
Sachbücher, kurz und bündig
Sekundärliteratur ist unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Sonja Hartl (SH), Bodo V. Hechelhammer (BoH) und Alf Mayer (AM) waren auf einem Streifzug im Revier unterwegs – und besprechen:
John Curran: The Hooded Gunman
Dreysse, Lieser, Matzak: Industriekultur in Frankfurt und Offenbach
Hauptaktion (Hg.): Texte zur Turnkunst
Hans-Joachim Noack: Die Weizsäckers
David Rousset: Das KZ-Universum
Mauricio Rosencof/ Eleuterio Fernández Huidobro: Kerkerjahre
Baron Russell of Liverpool: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen
Rebecca Solnit: Die Dinge beim Namen nennen

Kulturdokument
(AM) Der Emigrant Karl Anders erzählte mir oft davon, welch begeisterte Krimileser die Engländer sogar noch mitten im „London-Blitz“ im Zweiten Weltkrieg waren und wie gut man dort als Verleger auf treue Leser setzen konnte. Nach dem Vorbild seines Freundes Victor Gollancz – der mit einen „Crime Club“ seinen linken Verlag finanzierte – wollte Karl Anders auch den nach der Heimkehr gegründeten Nest-Verlag mit den „Krähen“-Büchern stabilisieren. Frohgemut setzte er Emigrantenkolleginnen und –kollegen, die zuvor Shakespeare übersetzt hatten, auf Raymond Chandler und Dashiell Hammett an. Die deutschen Nachkriegsbibliothekare und das Feuilleton freilich machten ihm einen Strich durch die Rechnung (siehe die Bestandsaufnahme von Thomas Wörtche in dieser Ausgabe und zu Anders und Gollancz hier). Solche Crime-Clubs wie in Großbritannien gab es in Deutschland nie.

Einer der größten, der Collins Crime Club, hat jetzt ein monumentales Denkmal im Folioformat erhalten. The Hooded Gunman versammelt eine unglaubliche Fülle von Covern und Archivmaterialien, ist ein Bilderbuch zum Schwelgen mit über 2100 Abbildungen. Autor John Curran ist ein lebenslanger Agatha Christie-Fan, die Autorin war das Rückgrat dieser Erfolgsgeschichte, fast alle ihre Werke erschienen bei William Collins & Sons in London, aber nicht nur die ihren. Das Logo des Revolvermanns mit Maske zierte zwischen 1930 und 1994 insgesamt 2025 Titel von 263 Autoren. M.G. Eberhart gehörte dazu, Anthony Gilbert, Rex Stout, Andrew Garve, Jonathan Gash, Reginald Hill, Charlotte MacLeod, Ross MacDonald, Nicholas Blake, Ngaio Marsh, Elizabeth Ferrars. Walter Satterthwaits „The Death Card“ war – passenderweise – 1994 der letzte veröffentlichte Titel. Nachdem Rupert Murchochs News Corporation den Verlag 1989 gekauft hatte, war es mit dem insgesamt fast 65 Jahre bestehenden Buchclub schnell bergab gegangen.

1929 in London gegründet – ohne Mitgliedsgebühren, es brauchte nur eine Briefmarke für die Anmeldung – hatte der Collins Crime Club schnell 25.000 Mitglieder, im Lauf der Jahrzehnte sind es Millionen gewesen. Es war sozusagen der Bertelsmann Buchclub für Kriminalliteratur. Am ersten Montag jeden Monats erschienen drei von Experten ausgesuchte Bücher, eines als „Selection“ und zwei „Recommended“, viele dieser Ausgaben sind heute teuer gesuchte Schätze. Das üppige coffee table book versammelt alle Cover und viel zusätzliches Material, dazu gibt es alle Klappentexte, wirklich über 2000 – auf alleine 160 Druckseiten. Dazu Register, alphabetisch und chronologisch geordnet, Statistiken und viel Hintergrund. Ein Buch zum Schwelgen – und die Dokumentation einer Kultur.
