
Sachbücher, kurz und bündig
Sekundärliteratur ist unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Constanze Matthes (com) und Alf Mayer (AM) waren auf einem Streifzug im Revier unterwegs – und besprechen:
Christian Feyerabend, Roland Breitschuh: Adenauer. Der Garten und sein Gärtner
Tim Flannery: Europa: Die ersten 100 Millionen Jahre
Future Food. Essen für die Welt von Morgen
Stuart Hall: Vertrauter Fremder
Yuval Noah Harari: Fürsten im Fadenkreuz. Geheimoperationen im Zeitalter der Ritter 1100-1550
Mittelweg 36: Die Gruppe + Die Moderne
Andrew Nette: Rollerball
Harald Salfellner: Die Spanische Grippe


Die Särge haushoch
(AM) Kein Landstrich blieb verschont, in Städten und Dörfern bimmelten die Glocken, die man noch nicht zu Kanonen eingeschmolzen hatte. In eigenen Straßenbahngarnituren rumpelten die Särge zu den Friedhöfen hinaus, in den Totenkammern stauten sich die Leichen. Die Zahl der Opfer stieg ins Unermessliche. Sechs Millionen, dann zwölf, dann zwanzig, bald fünfzig, wenn nicht gar hundert. Die USA beklagen 650.000 Tote, Brasilien 300.000, das vom Ersten Weltkrieg verwüstete Europa zweieinhalb Millionen, Indien gar vierzehn. 1918, das ist für uns das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Es war aber auch das Jahr mit dem größten Massaker der Menschheitsgeschichte. Und all das ist jetzt wieder brandaktuell.

Der in Prag lebende Medizinhistoriker, Verleger und Kafka-Forscher Harald Salfellner hat sein Standardwerk Die Spanische Grippe für eine zweite, wesentlich erweiterte Auflage gründlich durchgearbeitet. Sein Buch ist durchgehend farbig bebildert, die beinahe 300 Abbildungen sind eine Zeitreise und eine Kulturgeschichte der besonderen Art. Text und Bild veranschaulichen die Seuche in ihren globalen Zusammenhängen und Auswirkungen. Ein doppelseitiges Farbfoto aus dem Jahr 1918 etwa zeigt einen Lastwagen der Firma Casket & Co, die Ladefläche haushoch hochgetürmt mit Särgen. Immer wieder Särge und Trauerzüge, quer durch die Welt, dazu Masken, Medikamente, Zeitungsannoncen und Anzeigen, Kurven, Statistiken, Grabsteine, Broschüren, Zeitungen und der „Influenza Blues“ aus der Feder von Happy Klark und Arthur C. Brown.
In 35 Kapiteln blättert der Autor die größte Gesundheitskatastrophe der Menschheitsgeschichte auf und stellt in drei Extrakapiteln den Bezug zur Bezügen zur COVID-19-Pandemie her. Sein Fazit: „Es ist ein pandemisches Roulette, dem die Menschheit ausgeliefert ist, und einzig das ist gewiß, und in der Fachwelt unstrittig: daß die Kugel wieder rollen wird… Auch in Zukunft wird mit Pandemien wie der Spanischen Grippe oder COVID-19 zu rechnen sein.“
Franz Kafka übrigens infizierte sich am 14.10.1918 in Prag – und überlebte. Verdrängt hatte ich, dass in der Todesanzeige von Goethe von einem „Katarrhalfieber“ die Rede ist. Er erlag am 22. März 1832 in Weimar einer Grippe, in einer Nachwelle der Spanischen Grippe in München am 15. Juni 1920 des Soziologe Max Weber. Ein Glossar rundet das verschwenderisch illustrierte, hochinteressante Buch ab.
- Harald Salfellner: Die Spanische Grippe. Eine Geschichte der Pandemie von 1918. Vitalis Verlag, Prag 2020. Zweite, erweiterte Ausgabe, mit zahlreichen Abbildungen, 192 Seiten, 24,30 Euro.

