Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Katja Bohnet zu Hannelore Cayre „Die Alte“

Vom Alter gefickt werden

Spätestens seit „Mein Herz so weiß“ von Javier Marias wissen die meisten, welches literarische Potenzial in der Figur eines Übersetzers steckt. Das Spiel mit Worten, Wahrheit und Lüge, die Möglichkeit, Sinn zu vermitteln oder zu verschleiern. Eine Kernkompetenz des Kriminalromans. Auch Hannelore Cayre hat diese Spielwiese für sich entdeckt. Ihre Protagonistin Patience Portefeux, dreiundfünfzig Jahre alt, übersetzt Arabisch für die Pariser Polizei. Ein Beruf, den sie gezwungenermaßen ausübt, seitdem ihr Mann an einem Aneurysma verstorben ist. Cayres Schilderungen sparen nicht an komödiantischer wie brutaler Realität: Der arme Mann fiel mit dem Kopf voran in seinen Salat, während seine Frau Patience ihm hilflos gegenüber saß. 

Und wie die Dinge so spielen in dieser Welt, bleibt die Witwe emotional gebeutelt, mittellos zurück. Mit siebenundzwanzig hat sie zwei Kinder am Rockschoß, kein Geld und kein Dach über dem Kopf. Nach einem Aufenthalt in der Klapsmühle kämpft sie sich für ihre Töchter ins Leben zurück. Kaum sind diese durchgefüttert, muss sie sich um die altersschwache Mutter kümmern. Ein Albtraum von einer Mutter, also eine ganz normale Frau. Eine Mischung aus Diva und Biest. Deren trauriges Lebensende zahlt ihr jede schöne Stunde mit Zins und Zinseszins zurück. Das Leben so vieler Frauen zieht mit Patience Portefeux’ Erfahrungen an der gewogenen Leserin vorbei. Ihre Verantwortungen und Pflichten, die Nicht-Möglichkeiten, die sie alle hatte. 

Die Leiden und Launen der Mutter in einem Altersheim schildert Cayre eindrücklich und direkt. Zu Altern ist kein Spaß, war es noch nie, auch wenn steigende Lebenserwartung und der Komfort moderner, westlicher Gesellschaften uns das glauben lassen wollen. Schlaganfall, Herzschlag. Schicksalsschläge. Das Alter fickt die Überlebenden ins Knie.

Alles Idioten

Die illustre Herkunft der Patience Portefeux würde schon allein für einen Roman reichen. Vater Tunesier, Mutter Jüdin. Er mit einem Hang dazu, unbequeme Geschäftspartner im Garten des Hauses an der Autobahn zu vergraben. Sie mit einem Faible für verschiedenfarbige Lippenstifte und das müßige Leben. Die synästhetisch veranlagte Tochter der beiden wird von einem Hausangestellten großgezogen, der wie ein Sklave für die Familie schuften muss. Cayre bezeichnet ihn mit den Worten von Malcom X als „Hausneger“. Die Wortwahl, kongenial übersetzt von Iris Konopik, ist drastisch und enthüllt gerade deshalb die Ideologien, die dahinter stecken. Rollenklischees existieren, werden aber im Nu gekippt. 

Worauf man sich verlassen kann: In Hannelore Cayres Roman kommt niemand gut weg. Weder Kinder, schon gar nicht die Männer, selten Frauen, noch Franzosen, Tunesier, Verwandte, Mütter, Töchter oder Freunde der Hauptfigur. Wobei die drei Lichtgestalten (alles ist relativ) in diesem Roman Frauen sind. Portefeux muss tagein tagaus Arabisch übersetzen. Das, was die Kriminellen sich eben so erzählen. Das Meiste davon ist herzlich dämlich, sehr zum Vergnügen der Lesenden. Natürlich werden die Telefonanschlüsse und Handys der hauptsächlich aus dem Maghreb stammenden Männer von der Polizei abgehört. So schreibt es die Autorin, die selbst als Strafverteidigerin arbeitete: In den Augen ihrer Hauptfigur sind alle Verbrecher Idioten. Diese Überzeugung teilt übrigens auch Mercedes Rosende — wie Cayre Anwältin  —, die in ihrem Roman „Krokodilstränen“ auch kein gutes Haar an männlichen Verbrechern lässt. Dafür bekommen diese Autorinnen im In- und Ausland Preise.

Die Witwe wittert einen Deal

Und so kommt es, wie es kommen muss. Das Altersheim kann kein normaler Mensch bezahlen. Schon gar nicht Patience Portefeux. Früher alleinerziehend, jetzt nur noch allein. Sie ekelt sich vor ihrer Mutter. Vor den Windeln, dem siechenden Körper, dem Verfall. Als eine große Lieferung des allerbesten Haschischs ins Land gebracht werden soll, erfährt sie es als Übersetzerin der kriminellen Kommunikation als Erste. Die Witwe wittert einen Deal. Fünf Monate lang belauscht sie Idee, Transport und Ankunft der Ware in Paris. Ihre Übersetzungen dienen in dieser Zeit zunehmend ihrem eigenen Plan. Der Sohn einer Pflegerin im Altersheim, die sich um Portefeuxs auf Jiddisch schimpfende und sabbernde Mutter kümmert, entpuppt sich als der Fahrer des Stoffs. In letzter Minute, bevor der Zugriff auf den Transport erfolgt, warnt Portefeux den Mann. Dieser versteckt das Dope an einem unbekannten Ort im Pariser Hinterland. 