- John Curran: The Hooded Gunman: An Illustrated History of Collins Crime Club. HarperCollins, London 2019. Hardcover, Format 23,2 x 28,8 cm. 400 Seiten, über 2100 Illustrationen, GBP 40.


Macht Laune, gibt Kraft
(SH) „Indem wir Dinge bei ihrem wahren Namen nennen, durchbrechen wir die Lügen, mit denen Untätigkeit, Gleichgültigkeit oder Weltfremdheit entschuldigt, abgeschwächt, vertuscht, verdeckt oder umgegangen werden oder der sie befördern“, schreibt Rebecca Solnit im Vorwort ihres Essaybandes Die Dinge beim Namen nennen. Tatsächlich reflektiert sie in den 20 Essays aus den Jahren 2006 bis 2018 immer wieder Namen, Bezeichnungen und Narrative, die zu den Themen gehören – und plädiert dafür, die ‚Geschichte zu brechen‘ – to break the story. Und zwar nicht im Sinne, als erstes über etwas zu schreiben oder zu sprechen, sondern tatsächlich die verbreiteten Erzählweisen zu hinterfragen. Dabei räumt sie auch gleich mit Vorurteil auf, es gebe objektiven Journalismus, indem sie Ben Bagdikian zitiert, den Journalisten, dem Daniel Ellsberg damals die Pentagon-Papers anvertraute: „Objektiv können Sie nicht sein, fair aber schon“, hat er damals seinen Studierenden erklärt. Solnit ergänzt: „Objektivität ist die Fiktion eines neutralen Beobachterstandpunkts – als gäbe es ein solches politisches Niemandsland, in dem man sich zusammen mit den Mainstream-Medien ganz entspannt aufhalten kann. (…) Wir neigen dazu, Menschen am politischen Rand als Ideologien zu behandeln und die in der politischen Mitte neutral zu finden – als ob die Entscheidung, kein Auto zu haben, eine politische wäre, die, eines zu besitzen, aber nicht: (…) Das Apolitische gibt es nicht, es gibt keine Unbeteiligtheit und keinen neutralen Boden; wir alle sind aktiv verstrickt.“
Aktivismus ist eines ihrer wiederkehrenden Themen: für Klimaschutz, gegen Donald Trump, gegen Rassismus und Sexismus. Pointiert und überzeugend arbeitet sie die Verbindungen des politischen Aktivismus von den Suffragetten in England über Gandhi, Luther King und die Anti-Atomkraftbewegung bis zu #BlackLivesMatter heraus. Ihre Haltung ist klar, auch sie ist zornig über die Gegenwart in den USA, zugleich aber auch voller Hoffnung. Denn die Menschen in den USA haben sich angesichts der politischen Lage nicht ins Private zurückgezogen, sie haben nicht gesagt, dass sie „Konsument*innen und keine Bürger*innen“ sind, sondern sie protestieren. „Ich bin nicht überzeugt, dass wir gewinnen werden, aber ich bin froh, dass wir wenigstens kämpfen“. Und sie ist noch überzeugt, dass die Menschen das Ruder herumreißen können, dass sie die Welt verändern können.
Diese Hoffnung ist bei Rebecca Solnit bei allem Zorn präsent, es ist keine naive, blinde Hoffnung, vielmehr die durch die Geschichte genährte Überzeugung, dass man manchmal zwar nicht unmittelbar sieht, was verändert wurde, langfristig aber der Keim für Veränderung gelegt wurde. Es passiert mir selten, dass ich nach der Lektüre von Essays über die Gegenwart tatsächlich gut gelaunt und voller Kraft bin. Rebecca Solnit aber ist das gelungen.