Dreimal ein Gong für dieses Buch
(AM) Seine Mutter hatte weiße Vorfahren, sah sich dem britischen Empire zugehörig, sein Vater war der erste Nicht-Weiße in leitender Stellung beim Obsthandelskonzern United Fruit Company. Er selbst unterstützte die Bestrebungen Jamaikas nach Unabhängigkeits, ging dennoch mit einem Rhodes-Stipendium an die Elite-Universität in Oxford, führte ein Leben in der Diaspora. 2001 sagte er in einem Interview: „Ich weiß nur, was ich nicht bin.“ Im gleichen Interview schwärmte er von Miles Davis, dessen Musik ihm „der Klang dessen, was nicht sein kann“ war.
Stuart Hall (1932–2014) war nicht nur ein Musikkenner, er ist einer der wichtigsten marxistischen Kulturtheoretiker unserer Zeit, ein Mitbegründer der New Left und der Cultural Studies, die den Schlüssel zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse in den kulturellen Alltagspraxen und im Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation suchen. Sein besonderes Interesse galt der Darstellung von Rasse in den Medien. Er schärfte uns den Blick, dass die meisten Medien, die wir konsumieren, alles andere als harmlos sind, sondern Rassismen und Stereotypen verbreiten, sei es in den Nachrichten, Fernsehserien oder Sitcoms. Mit seiner Forschungsarbeit verbunden war für Hall stets eine Aufwertung der Alltagskultur und ein Infragestellen der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen „hoher“ und „niederer“ Kultur.
Jetzt liegt – und der Gong dafür könnte nicht groß genug sein – seine Autobiografie vor: Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln. Es ist die Geschichte eines Zeitalters, die Geschichte einer Befreiung und Selbstvergewisserung, klug und uneitel, immens anregend, ein Amalgam aus politischer Kolonial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und autobiografischer Erzählung, prallvoll auch mit Literatur und Jazz. Das Buch entstand dialogisch aus Interviews, sein Gesprächspartner, Freund und Herausgeber Bill Schwarz schloss das Werk posthum ab. Die deutsche Übersetzung – auch die verdient einen Gong – besorgte Ronald Gutberlet, und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele Gesprächsrunden mit dem „Editorial Board“ es bedurfte, bevor die wirklich überaus skrupulös verwendeten Begrifflichkeiten für alle zufriedenstellend festgezurrt waren. Ein ausführliches Glossar rundet die Lektüre. Ein letzter Gong gebührt dem Argument Verlag von Else Laudan, wo dieses Projekt gestemmt wurde. Bravo!
- Stuart Hall: Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln. Deutsch von Ronald Gutberlet. Argument Verlag, Hamburg 2020. Hardcover mit Lesebändchen, 304 Seiten, 36 Euro. Textauszug hier.

Das Gegenteil von staubtrocken
(com) Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich an einen Film, der mich damals begeistert hat und noch immer fasziniert. „Reise in die Urzeit“ erzählt die Geschichte von vier Jungen, die sich nach dem Fund eines versteinerten Trilobiten mit einem Boot auf eine Reise in die Vergangenheit begeben. Eine Art Zeitmaschine in die prähistorische Ära hält auch der australische Zoologe und Biologe Tim Flannery mit seinem herausragenden Band Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre bereit.
Flannery kam in den 1980er-Jahren erstmals nach Europa, um die Sammlungen des Naturhistorischen Museums in London zu studieren. Erstaunt war er von der Natur und Vielfalt des alten Kontinents, der sich vor 100 Millionen Jahren – jene längst vergangene Zeit, in der dieses Buch seinen Anfang nimmt, um sich in Richtung Gegenwart zu bewegen – auf einer Landkarte ganz anders zeigte. Europa war einst ein tropischer Archipel, aus verschiedenen Inseln bestehend und vom Wasser des Tethys- und des Borealmeers umgeben. Weitreichende geologische sowie klimatische Änderungen haben dem Kontinent über Jahrmillionen seine heutige Form gegeben. In diesem für unser Vorstellungsvermögen nur schwer zu fassenden Zeitraum entstanden neue Arten, andere verschwanden oder fanden auf anderen Erdteilen ein neues Zuhause. Mit den Dinosauriern herrschten eindrucksvolle Giganten auf unserem Planeten. Zudem nahm bekanntlich die Evolution des Menschen ihren Lauf.
