissen

Beruf der Sorge. Und des Denkens. 

Ohne Gärten wäre die Menschheitsgeschichte eine Wüste, eröffnet uns der amerikanische Kulturphilosoph Robert Harrsion an der Eingangspforte seines grossen Essays: „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“. Gärten sind ihm „der beste Beweis dafür, dass die Menschheit nicht ohne Grund auf der Erde ist“. Wenn es heißt, wir müssten unseren Garten bestellen, meint das, laut Robert Pogue Harrison, der bereits ein Buch über „Wälder“ wie auch über „Die Herrschaft des Todes“ vorgelegt hat, „wir müssen heilende und erlösende Kräfte ausfindig machen und es ihnen gestatten, in uns zu wachsen“. Wer durch Harrisons kulturphilosophische Parkanlage wandert, wird durch viele Arten von Gärten kommen – durch reale, mythische, historische und literarische. Gleich im ersten Streifzug, im ersten Kapitel, lässt er uns an dem „Beruf der Sorge“ teilhaben, der den Gärtner auszeichnet.
Auch die Dichtung ist der Gartenarbeit und der Gartenkunst verwandt, nicht nur die blaue Blume der Romantik oder die Parks und Gärten in Goethes „Wahlverwandtschaften“ zeugen davon. Im ältesten literarischen Werk, dem „Gilgamesch-Epos“, gibt es zwei phantastische Gärten, einer ist den Unsterblichen vorbehalten. Und Odysseus gelangt nach Kalypsos, einer Art Insel der Seligen, deren Weinstöcke, Veilchen, Vögel und Quellen er aber verschmäht. In Boccaccios „Dekameron“ (1350) ziehen sich junge Frauen und Männer aus dem von Seuchen verheerten Florenz in eine Villa im nahen Hügelland zurück, um Spaziergänge zu unternehmen, zu erzählen, zu feiern und zu tanzen – eine Flucht aus dem Alltag, keine Frage. 

Die Gartenmetaphorik trägt reichlich literarische Blüten, quer durch alle Literaturen. Der 1954 in der Türkei geborene Romanist Harrison hat eine Nase für sie, führt uns auch in islamische Teppichgärten und die des Zen. Sein Buch atmet die erfrischende Hemdsärmeligkeit amerikanischer Akademiker – er lehrte an der kalifornischen Stanford University englische und französische Literatur, er kann das Leichte und das Schwere und vermittelt uns die Gartenphilosophie Epikurs ebenso wie das Spirituelle der japanischen Gartensteine oder die Gartenkultur der mittelalterlichen Klöster. „Manche Gärten blicken nach innen, andere nach außen, einige öffnen sich der Welt, andere schließen sich von ihr ab,“ erklärt er. 

© Staudengärtmerei Gaissmayer, Illertissen

Das Sichtbare wird unsichtbar 

Aus den gesenkten Köpfen seiner Studenten, mit denen sie auf dem Campus seiner Universität stets einen Garten mit majestätischen Skulpturen aus Papua-Neuguinea durcheilen, entwickelt Harrison eine kleine Theorie des sich verändernden, sich sozusagen auf Monitorgrösse einstellenden Blicks, der immer mehr nur Ausschnitt und immer weniger die Fülle wahrnehmen kann. „Über die verlorene Kunst des Sehens“ heißt das Kapitel. Einen Garten in seiner wirklichen Präsenz zu sehen, das ist dem eiligen Schritt der heutigen Wahrnehmung kaum mehr möglich – wenn man nicht Gärtner ist. Und damit ein anderer Mensch.