- Rebecca Solnit: Die Dinge beim Namen nennen (Call Them by Their True Names: American Crises (and Essays), 2018). Übersetzt von Bettina Münch und Kirsten Riesselmann. Hoffman und Campe, Hamburg 2019. 320 Seiten, 22 Euro.

Kein Gramm Staub angesetzt
(AM) „Normale Menschen wissen nicht, dass alles möglich ist. Selbst wenn die Berichte der Zeugen ihren Verstand zwingen, es anzuerkennen, ihr Körper glaubt es nicht. Die KZ-Menschen wissen es“, schreibt David Rousset im letzten, im 18. Kapitel seines Buchs Das KZ-Universum, das bereits ein Jahr nach Kriegsende 1946 in Paris erschien, im selben Jahr wie Kogons „Der SS-Staat“ und ein Jahr vor Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ Der englische Titel von 1947 lautete „The Other Kingdom“. Nun endlich liegt es in einer deutschen Übersetzung vor. Dass es so lange gebraucht hat, mag viele Gründe haben, einer davon, dass der linke Aktivist Rousset (1912 – 1997) immer schon zwischen vielen Stühlen saß.
Sein im August 1945 geschriebenes Buch umfasst knapp 100 Seiten Text, dazu kommen Anmerkungen und ein ausführliches Nachwort sowie eine umfangreiche Literaturauswahl, insgesamt ist es ein sehr wertiges und auch würdiges Hardcover. Der kompakte, blendend geschriebene Text hat es in sich, hat kein Gramm Staub angesetzt. Man möchte ihn zur Pflichtlektüre aller Nachgeborenen machen. Der Buchwald-Häftling Rousset differenziert, entschlüsselt, beschreibt Widersprüche, hat ein Auge für das Groteske und das Bürokratische der Lager, in denen es nach Primo Levi „kein Warum gibt“. Er prägt den Begriff „KZ-Mensch“ oder „Concentrationnaire“. Er porträtiert, er nimmt Anleihen bei der Literatur: „Ubu und Kafka lösen sich aus ihrer Geschichte und werden zu realen Elementen der Welt.“ Von Alfred Jarry entlehnt er das Motto: „Von Kälte, Hunger und Leere umgeben, werden Sie sehr weit sehen. Für uns ist es jetzt Zeit zu ruhen. Unser Kerkermeister wird Sie hinausbegleiten.“Am besten spricht das Buch für sich selbst, hier eine Passage von der Seite 10:
„Männer aller Nationen, Männer aller Überzeugungen, denen Wind und Schnee in den Nacken klatschten und die Eingeweide gefrieren ließen, im Takt einer gellenden Marschmusik, die wie heiseres, höhnisches Fluchen klang, unter den blinden Scheinwerfern auf dem Appellplatz, in den eisigen Nächten von Buchenwald; Männer ohne jede Überzeugung, hart und ausgemergelt; Männer, deren Glauben zerstört, deren Würde vernichtet war; ein ganzes Volk von nackten, innerlich nackten, jeder Kultur und Zivilisation entblößten Menschen, mit Spitz- und Kreuzhacken, Hämmern und Schaufeln bewaffnet, an rostige Loren gekettet, zum Salzbohren, Schneeräumen, Betonmischen verdammt; ein von Schlägen gepeinigtes, von einem Paradies vergessener Speisen delirierendes Volk, die innere Spur der Zerrüttung – all diese Menschen in all dieser Zeit.
Bizarre Figuren mit phantastisch vergrößerten Schatten, aus klaffendem Schlund dringt verrenktes Gelächter: grotesker, sturer Überlebensdrang.“
- David Rousset: Das KZ-Universum (L’Universe Concentrationnaire, 1946). Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler und Erläuterungen von Nicolas Bertrand. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 144 Seiten, Hardcover, 22 Euro.

Eine exemplarische Familie
(BoH) Der 1940 in Berlin geborene Hans-Joachim Noack ist Journalist und einer der bekanntesten Autoren politischer Biografien. Nach seiner journalistischen Tätigkeit schrieb er in den letzten Jahren die Biografien ehemaliger Bundeskanzler: Helmut Schmidt (2008), Helmut Kohl (2010) und Willy Brandt (2013).
