Geschrieben am 1. Juni 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2020

Ute Cohen zu Michael Stavarič „Fremdes Licht“

Kalt glitzerndes Zwischenreich

Todesarten zu googeln ist ein beliebtes Hobby von Krimi-Autoren und Suizidgefährdeten. Während die einen nach den kuriosesten Fällen suchen, versuchen die Verzweifelten einen möglichst schnellen und schmerzfreien Tod zu eruieren. Michael Stavarič erweist sich in seinem neuen Roman „Fremdes Licht“ als probater Ratgeber. Der Tod durch Erfrieren gelte überall in der Welt als eine der angenehmeren Todesursachen, heißt es da. Dies gelte aber nur für Bewohner wohltemperierter Gegenden, nicht aber für die Inuit, wird sogleich klargestellt, denn diese hätten sonst das Gefühl, etwas „ganz gewaltig in den Schnee gesetzt zu haben.“

Und wer will das schon? Keinesfalls Elaine Duval, eine junge Genforscherin, die nach 

einem gigantischen Kometeneinschlag der zerstörten Erde zu entfliehen versucht. Ihr Freund Dallas steuert ein Raumschiff mit allerlei kryotechnischem Equipment durch den Weltraum in der Hoffnung, zu überleben und auf einem anderen Planeten neues Leben zu reproduzieren. Doch hochfliegende Pläne enden nicht selten mit einer Bruchlandung. Elaine strandet auf einem vereisten Planeten namens Winterthur, Dallas ist verschollen und weit und breit findet sich keine Menschenseele. Die Reproduktionsforscherin begibt sich aller Unbill trotzend auf Erkundungstour und versucht dem eisigen Planeten Leben einzuhauchen.

Das klingt nach einem gängigen dystopischen Plot mit Abenteurer-Flair, einer Prise Feminismus, Liebe und natürlich Crime. 

Wer „Fremdes Licht“ darauf reduziert, verkennt aber die Raum und Zeit sprengende Fantasie des Autors. Stavarič‘ Roman ist ein Thriller über Transformation & Time.

Kaum macht der Leser einen Orientierungspunkt in Zeit und Ort aus, lässt Stavarič einen Schneesturm über allzu forsche Gewissheiten hinwegfegen. Er webt nicht nur die Handlungsstränge von Uki und Elaine, von Großmutter und Enkelin zusammen, sondern hebt die Separierung zwischen den beiden Figuren auf: „Du bist eine ganze Vergangenheit und eine Zukunft“, sagt der Großvater zur Enkelin und ruft ihr den Forscherdrang und den Überlebenswillen ihrer Inuit-Vorfahrin in Erinnerung. Das Motiv der Verwandlung taucht nicht nur im technischen Kontext auf, so beim Tesla-Transformator, sondern auch in der Vorstellungswelt der Protagonisten. Elaine erschafft sich Parallelwelten, um zu überleben, erweitert die eigene Vorstellungswelt durch die ihrer Ahnen. Eine unbelebte Welt erscheint so nicht mehr leblos, wenn man um den Zauber weiß, der unbewohnten Dingen innewohnt, wenn man an „Inua“ glaubt, „die pure Lebensenergie, die alle Dinge belebte, selbst solche, die auf den ersten Blick nicht lebendig schienen“. Elaine belebt den Kosmos aus Eis durch die veränderte Wahrnehmung, Uki glaubte, in der Zivilisation wäre selbst Zeit ein Organismus mit pochendem Herzen, gefasst in einer Uhr, lebendig, beseelt und hörbar.

Auch T.C. Boyle lässt gern Zivilisation und Natur, Kultur und Kultur aufeinanderprallen. Oftmals endet das in einem Big Bang. In Drop City führt das Zusammentreffen zu Chaos und Vernichtung, da die Hybris Austausch und Assimilation einen Strich durch die Rechnung macht. Stavarič nähert sich dem Thema weniger dogmatisch, weniger schematisch. Er traut seinen Figuren die Fähigkeit zur Verwandlung und Anverwandlung zu. Das zeigt sich allein schon an der Selbstbeschreibung der Flugpassagiere: „Gestern war ich Wasser, heute Sprache“ lautet der Bewerbungsspruch eines gewissen Otto Schwartz. Diese Macht über die Eigentransformation ist ungeheuer in „Fremdes Licht“. Zurückzuführen ist sie auf einen gewandelten Blick auf die Zeit, die in der Inuit-Kultur nicht den enormen Stellenwert innehat wie in der hiesigen Zivilisation. Das Leben richtet sich nach Temperaturen und dem Verhalten der Tiere. 

Trotz der Würdigung einer anderen Zeit- und Seinsauffassung gleitet Stavarič nicht in das Klischee des „edlen Wilden“ ab. „Survival of the Fittest“ und die Selektion der Alten und Schwachen sind Wesenselemente auch der im Feingefühl durch Kälte geschulten Inuit. Die Alten wurden nicht selten auf eine Scholle gesetzt, damit sie ins Meer hinaustrieben. Auch im Raumschiff auf der Flucht haben Schwache und Alte keinen Platz. Die „Triage“ legt ihre grausamen Spuren in Eis und Schnee und auf Krankenhausfluren. 

Dieser bestialischen Einsicht können wir nicht entkommen. So ist es fast eine Erlösung, dass der Autor uns den unvermeidlichen Endknall des Universums in Aussicht stellt. Ob „Großes Knirschen“, „Großes Reißen“, „Großes Zögern“ oder „Großes Jammern“, wenn Stavarič, dieser Eidetiker der Grausamkeiten, den Untergang so poetisch wie die Kälte beschreibt, braucht uns nicht angst und bange zu werden. Der Tod wird dann zu einem ästhetischen Phänomen, der so schön ist wie gefrorene Schmetterlinge im Schnee. Und vielleicht wird ein kleines, noch ungeborenes Mädchen, berufen zur Reproduktionsgenetik nicht nur die Schmetterlinge wiedererwecken, sondern auch uns alle. 

Ob das eine monströse Vorstellung ist, wird sich erweisen. Ratsam wäre es, nächtens zusammenzusitzen und über Holmmonster zu sinnieren, über die Unsichtbarkeit der Alten und über Raubtiere in dieser und jener Welt. Worte des Trostes finden wir vielleicht in der Sprache der Inuit: „qarrtsiluni“ gemeinsam in der Dunkelheit sitzen und warten, bis etwas geschieht“ hört sich nicht allzu verlockend an, aber vielleicht geht uns dann ein Licht auf und wir erkennen, dass wir fremde Welten selbst beleben müssen. Wir sollten nur aufpassen, dass wir Spiegel und Wirklichkeit, virtuelle Welt und Leben in Fleisch und Blut nicht verwechseln, denn unbegrenzt ist unser „Inua“, unsere pure Lebensenergie nicht. Die Qual der Wahl aber sollten wir nicht zwischen Scylla und Charybdis haben, zwischen der Wahl der schönsten Todesart und dem zwangsweisen Aussortiertwerden. Vielleicht ersehnt sich Stavarič den Endknall des Kapitalismus, vielleicht ist „Fremdes Licht“ eine Parabel, vielleicht aber auch eine kalt glitzernde Skizze eines Zwischenreichs, in dem wir mehr Gestaltungsmacht haben als wir vermuten.

  • Michael Stavarič: Fremdes Licht. Luchterhand Verlag, München 2020. Hardcover, 512 Seiten, 22 Euro.

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