Rilke in seinen „Duineser Elegien“, bemerkt Harrison, habe bereits vor beinahe einem Jahrhundert die Hypothese entwickelt, die Bestimmung der Erde sei es, unsichtbar zu werden, es habe ein Prozess der Verwandlung des Sichtbaren in das Unsichtbare eingesetzt. Auch „Der rasende Roland“ Ariosts vom Beginn des 16. Jahrhunderts wird Harrison zum „Sinnbild für die Zerstörungskräfte, die wir gegen die Erde entfesseln: Wenn wir sagen, die Raserei des modernen Zeitalters sei grundsätzlich ziellos, dann heißt das nicht, dass wir uns keine Ziele setzen. Im Gegenteil, es gibt jede Menge Ziele, wenn es um unsere endlose Aktivität geht, genau wie es jede Menge wünschenswerter Gegenstände gibt, wenn es um unsere Habgier geht. Das Setzen von Zielen ist eines der Verfahren, mit denen wir unsere Ziellosigkeit kaschieren. (…) Anders als ein Gärtner sind wir heutzutage nicht weit genug in die Zukunft versetzt, um geduldig und über lange Zeit hinweg einen Zweck zu verfolgen oder ein Ziel zu erreichen. Unser Handeln trägt keine Frucht, es verschlingt sie vielmehr.“

Harrison sieht die paradoxe Situation, dass die Menschheit, im Bestreben das Paradies von Eden neu zu schaffen den Garten selbst verwüstet – den Garten der Biosphäre und den Garten der menschlichen Kultur.

Menschliches Glück in seinem vollendeten Zustand haben sich unsere Vorfahren schon seit Jahrtausenden als eine Gartenexistenz vorgestellt. Die Lust am Leben stetig auszukosten, jeden Tag, „carpe diem!“, das Motto des Horaz, hat seinen Ursprung im Garten. 

Alf Mayer

  • Robert P. Harrison: Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen (Gardens: An Essay on the Human Condition, 2008). Übersetzung Martin Pfeiffer. Hanser Verlag, München 2010. 336 Seiten, 27,90 Euro.

PS. Zum Bauernhof meiner Eltern im Allgäu gehörte selbstverständlich ein Nutzgarten. Sein König war „dr Willi“, ein alter Liliputaner, der bei uns als eine Art Knecht und Kindermädchen auf dem Hof lebte und mit seinem wirklich sehr runzligen Gesicht unfreiwillig viele Besucher und besonders oft Kinder erschreckte, dabei aber herzensgut war – und mir vor allem viel über die Stoik des Underdogs lehrte. Seine 113 Zentimeter waren ein Maß, das ich unbedingt auch erreichen wollte. Er züchtete mehr als ein Dutzend Moos-Sorten an den Umrandungen der Beete, teils gingen Stücke davon in die Weihnachtskrippe ein und machten sie exotisch. Wenn er mit mir Wandern ging, manchmal ziemliche Strecken, kannte er jeden Gärtner und Förster in der weiten Umgebung, das war immer eine besondere Art der Einkehr – worüber die Alten da fachsimpelten, verstand ich nicht, wohl aber, dass das etwas Besonderes war.

© Staudengärtmerei Gaissmayer, Illertissen

Und dann ist da aus meiner Jugendzeit noch Dieter Gaissmayer, dessen Staudengärtnerei oberhalb von Illertissen (zwischen Ulm und Memmingen im Unterallgäu) für mich einer der schönsten Orte ist, die ich kenne. Ludwig Fischer übrigens ist ein Freund des Hauses und berät. Mehr als 2.500 Pflanzen hat diese unglaubliche Biogärtnerei im Sortiment, gut verkaufen tun sich davon vielleicht 300. „Aber warum soll ich die anderen aussterben lassen?“, sagte mir „dr Dieter“ einmal. Ich hüte einen Katalog alter Staudensorten von ihm, in dem jeder der Texte ein Mindestalter von hundert Jahren hat. Fahren Sie mal dort vorbei, es lohnt sich. Zum Beispiel am 14. September bei der 22. Illertisser Gartenlust: »Die Liebe zur Natur« – Großer Gartenmarkt & Aktionstag, Markttage für Freunde der Gartenkultur.

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