In seinem neusten Buch widmet sich Noack diesmal nicht allein einer politisch bedeutsamen Persönlichkeit, sondern gleich einer ganzen Familie. Er erzählt die Geschichte der von Weizsäckers und begründet dies damit, dass kaum eine andere Familie die deutsche Geschichte in den letzten hundert Jahren so geprägt habe. Denkt man über einzelne Protagonisten nach, dann fallen einem hierbei doch sehr unterschiedlich wirkende Persönlichkeiten ein. Etwa Ernst von Weizsäcker, der einst Staatssekretär im Auswärtigen Amt war und als SS-Brigadeführer in Nürnberg wegen seiner Beteiligung an der Deportation von Juden als Kriegsverbrecher verurteilt wurde. Oder dessen Sohn Carl Friedrich von Weizsäcker, der als Physiker an der deutschen Atombombe zunächst mitgeforscht und später als Philosoph die Friedensforschung geprägt hat. Und besonders dessen weiterer Sohn Richard von Weizsäcker, der als Bundespräsident von 1984 bis 1994 amtierte, zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung.
Gleichermaßen können, so die Intention Noacks, sowohl die herausragenden Leistungen wie auch die Abgründe einzelner Familienmitglieder exemplarisch für das politische Handeln deutscher Eliten im Mahlstrom der Geschichte stehen. Dies kann man durchaus bei der Bandbreite dieser besonderen Familiengeschichte und angesichts der herausragenden Persönlichkeiten so stehen lassen. Persönlichkeiten, die aus den unterschiedlichsten Motiven aber immer nach gesellschaftlichem und politischem Einfluss strebten und dabei eben auch erfolgreich waren. Denn in den unterschiedlichsten politischen Systemen Deutschlands, ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik, bekleideten von Weizsäckers hohe Ämter. Die 66 Kinder, Enkelkinder und Urenkel von Ernst von Weizsäcker haben in ihren verschiedenen Berufen jeweils Spitzenpositionen erreicht. Manchmal drängt sich dabei fast schon der (ein wenig hinkende) Vergleich der deutschen Kennedys auf. Aber eben nur fast.
Hans-Joachim Noack hat für sein neustes Buch langjährig recherchiert, teilweise unbekannte Dokumente gesichtet und zahlreiche Gespräche geführt, um in 16 Kapiteln chronologisch den Aufstieg des einstigen Müllergeschlechts im 17. Jahrhundert bis an die Staatsspitze der Bundesrepublik Deutschland zu beschreiben. Herausgekommen ist eine spannende Zeitreise über mehr als 350 Jahre Familiengeschichte und deutscher Geschichte, die anhand der einzelnen facettenreichen Persönlichkeiten und deren politischer Verflechtungen nacherzählt wird. Noack ist ein unterhaltsam geschriebenes, spannendes und informatives Buch gelungen. Ein Buch, was jedoch zugleich tragische Aktualität erfahren hat, angesichts der grausamen Ermordung des Mediziners Fritz von Weizsäckers im November 2019 in Berlin, dem Sohn von Richard von Weizsäcker. Geht doch die den Mord untersuchende Staatsanwaltschaft von einer »wahnbedingten allgemeinen Abneigung« gegen die Familie von Weizsäcker aus.
- Hans-Joachim Noack: Die Weizsäckers. Eine deutsche Familie. Siedler Verlag, München 2019. 430 Seiten, 28 Euro.

Der Realpolitik im Wege
(AM) Das Umschlagbild stammt aus dem Ullstein-Bildarchiv, zeigt eine Deportation im Warschauer Ghetto und erlangte 1979 im Zusammenhang mit der damals heftig diskutierten US-TV-Serie „Holocaust“ erstmals eine breitere Öffentlichkeit. Das Foto des weinenden Jungen in kurzen Hosen, der vor bewaffneten Wehrmachtssoldaten die Hände hochnimmt, bekam damals ikonografische Wucht.