Portefeux, die ein Verhältnis mit einem herzensguten, älteren Polizisten beginnt, beschafft sich über ihn einen ausrangierten Drogenhund als Haustier. Nichts bleibt mehr dem Zufall überlassen. Wie viele Misantropen, kann sie Tieren mehr als Menschen abgewinnen. Mit dem Hund begibt sie sich auf die Suche nach dem Stoff. Spätestens an dieser Stelle verwundert es nicht mehr, dass diese Geschichte in Frankreich verfilmt wurde. Aber eigentlich sucht Patience nur nach dem, was alle suchen: nach dem sorgenfreien Leben. Nach dem, was die Ehe mit ihrem früh verstorbenen Mann versprach. 

In dieser Suche nach dem Glück unterscheiden sich aufrechte Teutonen, Menschen aus Marokko, Dealer, Akademiker*innen, Sparkassenangestellte, Flüchtlinge, Männer oder Frauen nicht. 

„Neo-Orientalismus“

Zuerst muss Portefeux jedoch zweihundertfünfzig „marokkanische Koffer“ aus dem Hinterland in ihren Keller schleppen. Eins Komma Zwei Tonnen Harz. Soll keiner sagen, dass Drogenschmuggel und -verkauf einfach sei. Ein Transport, der sowohl die Witwe als auch ihren Hund mit dem typischen Geruch benebelt. Aber dann kommt der Übersetzerin all ihr Wissen zupass: Die Kilopreise, Geldübergabe in bar und nicht zu kleinen Scheinen. Die Transaktionen finden in der Brautmodenabteilung, in billigen Supermärkten, bei Tati und gern in der Nähe örtlicher Gefängnisse statt. Den Look ihrer Geschäftspartner, dreier Marokkaner, nennt Patience „Neo-Orientalismus pur“. Fettwänste mit „Badelatschen, T-Shirts und Luis Vuitton-Täschchen“. Sie selbst verkleidet sich im Hijab mit Leopardenmuster und Chanel-Brille, die „Uniform einer nordafrikanischen Immigrantin“. So funktioniert Cayres Humor: Die Lautstärke der Normalität wird einfach ein wenig aufgedreht. Wer witzigen Kriminalromanen nichts abgewinnen kann, wird hier überrascht. Warum? Nutzen viele „luschtige“ Krimis doch Klischees, um mit Gelächter der Realität zu entkommen, benutzt Cayre nur die Realität als Witz. Die Realität, die an ihren Rändern so viel bitterer ist als jedes Klischee. Ein entscheidender, aber wichtiger Unterschied, wie Komik entsteht. In diesem Stil und Jargon entwickeln sich Geld und Dope-Übergabe. Ein ständiges Feilschen und Ausstechen, wer den anderen kontrolliert. 

Hrsg. von TW, Unionsverlag, 2007

Komplexer als Humor

Diese Kritik muss Frankreich ertragen: Die chancenlose Französin klaut den chancenlosen Marokkanern das Geschäft. Wer diese Geschichte bösartig und satirisch nennt, könnte übersehen haben, wie nah an der Wirklichkeit sich diese Figuren doch bewegen. Wieviel Hannelore Cayre über das Ausgeliefertsein von Frauen erzählt, aber auch von ihrem Überlebenswillen, ihrer Leidensfähigkeit und Findigkeit. Und über die, die am Rande der französischen Gesellschaft leben: die Einwanderer aus Nordafrika. So ist „Die Alte“ ein urkomisches und doch sehr ernstes Buch, das die Geschichte von David und Goliath neu erzählt. Mit Abstand bester Moment: Wenn die marokkanische Familie, um dem Abhören der Polizei zu entgehen, über die PlayStation kommuniziert. Ein Roman wie ein gut geplantes Feuerwerk. Es folgt keine moralische Lehre aus der Geschichte. Zu allem gelungenen Überfluss gibt es sogar ein Happy End.

  • Hannelore Cayre: Die Alte (La daronne, 2017). Aus dem Französischen von Iris Konopik. Ariadne/Argument Verlag, Hamburg 2019. 203 Seiten, 18 Euro.

Katja Bohnets Ausflug als Hazel Frost („Last Shot“) liegt gerade in den Buchhandlungen und wird nicht nur bei uns gut besprochen. Zwei CrimeMag-Besuche bei ihr hier und hier. Katja Bohnets Texte bei CrimeMag hier.

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