„Europa“ ist ein Band, der über stetige Veränderungen, die noch immer anhalten, erzählt. Im Rampenlicht stehen besondere Arten, die noch immer existieren oder im Laufe ihres Bestehens ein spezielles, ja nahezu bizarres Äußere ausgebildet haben, als ob die Natur sich ausprobieren wollte. Der Grottenolm, die Geburtshelferkröte oder das Anisodon, das einen Kopf wie ein Pferd und ein Hals wie ein Okapi besaß, sich aber wie ein Gorilla fortbewegte, seien an dieser Stelle genannt. Zu den weiteren „Protagonisten“ zählen bekannte und weniger bekannte Wissenschaftler: So der transsilvanische Adlige und erste Paläobiologe Franz Baron Nopcsa von Felső-Szilvas, der britische Anatom Sir Richard Owen, der den Begriff „Dinosaurier“ prägte, oder der britische Geologe Charles Lyell, der den geologischen Perioden ihren Namen gegeben hat.
Flannerys Werk ist reich an interessanten Fakten. Der Leser erfährt, dass der Tsunami nach dem Asteroiden-Einschlag vor 66 Millionen Jahren, der zum Aussterben der Dinosaurier geführt hat, rund ein Kilometer hoch war und dass Überreste eines riesigen urzeitlichen Korallenriffs in einem englischen Dorf gefunden wurden; allgemein nehmen Fossilien und ihre Fundorte, als Fenster in eine längst vergangene Zeit, eine besondere Bedeutung ein. Der Leser erlebt nicht nur eine Zeitreise, sondern auch eine spannende Tour zu verschiedenen Orten in unterschiedlichen europäischen Ländern.
Flannery, Jahrgang 1956 und Mitbegründer des Climate Council, ist ein wunderbarer Lehrer und Erzähler, der von der Naturgeschichte Europas in Geschichten und Anekdoten sowie dank eigener Erlebnisse und Begegnungen berichtet. Nie wirkt der Inhalt des zudem bebilderten und mit Zeittafeln versehenen Bandes staubtrocken, sondern vielmehr bildhaft, atmosphärisch und erhellend, teils sogar humorvoll. Je näher der Leser der heutigen Gegenwart kommt, desto größer wird der Einfluss des Menschen auf das Leben auf der Erde. Klimawandel und Artensterben bedrohen Flora und Fauna. Allerdings wird der Mensch zunehmend sich seiner Aufgabe als Beschützer und Gestalter bewusst. Flannery schreibt zum Schluss über das Bestreben, in Europa Wildnisgebiete, so in den Niederlanden und in Rumänien, einzurichten und zu erhalten, sowie eine faszinierende Zukunftsvision: Die sogenannten großen Fünf, dazu zählen Waldelefant, Wasserbüffel und Nilpferd, leben in Europa – wie einst. Und mittendrin: ein Mammufant.
- Tim Flannery: Europa: Die ersten 100 Millionen Jahre (Europe: The First 100 Million Years, 2018). Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 380 Seiten, 28 Euro.

Adenauer ist auch dabei
(AM) Jetzt seit dem 30. Mai ist sie endlich mit dreimonatiger Corona-Verspätung eröffnet: die Ausstellung Future Food. Essen für die Welt von Morgen im Deutschen Hygiene Museum Dresden – und sie geht noch bis zum 21. Februar 2021. Zeit also für eine Dresden-Reise, ersatzweise für den im Wallstein Verlag erschienenen Katalog. Dem Thema angemessen kommt er mehr als appetitlich daher, ist geradezu musterhaft: großzügig gestaltet, ein schöner Satzspiegel, angenehm griffiges Papier, farbige Zwischenseiten, gute Typografie, übersichtlich angerichtet. Einladend.
