Geschrieben am 1. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Gerhard Beckmann: „Der Stotterer“ von Charles Lewinski

Ein böses Lustspiel von Leben, Dichtung und Wahrheit 

„Der Stotterer“ von Charles Lewinski ist eine Gaunerkomödie – ein in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart einzigartiges Meisterwerk komischer Erzählkunst. Es handelt von einem Ganoven, der sich „sein“ Publikum verschafft, indem er die reuige Offenlegung seiner kriminellen Laufbahn verspricht – um es damit in seine Zwecke einzubinden. Dieser Roman wird für die Leser zu einer unerschöpflichen Fundgrube des Lachens mit Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. 

Wie immer, wenn es in der Literatur echt komisch zu werden beginnt,  ist die Lage ernst, aber nicht völlig hoffnungslos. Johannes Hosea Stärckle ist im Knast. Er hatte sich bei einer einsamen reichen alten Witwe – mit sehnsüchtig liebevollen Briefen aus der Ferne –  als bedürftiger verlorener (Enkel-) Sohn und Erbe einzuspielen gesucht,  war von der Seniorin unter Mithilfe gewitzter Ermittler ausgefuchst und von einem Richter mit klaren Vorstellungen von Recht und Sitte zu der höchst möglichen Strafe von sieben Jahren Haft verurteilt worden – „um ein Exempel zu statuieren“.  

Diesem Johannes Hosea Stärckle kommt im Knast nun der „Padre“ zu Hilfe – ein Geistlicher, der an „das Buch“ und an die Kraft und Kultur des Lesens zur Besserung gefallener Menschen glaubt. Mit dem Ziel vor Augen hatte er die Öffentlichkeit aufgerufen, durch Bücherspenden die  Einrichtung einer entsprechenden  Gefängnisbücherei zu ermöglichen. Die Stelle des Bibliothekars vergibt der Padre an den belesenen, literarisch talentierten Johannes Hosea Stärckle: gegen die Zusage eines umfassenden schriftlichen Eingeständnisses seiner Verfehlungen mitsamt ihren Hintergründen als    erstem Schritt zu einem neuen Leben. 

Stärckles „Bekenntnisse“ in seinen Expostulaten an den Seelsorger fallen geradezu musterhaft aus. Sie rühren ans Herz. Sie sind überzeugend. Die Verhältnisse, unter denen er sich zur Umkehr von seinem alten Lebenswandel bewegen soll, sind freilich gar nicht so, wie sie eigentlich sein müssten. Die Bibliothek – keineswegs ein Sortiment sorgsam ausgesuchter Werke zur Charakter- und Weiterbildung oder schönen Unterhaltung der Häftlinge – ist ein wahloses Durcheinander aus allem, was mit den Spendenpaketen eben so hereinkommt. Und die sonst übliche Prüfung ihres Inhalts durch die Posteingangsstelle der JVA entfällt, weil sie ja an den Anstaltspfarrer persönlich adressiert sind. Der großmütige „Padre“ aber, der zur Kontrolle solcher Einsendungen verpflichtet wäre, nimmt seine Pflicht nicht wahr. Er leitet  sie, unbesehen, direkt an den Bibliothekar weiter. 

Es ist kommt zu einer folgenschweren Verkettung dieser Umstände. Unter dem Deckmantel der Bücherlieferungen hat nämlich eine Gruppe inhaftierter Schwerverbrecher ein perfektes Schmuggelsystem aufgezogen.   Und der Bibliothekar befindet sich bald im Zentrum finsterer Vorgänge. Er kommt dahinter, dass zu den Dingen, die in „ausgehöhlten Büchern“ eingeschleust werden, auch Drogen gehören. Schlimmer noch: Ein Mithäftling, der zur Gang gehört – der „Advokat“ – droht ihm nun mit Konsequenzen, falls er den unter seinem Vorgänger etablierten Schmuggelweg stören oder gar verraten würde. So macht sich also der Bibliothekar der Beihilfe zum Drogenhandel schuldig und wird Rädchen im Räderwerk des organisierten Verbrechens. Johannes Hosea Stärckle, der dem Padre gegenüber Transparenz über die kriminelle Vergangenheit und die moralische Wende versprochen hat, steht nun mit seinen Schreibkünsten zugleich dem brutalen, infamen, mörderischen Drogen-Boss zu Diensten.  

Hat er denn eine andere Wahl? Er tut es doch aus Not. (So wie er solchen Vertrauensbruch, aus Angst um sein Leben,  dem arglosen Padre selbstverständlich verheimlicht.) Er war ja schon immer arm dran. Einer, dem von Kindesbeinen an übel mitgespielt wurde. Von dem sektiererischen strengen Vater, der den Sohn missbrauchte und züchtigte. Vom heuchlerischen Sektenprediger, der ihn wie andere Sünder seiner Gemeinde gnadenlos terrorisierte. Er war „der Stotterer“, den alle verachteten und verlachten, weil er keinen Satz zu Ende bringen konnte, ohne über die eigene Zunge zu stolpern. Der schwächliche Schüler, der unter den Klassenkameraden bloß geduldet war, weil er sich für sie n unentbehrlich machte – mit dem einzigen Talent, über das er verfügte. Es bestand nicht nur darin, dass er eine  für sein Alter unglaubliche Beherrschung der deutschen Sprache auf dem Papier zeigte. Und die Fähigkeit, sich chamäleonartig der Mentalität, dem Niveau und dem emotionalen Befinden  anderer in Ausdruck und Stil anzugleichen. So mogelte er bei den Deutschaufsätzen die halbe Klasse durch die Schuljahre. So lockte er, mit fingierten Briefen, den Machtprotz, der ihn Tag für Tag brutal demütigte, in eine Falle, die ihn sexuell öffentlich bloßstellte und zur Lachnummer machte.   