Anschaulichkeit ist gerade bei der Aufarbeitung von so etwas Unvorstellbarem wie dem Holocaust unverzichtbar. Baron Russell of Liverpool gelang sie. Sein Buch Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen, wurde 1954/55 in England ein Bestseller und fand auch im geteilten Deutschland Öffentlichkeit. Weithin sachlich gehalten, der Autor hatte Zugang zu Verhörprotokolle und Zeugenberichten, geht es um eine Bestandsaufnahme des Nazi-Staats, seiner Instrumente und Taten – sozusagen das britische Pendant von Kogons „Der SS-Staat“. In sechs Kapiteln werden Zwangsarbeit, Konzentrationslager und die ‚Endlösung’, Misshandlung und Ermordung der Zivilbevölkerung im besetzten gebiet, Kriegsverbrechen auf Hoher See und die Misshandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen durchleuchtet und analysiert. Das Buch entstand während der Tätigkeit Baron Russells als assistant judge advocate general und Rechtsberater bei den Kriegsverbrechertribunalen in der britischen Besatzungszone.
Der damalige Lordkanzler – bis 2006 von Amtes wegen der Sprecher und Vorsitzende des britischen Oberhauses, heute in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen – forderte ihn auf, das Buch zurückzuziehen. Baron Russell legte stattdessen seine Ämter nieder, verweigerte den Gehorsam. Sein sehr kontrovers diskutiertes Buch kam auf 16 Ausgaben, wurde in mehrere Sprachen übersetzt, erschien auch in West- und Ostdeutschland sowie in Braille. Kern der damaligen Auseinandersetzung war die Realpolitik. Es wurde befürchtet, dass das Buch einem Antigermanismus Vorschub leisten könnte, der die internationale politische Wiedereingliederung Westdeutschlands und den Aufbau deutscher Streitkräfte innerhalb der NATO, kurz Deutschland als Bastion des Westens, behindern könnte.
Heute ist das Hintergrund. Das Buch selbst hat immer noch seine Kraft. 1958 legte der Autor mit The Knights of Bushido: A Short History of Japanese War Crimes ein weiteres bedeutendes Buch vor.
- Baron Russell of Liverpool: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen (The Scourge of the Swastika: A Short History of Nazi War Crimes, 1954). Deutsche Fassung von Roswitha Czollek, überarbeitet von Emil Fadel. Westend Verlag, Frankfurt 2020. Hardcover, 298 Seiten, 24 Euro.

Die Würde bewahrt
(AM) „Die Toten haben keine Losung. Sie sind die Losung“, heißt es in der Widmung dieses kämpferischen und zutiefst humanen Buches. Der Dialog der beiden Autoren Mauricio Rosencof und Eleuterio Fernández Huidobro über ihre Kerkerjahre. Als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur ist ein herausragendes Dokument der Gefängnisliteratur. Es ist eine Chronik, die von Menschen berichtet, denen es gelungen ist, noch unter den inhumansten Bedingungen die menschliche Würde zu verteidigen.
Bis zu seiner Verhaftung im März 1972 gehörte Mauricio Rosencof zu den Führungskadern der Tupamaros, die vollständige Bezeichnung dieser Stadtguerillas lautete Movimiento de Liberación Nacional. Mit Gespür für Medienwirksamkeit versorgte er klandestin den Regisseur Constantin Costa-Gavras mit jenen Informationen, auf denen dann das Drehbuch des Aufsehen erregenden Films „Der unsichtbare Aufstand“ beruht. Als die Militärs putschten wurden die Tupamaros militärisch zerschlagen, Uruguay wurde der Staat mit der prozentual höchsten Zahl politischer Gefangener weltweit. Um jeden Widerstand zu ersticken, entführten die Militärs neun führende Mitglieder Tupamaros aus den Gefängnissen und drohten für den Fall weiterer Aktionen mit ihrer Erschießung. Als Geiseln der Diktatur wurden sie in Dreiergruppen in Kellerverliesen von Kasernen zwölf Jahre lang buchstäblich lebendig begraben.
