Geschrieben am 8. März 2010 von für Litmag, Lyrik

Literaturzeitschrift randnummer

Wahrnehmungsstimuli

Literaturheft nennt sich diese neue Zeitschrift aus Hamburg, die tatsächlich das angenehme Format jener Hefte hat, in die wir unsere ersten Schriftkringel malten. Handlich ist sie, weder ein dünnes Nichts noch ein einschüchternder Ziegel, und besonders froh stimmt natürlich auch der völlig unelitäre Preis von vier Euro. Ein echtes Angebot nicht nur für Raucher, mal das Rauschmittel zu wechseln, meint Gisela Trahms.

Gleich hat man Lust, die auf dem Umschlag abgebildeten Türen zu öffnen und wird nicht enttäuscht: Vom Papier über die Drucktype bis zu den locker gestreuten Illustrationen ist das Heft eine Augenweide, unaufdringlich, aber ohne Betulichkeit.

Also ein Bilderbuch?

Aber nein. Lyrik von elf Autorinnen und Autoren, etablierten und Newcomern, ist hier versammelt. Das Vorwort verrät, dass das „lyrische Subjekt in der Metropole“ erkundet werden soll; die Art, wie sich das Individuum im Außen spiegelt und umgekehrt. Das ist eine thematische Klammer, die nicht klemmt, sondern eher das berühmte weite Feld öffnet und der Individualität mit dem ihr eigenen Ansatz, ihrem Welt- und Sprachzugang genügend Raum bietet. Und so nutzt auch jede/r Poet/in den ihren oder seinen, was einmal mehr die Unterschiedlichkeit und Spannweite des gegenwärtigen lyrischen Sprechens deutlich macht.

Dieses Sprechen kann man ganz wörtlich nehmen: Auf der ebenfalls sehr einladend gestalteten Website sind einige Gedichte auch zu hören – Herbert Hindringer etwa mit „gespenster“, einer sanft-melancholisch schwingenden Klangcollage. Wie ein Kontrastprogramm dazu wirkt Nicolai Kobus’ „container“, ein Fließtext, virtuos und hämmernd vorgelesen und doppelt so eindrucksvoll wie als Wortblock auf dem Papier.

Herbst minus zwei Türme

Jan Skudlarek antwortet auf jenen Gang durch die Stadt, der T. S. Eliots „The Love Song of J. Alfred Prufrock“ eröffnet, indem er nicht nur Zitate einstreut, sondern sie durch Wortaustausch verfremdet. In einem anderen Gedicht thematisiert Ron Winkler das nächtliche Gejaule der Rettungswagen, das jedem USA-Reisenden noch lang durch die Gehörgänge gellt und zu überwacher Schlaflosigkeit führt: „wenn wir nicht schlafen können, leuchten wir so / als wäre Dunkelheit Licht.“

Winklers Gedichte entstammen vielleicht seinem in Kürze erscheinenden neuen Band Frenetische Stille. Er spricht von Amerika, genauer gesagt, von New York, und zwar drastisch: „Kinder, denen man ansieht, / dass ihre Eltern oder übrig gebliebenen Elternteile / Francis Bacon verehren“ – eine grausige Vorstellung. Der lakonische Ton früherer Gedichte ist verschwunden. Aber immer noch geht es ihm weniger um die Stadt als um die medial vermittelten Stadt-Bilder, auf die wir unsere Eindrücke zu reduzieren gewohnt sind: „sag Herbst minus zwei Türme“.

Geradezu relaxed wirken dagegen die sechs Gedichte des Zyklus, in denen Andre Rudolph (aktuell mit seinem Debüt fluglärm über den palästen unsrer restinnerlichkeit auf der SWR-Bestenliste vertreten) ein lyrisches Ich als Motive kombinierenden Flaneur durch Berlin streifen lässt. Verliebt in eine Schöne namens Marie (wie Brecht, Biermann und allerlei französische Chansonniers vor ihm), gestattet es sich einige Hüpfer in den Metadiskurs („im gedicht ist es immer die absicht, / die killt, aber das / weißt du ja“) und ein bisschen zärtliche Selbstironie, die heiter stimmt.

Vielleicht sollte man sich also bei der Lektüre der randnummer nicht der durchs Alphabet bestimmten Autorenreihenfolge unterwerfen, sondern mit R aufhören statt mit W und das Bacon-Alptraumkind irgendwo unterwegs auf dem Trottoir stehen lassen, um am Arm von Marie aus Heft und Poesie zu schlendern. Auf jeden Fall aber wird man für den nächsten Gang durch die Straßen der eigenen Stadt eine Menge Wahrnehmungsstimuli mitnehmen.

Gisela Trahms

randnummer. literaturheft 01, hg. v. Philipp Günzel und Simone Kornappel, Hamburg. Mit Illustrationen von Simone Kornappel. 52 Seiten. 4,00 Euro.
Zu bestellen unter www.randnummer.org

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