Brechts Diktum aus der „Dreigroschenoper“, „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, mag immer noch unsere mehr oder weniger stillschweigende Konsumvereinbarung sein, Ausstellung und Katalog wollen dem entgegenwirken. Und sie tun es gut. In vier großen Kapiteln geht es im Puzzle der Welternährung um Produzieren, Handeln, Imaginieren und Wählen. Der Blick richtet sich immer wieder über den Tellerrand hinaus. Es geht um eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, nämlich die Zukunft unserer Ernährung. Die Szenografie der Ausstellung wurde von dem Schweizer Gestalterbüro Groenlandbasel entwickelt, Kuratorin und Projektleiterin ist Viktoria Krason. Es gibt über 300 Ausstellungsobjekte. Mit dabei, die Nachbildung einer Sojawurst von 1915, sie wurde mitten im Ersten Weltkrieg entwickelt, um die Bevölkerung in Zeiten des Mangels mit proteinreicher Nahrung zu versorgen. Erfinder war der Kölner Ernährungsdezernent und spätere Bundeskanzler Adenauer. Zwar nicht in Deutschland, aber in England erhielt er ein Patent auf das Produkt. Es setzte sich nicht durch.
Das Titelbild des Katalogs stammt von der Fotografin Izumi Miyazaki, die sich in ihren Selfies meist mit Lebensmitteln ablichtet. Sehr berührt hat mich der Text „Der Schmerz des Hungers, das Gute des Essens“ von der Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, in dem ich unter anderem Primo Levi, Jean-Paul Sartre oder Rachel Auerbach begegnet, die im Warschauer Ghetto die „Sozialgeschichte des Hungers“ erforschte. Fazit des Katalogs: Die Lust am Essen und die List am Disput gehören zusammen. Ausstellung und Buch wollen dazu anstiften, zu mündigen Esser*innen zu werden.
- Deutsches Hygiene Museum Dresden: Future Food. Essen für die Welt von Morgen. Herausgegeben von Anna-Lisa Dieter und Viktoria Krason. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 176 Seiten, 97 Abbildungen, 19,90 Euro.

Ein Schmuckstück
(AM) Dieses Buch hat mich überrascht. Alle Vorbehalte von Betulichkeit und Nostalgie waren schnell verflogen, als ich mich ans Blättern und Schauen und Lesen machte. Es ist klug und spannend und kein bisschen verstaubt. Es atmet, gibt seinem Gegenstand Raum, hat eine intelligente Dramaturgie, macht – buchstäblich – zusehends immer mehr Spaß. Erst einmal führen zehn Seiten Bildstrecke, die letzte davon eine Doppelseite mit viel weißer Wand und einer am Fenster hochgerankten Rose, auf die Wanderung, ehe uns der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland mit Gießkanne und Gärtnerhut begegnet: Adenauer. Der Garten und sein Gärtner, heißt der Bildband. Christian Feyerabend zeichnet für den Text, Roland Breitschuh für die Fotos verantwortlich, beide arbeiten auf wirklich hohem Niveau. Thomas Neuhaus als Art Director ebenfalls. Welch ein Aushängeschild für den Kölner Greven Verlag.
Die 37 Kapitel folgen dem Gärtner und seinem Garten ziemlich chronologisch. Adenauer war 61, als er begann, im 1937 gekauften neuen Domizil im Bad Honnefer Stadtteil Rhöndorf am Faulen Berg am Fuß des Siebengebirges seinen Garten anzulegen. Bis zu 40 Gießkannen galt es pro Tag den Hang hinauf zu schleppen, insgesamt 58 Stufen bis zum großartigen Ausblick auf das Rheinpanorama. „Wo die Nationalsozialisten alles eng machten, wollte ich wenigstens den Blick in die Weite haben“, hat er einmal gesagt. 128 Seiten lässt das sinnliche Buch sich Zeit, ehe wir diesen Panoramablick das erste Mal sehen können. Auf Seite 178 bekommen wir den Blick von seinem Schreibtisch aus, auf Seite 196 dann eine Luftaufnahme, die das ganze Anwesen erfasst.