Und was hatte er denn auf der Suche nach einem Brötchenjob an Alternativen, als er nach dem Abitur unter den Verwünschungen des Vaters mit leeren Taschen aus dem Elternhaus floh? Um die Miete zahlen zu können, hätte er selbst für einen mies bezahlten Job bei Call Centern oder als Bierschlepper wenigstens einen Satz zu Ende bringen müssen, ohne bei jeder zweiten Silbe einen ins Stottern zu kommen. Und wie hätte er seinen Job bei einer der ersten Dating-Websites denn halten sollen, damals, als weibliche Singles für so etwas noch Mangelware waren? Blieb ihm denn anderes übrig,  als immer wieder von neuem sich selbst als ein weibliches Individuum für das Hin und Her der Text-Botschaften zu erfinden und zu präsentieren, um individuelle Partnerinnen-Träume männlicher Kunden zu erfüllen? 

Was Johannes Hosea Stärckle da dem Padre in seinen brieflichen Erzählungen schildert, wirkt wie die  Umsetzung literarischer Hochkomik in die Gegenwart digitaler Fake-News – wie die Transplantation einer Gesellschafts- und Vagabundenkomödie aus der Belle Epoque in die Welt der Websites und Social Media. Und in seinen Tagebuchnotizen offenbart Stärckle dann einmal tatsächlich, dass er Thomas Manns {Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull} als seine Bibel empfindet, dass der Confidence-Trickster Felix Krull sein Leitstern ist. Da wird es schon urkomisch. Es wird irre komisch, , wenn er sich zur Rechtfertigung von geradezu infamen Akten – sie reichen bis zur heimtückischen Erdrosselung einer alleinstehenden alten Dame und zur aktiven Mithilfe bei Morden – zum Schüler Casanovas  erklärt: Er gibt vor, sich unentwegt neu zu erfinden, um die Wunsch- und Glücksträume anderer zu erfüllen. Und zuguterletzt wird alles zu einer unendlich komisch grotesken Geschichte.

Johannes Hosea Stärcke sieht sich ganz auf der Linie der großen literarischen „Schelme“, die – wie Lazarillo di Tormes und der Simplizissimus –  aus leidenschaftlicher Wahrheitsliebe mit scharfem Blick Mißstände ihrer Zeit auf den kritischen Punkt bringen. Für die Schriftstellerei aber entscheidet er sich – was für ein Treppenwitz des Erzählens, welch abgrundtiefe Ironie – , weil sie „auch eine Art Hochstapelei ist, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar. Der einzige Beruf, in dem man gelobt wird, wenn man gut gelogen hat.“

Und was ist  nun mit seinen „Bekenntnissen“? Sie sind – erfolgreich – ganz mit Blick auf die Wirkung hin verfasst, die er beim Gefängnisgeistlichen erreichen wollte – der Padre, von seinen literarischen Talenten und moralischen Vorsätzen überzeugt, bahnt ihm den Weg zu einem Verleger.

Für das geplante Buch peilt er nun eine völlig andere Leserschaft an. Hier sind die Vorstellungen und Lesebedürfnisse angegangen werden, die ein breites Publikum mit der authentischen Wahrheit eines reumütig gewordenen Kriminellen verbindet. Da müssen die ersten „Bekenntnisse“ entsorgt werden  – um einem eventuellen Medienskandal vorzubeugen, der die Glaubwürdigkeit und den Marketing- Erfolg des anstehenden Buches gefährden könnte. Es folgt eine neue wahrhaft groteske Wendung: Johannes Hosea Stärckle sucht den Geistlichen zu verpflichten, seine „getürkten“ Bekenntnisse unters  Beichtgeheimnis zu stellen und verschwinden zu lassen. 

Charles Lewinski zählt zu den bedeutendsten literarischen Autoren unserer Zeit aus der Schweiz. Sein Roman „Der Stotterer“ ist eine originäre Neuverwirklichung des wunderbaren Begriffs von Komik, mit denen der große Friedrich Dürrenmatt  Generationen von Theaterbesuchern und Lesern die Welt kritisch erschlossen hat. Dieser Roman ist auch deshalb ein ganz besonderes Geschenk ans Publikum, weil er ein Bewusstsein für das Vergnügen und die Bedeutung von großer Literatur in einer „Kultur“ mit  allzu vielen marktgerecht „authentischen“, „echten“, „wahren“ Geschichten und „Fake News“. Er  könnte, wie die Werke Friedrich Dürrenmatts, zu einem Klassiker werden.

Gerhard Beckmann                                                                                                                        

  • Charles Lewinski: Der Stotterer. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 410 Seiten, 24 Euro.

Gerhard Beckmann, den wir ab jetzt als regelmäßigen Mitarbeiter von CrimeMag begrüßen dürfen, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor.

Die Originalfassung finden Sie hier: https://www.buchmarkt.de/beckmanns-grosse-buecher/grosse-buecher-die-buchhaendler-und-leser-bereichern/

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