Rosencof und der spätere Verteidigungsminister Huidobro verständigten sich während ihrer Kerkerjahre über ein Klopfalphabet und schworen sich, im Falle ihres Überlebens Zeugnis abzulegen. Der Dritte ihrer Gruppe, Pepe Mujica, war nach der Freilassung noch so krank, dass er an dem Buchprojekt nicht mitwirken konnte. Später wurde er zum Präsidenten Uruguays gewählt – der Nelson Mandela Lateinamerikas.
Zitat aus dem Buch: „Ohne Würde gibt es keinen Grund zum Überleben. Ich glaube, die Würde ist etwas dem Menschen Innewohnendes, ebenso inhärent wie die Liebe zum Leben. Das ist keine Frage von Ideologien. Überzeugter oder weniger überzeugter Marxist zu sein, sagt nichts darüber aus, wie du so etwas aushalten kannst. Für mich geht es hier um Grundfragen des Menschseins.“ Uruguay erlebt gerade ein wenig Aufmerksamkeit durch die Kriminalautorin Mercedes Rosende. Ihr nächstes Buch wird sich um den großen Gefängnisausbruch des Landes von 1971 drehen, als 106 Tupamaors entkamen. Arbeitstitel „Das Loch“.
- Mauricio Rosencof, Eleuterio Fernández Huidobro: Kerkerjahre. Als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur (Memorias del calabozo, 1987/88). Aus dem Spanischen von Lydia Hantke. Erstausgabe 1990 unter dem Titel Wie Efeu an der Mauer. Assoziation A, Berlin 2019. Paperback, 384 Seiten, 19,80 Euro.

Mustergültige Annäherung
(AM) Da wissen drei, wovon sie reden. Pathosfrei, enorm kundig und anschaulich unterhalten sich der Frankfurter Architekt DW Dreysse, der Stadt- und Regionalplaner Peter Lieser und der Fotograf und Designer Matthias Matzak in acht Kapiteln über die Industriekultur in Frankfurt und Offenbach. Solch ein großzügig gestaltetes und bildschön illustriertes Buch ist nur mit Herzblut möglich, Verlagsengagement inklusive, in diesem Fall vom Traditionshaus Henrich Druck +, das auch als Regionalbuchverlag auf eine lange Geschichte zurückschauen kann. Das Buch jetzt ist ein Meisterstück. Ist mustergültig – und die Form, das Wissen dreier Fachleute in Gesprächsform zu bündeln, eher ungewöhnlich.
Alle drei haben sich schon lange mit der Region und den Entstehungsbedingungen etlicher Industrie- und Ingenieursbauten beschäftigt. Kapitelweise diskutieren sie das Wesen der Industriestadt Frankfurt/ Offenbach, den Knoten Frankfurt, Städtebau und Stadtentwicklung, Architektur und Konstruktion, Erzeugung und Verteilung von Energie, Wasser und Abwasser, Arbeiterwohnungen und Unternehmervillen sowie die zahlreichen Umnutzungen ehemals industrieller Bauten. All das erhält in den zupackenden, klaren Fotografien von Matthias Matzak eine zusätzliche visuelle Ebene. Der Schutzumschlag ist eine gefaltete Stadtkarte mit den Eintragungen der Orte und einer Liste der Objektadressen, so lässt sich auf eine eigenständige Entdeckungsreise durch die Stadtlandschaft gehen. Zu den Adlerwerken, der Arbeitersiedlung Griesheim, der Colonie Zeilsheim, der Eisenbahnersiedlung Nied, den Fabriken an der Hanauer Landstraße, diversen Eisenbahnbrücken, Staustufen, Wasserwerken, Bahnhöfen und Heizkraftwerken, zum Gaswerk Ost und der Großmarkthalle, dem Hafenkran Offenbach, zur Heyne-Fabrik und dem IG-Farben-Haus, zur Naxoshalle, dem Schlachthof Offenbach, der Unionbrauerei, zur Villa Meister oder zur B-Ebene Grüneburgweg.