Davor ist die Annäherung bedächtig und detailverliebt, so wie man im Garten ja eher nach unten als schon gleich über Zaun und Dächer schaut. Autor Christian Feyerabend sorgt in seinen kurz gehaltenen Texten für viel politische, kulturelle und auch gärtnerische Information, Roland Breitschuh hält das Niveau seiner Fotografien, ohne mit ihnen zu ermüden. Das Buch streicht durch die Jahreszeiten und die Jahrzehnte, macht glücklich wie ein Aufenthalt in einem schönen Garten. Das Adenauerhaus übrigens kann man besuchen, das steht jetzt bei mir auf dem Programm.
- Christian Feyerabend und Roland Breitschuh: Adenauer. Der Garten und sein Gärtner. Herausgegeben von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus. Greven Verlag, Köln 2020. Format 21 × 27 cm. 200 Seiten mit 179 Abbildungen, Leinen, 30 Euro.

Weit mehr als nur entführte Prinzessinnen
(AM) Der friedfertig vegane Philosoph Yuval Noah Harari, dessen Bücher Eine kurze Geschichte der Menschheit, Homo Deus und Lektionen des 21. Jahrhunderts zu Weltbestsellern wurden und in gut in 50 Sprachen übersetzt sind, begann seine akademische Laufbahn an der Jerusalemer Universität als Militärhistoriker des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, mit immerhin einer Koryphäe wie Martin van Creveld als Doktorvater, der seine ersten Werke betreute. Eines davon, liegt jetzt – zweifellos ein Kind der Harari-Erfolgsgeschichte – in seinem Verlag C.H. Beck auf Deutsch vor: Fürsten im Fadenkreuz. Geheimoperationen im Zeitalter der Ritter 1100-1550. Dort fügt es sich wie bestellt in ein gutes Dutzend von Sachbüchern zur Geschichte der Kreuzzüge und der Templer.
Das Buch richtet sich an eine nichtprofessionelle Leserschaft und stellt Analyse zugunsten der Erzählung hintan. Attentate, Belagerung, Entführung, Festungen, Krieg, List, Mittelalter, Ritter, Sabotage, schmutziger Krieg, Spezialkräfte sind die Schlagworte, mit denen der Verlag das Buch verortet. Den schmutzigen Krieg gibt es nicht erst seit heute, kann doch ein Einsatz weniger, entschlossener Männer oft ein größeres Blutvergießen und langen Krieg vermeiden. Ein halbes Dutzend Geheimoperationen beschreibt Harari ausführlich: die Einnahme von Antiochia im Jahr 1098; die Rettung König Balduins, 1123; die Ermordung König Konrads, 1192; den Angriff auf Calais, 1350; die gewalttätige Geschichte des Hauses Valois- Burgund, 1407–1483, und den habsburgischen Einmarsch in die Provence mit dem Überfall auf Auriol, 1536.
