Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020, News

Günther Grosser (Regisseur & künstlerischer Leiter): Kein Spielplan #Covid-19

Als die Boys von der Wallstreet und anderen abstoßenden Orten Anfang der 1980er Jahre sich erste Gedanken dazu machten, wie sie an die Milliarden und Abermilliarden herankämen, die auf europäischen – hauptsächlich deutschen – Sparkonten herumlagen und bloß Zinsen kosteten, hatten sie schnell ein paar packende Ideen. Sie brauchten zwanzig Jahre, um durch gezielte Lobbyarbeit und „Lobbyarbeit“ die entsprechenden Politiker und Entscheider davon zu überzeugen, dass Sparen und Rente altbackener Quatsch sind und jeder erstens sein Erspartes investieren und zweitens für sich selber sorgen solle. Im gleichen Zeitraum hatten sie es nebenbei geschafft, den Gesellschaften weltweit einiges aus den Rippen zu schneiden, was diese wohlweislich in ihren Händen gehalten hatten: Wasserversorgung, Energie, Nahverkehr, Gesundheitssysteme wurden privatisiert. Es funktionierte prima, es lief für die Jungs.

Das Theater, insbesondere die unabhängige Freie Szene versuchte in den folgenden zwei Jahrzehnten, zur Illustration und Kritik dieser Entwicklung, die man inzwischen unter dem Begriff Neoliberalismus zusammengefasst hatte, Bilder, Stücke, passende performative Formate, neue Dramaturgien zu finden. Man ging es ironisch an, entlarvend, beißend, mit Dokumentartheater, Performances, Audio-Walks und grellem Video. Alle Beteiligten legten sich mächtig ins Zeug und arbeiteten mit Energie und Freud an der eigenen Professionalisierung. Man langweilte sich dann irgendwann mit dem Neoliberalismus-Zeugs und wechselte zu Genderfragen, Identitätsnarrativen und Postkolonialismus, jetzt etwas verbissener, aber es funktionierte, es lief.

Dann kam das Virus.

Das English Theatre Berlin arbeitet seit 30 Jahren in einem Berliner Hinterhof unweit des Tempelhofer Feldes im Bergmannkiez. Nein, kein Shakespeare, Oscar Wilde, Harold Pinter, sondern die englischsprachigen Varianten des Obengenannten mit Performern und Theatermachern aus aller Welt, die in den vergangenen Jahren so zahlreich und unaufhaltsam in das neue wilde rasante billige freie Berlin gekommen waren und in Englisch arbeiten und spielen, egal ob aus Italien, Griechenland, Syrien oder Korea. Wie überall in der Freien Szene arbeiten alle ohne Netz und doppelten Boden, und viele haben einen zweiten Job.

Jetzt macht das Virus uns allen einen dicken schwarzen Strich durch diese prekäre Rechnung.

Kein Spielplan, keine Aufführungen, kein Festival mit neuen Produktionen. April nicht, Mai nicht, Juni? Mal sehen. Und urplötzlich wird für alle sichtbar, was Neoliberalismus wirklich bedeuten kann: Nicht nur dass keine Aufführungen und keine Inszenierungen auch keine Bezahlung bedeuten, das hat es immer gegeben. Das wahrhaft Erschreckende ist jedoch, dass 40-, 50-jährige Schauspieler, Beleuchter, Bühnenbildner, Videodesigner mit zwanzigjährigen Karrieren ihre dürftigen Rücklagen bereits nach drei Monaten verbraucht haben werden. Dass man zittern muss, Freunde anpumpen, die Eltern anbetteln. Gottseidank springt der Staat ein. Hunderttausende beantragten am ersten Tag des neu aufgelegten Förderinstruments „Corona-Zuschüsse für Solo-Selbständige und Kleinst- bzw. Kleinunternehmen“, am 27. März, Unterstützung und Überbrückung.

Denn das ist die bittere Lehre dieser Stunde: Man hat zwar zahlreiche Performances zum Thema entwickelt oder gesehen, jetzt jedoch erfahren viele, allzu viele es am eigenen Leib, jetzt wo auch die Zweitjobs Kellnern, Englischunterricht wegfallen: Die Rückseite der neoliberalen golden schimmernden Medaille, all der Freiheit, der Unabhängigkeit und des Self-Improvement ist tatsächlich das hässliche Prekariat. Balancieren am Rande des Abgrunds.

Theater ist immer aktuell, die Freie Szene sowieso. Ich denke allerdings nicht, dass wir, wenn wir durch sind, reihenweise Corona-Shows sehen werden. Die Sache mit dem Neoliberalismus allerdings wird noch einmal interessant werden.

  • Günther Grosser, Künstlerischer Leiter des English Theatre Berlin | International Performing Arts Center

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