Wem Frankfurt und Offenbach zu weit wegliegen sei ein Ausflug zum Online-Magazin moderneREGIONAL empfohlen. Das wie CrimeMag/ CulturMag rein ehrenamtlich getragene Magazin hat die Baukunst des 20. Jahrhunderts im Blick: Architektur, Städte- und Gartenbau, Design, Fotografie, Kunst am Bau, dazu die häufig noch vernachlässigten „kleinen“ Formate, Regionen und Bautypen.
- DW Dreysse, Peter Lieser, Matthias Matzak: Industriekultur in Frankfurt und Offenbach. Henrich Editionen, Frankfurt 2019. Format 28 x 22 cm. Hardcover mit Stadtkarte als Schutzumschlag, 204 Seiten, 93 farbige Abbildungen, 28 Euro.

Bewegung!
(AM) Deswegen mag man ihn, den Verbrecherverlag, der geistigen Beweglichkeit wegen. Das von Die Hauptaktion – einer künstlerischen Forschungsgesellschaft um Julian Warner und Oliver Zahn – herausgegebene schmale Buch Texte zur Turnkunst ist ein schönes Beispiel. Das Wort ‚Turnen’ ist unübersetzbar, erfunden wurde der Begriff von Friedrich Ludwig Jahn. Trösten wir uns, dass auch ‚Yoga’ keine Übersetzung kennt. International rezipiert werden beide als körperliche Praktiken, sie wandern durch Körper, werden einverleibt und nehmen immer neue Bedeutungen an. In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Mitglieder in deutschen Fitness-Studios verdreifacht – auf elf Millionen. Und damit sind noch längst nicht alle körperlichen Optimierungsmethoden erfasst.
„Unsere Sehnen und Muskeln sollen stark werden, unsere Körper gesund und kraftstrotzend, damit auf dieser Grundlage der Mut, das frohe Selbstvertrauen erwachse, denn dieser Mut ist es, den unser Turnen verleiht … der optimistische Mut des Streiters aus eigener Kraft“, ermunterte Ernst Tuch anlässlich des Schauturnen 1903 am sechsten Zionistenkongress in Basel. Turnen ist mehr als eine Erziehung zum Deutschtum. Ganz unterschiedliche Subjekte turnten sich seit dem frühen 19. Jahrhundert mit Kraft, Spannung und Schwung in die Moderne: proto-feministischen Frauen in Frankfurt a. M. (1849), schwarze Askari (1896), Arbeiterinnen in Straßburg (1912), Zionistinnen in Wien (1913), und ja, auch Nationalsozialisten. Die fünf Essays dieses Sammelbandes liefern Denkanstöße für eine andere Erforschung der Geschichte und Gegenwart der Turnkultur. Es geht um die global-historische Beziehung von Gymnastik und Nationalismus, um die Rolle der Geschlechter und die Funktionen der rhythmischen Bewegung in der Moderne, die Ethnographie von Fitnesskulturen oder die Turnhalle als architektursoziologische Skizze.
- Hauptaktion (Hg.): Texte zur Turnkunst. Mit Beiträgen von Tim Bindel, Sandra Chatterjee, Astrid Kusser Ferreira, Dennis Dieter Kopp, Hannah Saar, Jens Wietschorke, Oliver Zahn. Verbrecher Verlag, Berlin 2020. Broschur, 128 Seiten, 19 Euro.