Harari, der mehrfach über die Qualität von Kriegszeugen-Berichten geforscht hat – etwa: Armchairs, Coffee and Authority. Eye-Witnesses and Flesh-Witnesses Speak about War, 1100–2000. In: The Journal of Military History. Bd. 74, 2010 – breitet ein pralles Panorama aus, das Stoff für gleich mehrere Dutzend Romane und Filme böte: entführte und dann befreite Prinzessinnen, Verräter, Attentäter, Saboteure, Listen, Täuschungen, nächtliche Teufelsritte, ganze Feldzüge, die zur Belagerung einer einzigen Stadt geführt wurden, zerstörte Infrastruktur, durch die Beseitigung weniger Figuren entscheidend verschobene Machtverhältnisse. Cloack-and-dagger, buckle-and-swash, derring-do und Säbelklang zuhauf …
Immer wieder stellt der 1976 geborene Autor Bezüge zur Gegenwart und zu unserer Medienkultur her. Wir lernen nicht nur über allerlei mittelalterliche Heldenliteratur und –lieder, der Rahmen reicht bis zu den Büchern von Walter Scott und den als Plot alten Ritterromanen entlehnten futuristischen Spezialkommandos in den „Terminator“-Filmen. Die heutige Aura, die Spezialkommandos umweht – zu denen der Israeli Harari zum Beispiel auch die Olympiaattentäter von München 1972 zählt – ist in hohem Maße ein Erbe mittelalterlicher Kriegskultur. Der deutsche Titel verwendet mit „Fadenkreuz“ einen nachbetrachtenden Terminus, aber das schmälert den Fokus des Buches nicht.
- Yuval Noah Harari: Fürsten im Fadenkreuz. Geheimoperationen im Zeitalter der Ritter 1100-1550 (Special Operations in the Age of Chivalry, 1100–1550, 2007). Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck Verlag, München 2020. 348 Seiten, mit 8 Abbildungen und 6 Karten, 26,95 Euro.

Weltbewältigungsinstrument
(AM) Das durch meinen Aufenthalt am anderen Ende der Welt unzulässig lange liegengebliebene Dezember/ Januar-Heft von Mittelweg 36, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung verzeichnet eine Zäsur. Seit der ersten Ausgabe im April 1992 gehörte das Rubrum „Aus der Protestchronik der Bundesrepublik“, stets nüchtern, zuverlässig und kenntnisreich verfasst vom Historiker und Politologen Wolfgang Kraushaar, zum festen Inhalt. Jetzt, 28 Jahre später, hat er mit seinen letzten Beitrag eingesandt. „Es versteht sich von selbst, dass eine mit derartiger Ausdauern und Intensität betreute Rubrik mit Wolfgang Kraushaars Entscheidung, das Chronistenamt niederzulegen, ausläuft. Es gäbe auch niemanden, der in der Lage wäre, sie mit gleicher Expertise fortzuführen“, schreibt die Redaktion.
Seine Rubrik war über die bundesdeutsche Perspektive hinaus längst auf „Aus der Protest-Chronik“ ausgeweitet, wurde zu einer breit geknüpften Globalgeschichte außerparlamentarischer Opposition. Sein letzter Text „2. September 2019, Teheran“ stellt die Iranerin Sahar Khodayari in den Mittelpunkt, die – als Mann verkleidet – am 12. März 2019 ein Spiel von Esteghlal Teheran besuchte und verhaftet wurde, als sie ein Bild dieser Aktion ins Netzt stellte. Bis zu ihrem Gerichtstermin am 2. September bleibt sie gegen Kaution auf freiem Fuß, als sie zu Prozessbeginn erfährt, dass wegen ihres unter getarnter Geschlechtsidentität erfolgten Stadionbesuchs für ein halbes Jahr ins Gefängnis soll, übergießt sie sich vor dem Gericht mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündet sich an. Sieben Tage später erliegt sie ihren Verletzungen. Wolfgang Kraushaar macht daraus eine kleine Kulturgeschichte der Selbstverbrennung wie der Unterdrückung von Frauen. Er wird uns fehlen.

Thema des Heftes ist Die Gruppe. Zur Geschichte und Theorie eines folgenreichen Konzepts. Wie umfassend, wie vertraut und fremd und wie prägend dieses am weitesten verbreitete soziale Gebilde ist, das wird in neun klugen Beiträgen aufgeschlüsselt. Mittlerweile ist auch bereits Heft 2 April/Mai 2020 erschienen. Sein Thema: Verheißung und Ernüchterung. Ambivalenzen der Moderne. Das ist ein strapazierter, vage gefasster Begriff, wie geschaffen für die Instrumente des Hamburger Instituts. Sein Gründer Jan Philipp Reemtsma nähert sich dem Thema mit „Der blinde Fleck. Über Gewalt in der Moderne“ – wie immer ein intellektueller Gewinn. Diese Zeitschrift rockt.
- Mittelweg 36: Die Gruppe. Zur Geschichte und Theorie eines folgenreichen Konzepts. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Heft 6-1, Dezember 2019/Januar 2020. 216 Seiten, Broschur, 22 Euro Print, 15 Euro PDF. Sowie: Heft 2, April/Mai 2020: Verheißung und Ernüchterung. Ambivalenzen der Moderne.104 Seiten, Broschur, 12 Euro Print, 7,99 Euro PDF. Verlagsinformationen.

München im Jahre 2018
(AM) München war einmal die Stadt der Zukunft, hatte die modernsten Gebäude der Welt – das fand zumindest die traditionsreiche Hollywoodfirma United Artists, die dort den 1975 entstandenen Science-Fiction Film Rollerball (mit James Caan in der Hauptrolle), zu weiten Teilen drehen ließ. Regie: der Kanadier Norman Jewison, der mit dem Südstaaten-Thriller „In der Hitze der Nacht“ (1967) und mit dem Musical „Jesus Christ Superstar“ (1973) Furore gemacht und nun freie Stoffwahl hatte. Er entschied sich für eine Kurzgeschichte von William Harrison, in der es – im Jahr 2018 – keine Nationen und Parlamente mehr gibt. Die Welt wird von sechs Konzernen regiert, die jeweils auf ein einzelnes „Produkt“ spezialisiert sind: Energie, Transport, Nahrung, Luxus, Wohnungen, Dienstleistungen. Den Massen wird Sicherheit und so etwas wie Grundeinkommen garantiert, bei Laune gehalten wird die Weltbevölkerung durch den brutalen Sport Rollerball, eine Mischung aus Hockey, Roller Derby, Motorradrennen und American Football.
Das damals nagelneue BMW-Hochhaus in München und das avantgardistisch geschwungene BMW-Museum verkörperten die Konzernzentrale. Das furios inszenierte Rollerballspiel wurde in der für die Olympischen Spiele von 1972 errichteten Olympischen Basketballhalle (später Rudi-Sedlmayer-Halle getauft, heute der Audi Dome) in München gedreht – in ziemlich echt, mit eigenes dafür trainierten Stuntmen. Es gab Außenaufnahmen im Olympiapark, einige Szenen entstanden in Frankfurt und Berlin.
Der Film war eine Allegorie auf den damals real immer brutaler werdenden Profisport, ein Vorgriff auf Reality-TV und eine ähnlich alarmierende Dystopie wie „Fahrenheit 451“, „Soylent Green“ oder später „Matrix“. Die Menschheit wird des Profites wegen von Konzernen unmündig gehalten, jeder kritischen Nachfrage und jeder Individualität die Grundlage entzogen und das kulturelle Wissen systematisch zerbröselt und zerstört.
Weit weg von München, nämlich in Melbourne, hat der australische Medienwissenschaftler und Publizist Andrew Nette diesem Film eine sehr informative Monographie gewidmet. Erstaunlich, welches Material er beschafft und gesichtet hat, welche Linien er zieht und welche Zusammenhänge er herstellt. Es ist eine sehr gehaltvolle Studie geworden, geradezu mustergültig. Andrew Nettes Blog heißt Pulpcurry, in dieser CrimeMag-Ausgabe schreibt er über die nicht nur von ihm hochgeschätzte Buchhandlung Space Age Books. Ray Bradbury war dort einmal Gast.
- Andrew Nette: Rollerball. Constellations: studies in science fiction film and TV. Auteur, Leighton Buzzard, Bedfordshire 2018. 120 pages.