Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2020

Frank Göhre: Das New York Projekt

Albert Finney beim Aufstieg auf die Brooklyn Bridge

Leben und Sterben in Brooklyn

Sie haben zusammen Ed McBain und seine Romane vom 87. Polizeirevier porträtiert („Cops in the City„, CulturBooks 2015) und damit viel Spaß gehabt, ihr zweites gemeinsames Buch dann Elmore Leonard, dem „King of Cool„, gewidmet (CulturBooks 2019). Buch Nummer Drei ist im Werden, aber dauert – nicht nur wegen Corona – noch ein ganzes Weilchen. Im Vorhaben ist es keineswegs kleiner als die Mammut-Porträts von McBain & Dutch, denn Frank Göhre und Alf Mayer haben sich für ihr nächstes Buchprojekt die Stadt New York als Tatort vorgenommen, durch die Stadtteile und Jahrzehnte erzählt von ganz unterschiedlichen Kriminalautoren. Ein Stadtführer der anderen Art und dazu eine Bestandsaufnahme dessen, was der Kriminalroman zu leisten imstande ist. Vorerst aber ist das Projekt etwas ins Stocken geraten – Frank Göhre skizziert am Beispiel Brooklyn, wohin die Reise gehen kann.


Manhattan Bridge

Albert Finney steigt an den stählernen Trägern der Brücke hoch auf auf den Bogen. Er ist mit Stahlseilen gesichert. Er ist Schauspieler und er hat eine Szene in schwindelnder Höhe. Albert Finney hat als Detective Dewey Wilson einige grausame Morde aufzuklären. Der Verdacht fällt auf den politisch aktiven Indianer Eddie Holt aus dem Mohawk–Reservat. Die Mohawks sind bekannt und gefragt als angstfreie Stahlbaumonteure. Sie haben an der Skyline New Yorks entscheidend mitgewirkt, beim Bau der Wolkenkratzer, der Brücken und der Highways über den Stadtvierteln. Es sind Wanderarbeiter. Ihr provisorisches Zuhause in New York ist Bay Ridge, ein Viertel in Brooklyn, in dem sie mit  Arabern, Juden, Iren, Italienern und Chinesen auf engem Raum zusammenleben.

Detective Wilson fragt Eddie Holt nach dem angeblichen Weiterleben seiner verstorbenen Vorfahren in Tierkörpern. Auch in Wölfen?
Eddie lacht ihn aus.
Er weiß, worauf der Detektive anspielt.  

TATORT Spring Creek Park, Brooklyn

Die Fountain Avenue ist eine Nord-Süd-Straße in Brooklyn.
Das nördliche Ende ist an der Kreuzung Atlantic Avenue und Conduit Avenue.
Südlich endet die Fontaine am Belt Parkway. 
Der Parkway begrenzt das Gebiet einer ehemaligen Mülldeponie und eines Schrottplatzes.
Inzwischen ist es als Park  angelegt und öffentlich zugänglich. 
Doch in den späten Siebzigern stapeln sich hier die ausgeschlachteten Wagen. 
Ratten und dürre Hunde streifen umher. 
Die Mafia entsorgt auf dem Müll ihre Opfer.
Es ist ein grauslicher Ort, und es gibt das Grauen. 

Es tritt zwischen zwei Schrottautos hervor.
Die beiden Cops auf Streife sind entsetzt.
Einer von ihnen greift zur Waffe.
Das ist ein Fehler. Ein grober Fehler, ein tödlicher.
Zehn Sekunden später sind die Kehlen der Männer aufgerissen.
Zwanzig Sekunden später strömt der letzte Rest Lebens aus ihren Körper.

Das ist der Auftakt einer Mordserie, an der sich Detective Dewey Wilson buchstäblich abarbeitet. Denn es gibt Indizien, dass es sich bei dem blutrünstigen Mörder um einen Wolf handeln könnte.
Der texanische Autor Whitley Strieber debütiert 1978 mit dem Roman „The Wolfen“.
Der Roman hat einen zweifellos faszinierenden Plot, ist allerdings als Story klischeehaft und sauschlecht entwickelt und geschrieben.  Aber ein Bestseller. Und die Vorlage für einen nun wirklich großartigen „ökologischen Horrorfilm“.

Regisseur ist der durch seinen Dokumentarfilm „Woodstock“ bekannte Michael Wadleigh, der „Wolfen“ in den Ruinen und Trümmern der South Bronx dreht. Mit Stadycam–Fahrten aus Sicht der Wölfe. 
Der Film floppt an der Kinokasse, wird aber zum Kultfilm für Horror– und Fantasy–Film–Freaks (ist für 3,99 € auf Amazon Prime zu sehen).

„Nach Brooklyn hineinzufahren, war, als käme man in ein fremdes Land. Riesig und undurchschaubar erstreckte es sich von der Spitze Manhattan nach Südosten bis zum Atlantik. Jenseits der Brücken und Tunnel lebten zweieinhalb Millionen Menschen. Die meisten davon in vergleichsweise niedrigen Gebäuden, prächtigen alten Sandsteinhäusern, schicken Lofts, billigen Mietskasernen und klassischen Zweifamilienhäusern.“ (Reggie Nadelson, Russische Verwandte, OA 2004)

TATORT Subway D in Richtung Coney Island 

Station Bay 50th Street

Wir nehmen die Subway Linie D in Richtung Coney Island. Sie fährt über die Manhattan Bridge. Eine Station vor Coney Island steigen wir aus. Es ist die legendäre Bay 50th Street Station. Hier stellt in dem mehrfach preisgekrönten Film „The French Connection“ (1971) nach einer atemraubenden Verfolgung der Cop Jimmy „Popeye“ Doyle (Gene Hackman) den auf ihn angesetzten französischen Killer. Zu Fuß und mit dem Wagen, unter und in der entführter Hochbahn geht die vom Regisseur William Friedkin inszenierte Jagd, rasant geschnitten nach dem Rhythmus des Santana Hits „Black Magic Woman“.
Während der Dreharbeiten kommt es auch zu einem richtigen Unfall. 
Die Filmcrew hat die Straßen in dem Brooklyn Viertel sperren lassen, aber vergessen die Anwohner über die spektakuläre Autofahrt vor ihrer Haustür zu informieren. Als ein Bewohner mit seinem Pkw vom Parkplatz fährt, stößt er direkt mit einem Wagen der Filmcrew zusammen. Die Szene ist im Film eingebaut. 

Wir fahren weiter bis zur Endstation Coney Island.
Das New Yorker Ausflugsziel. Bei sommerlichen Temperaturen am Strand und Baden im Meer. Am Eck vor der Uferpromenade das legendäre „Nathan’s“, die älteste Hot Dog-Bude der Stadt. Linker Hand der traurige Abklatsch des einst prächtigen Vergnügungsparks mit der alten Achterbahn und dem verrosteten, stillgelegten Fallschirmturm.

Ein Stück unbebauten Lands, der Boden mit Müll übersät, Coladosen, benutzte Kondome, Zigarettenstummel, Spritzen – die Überreste einer Freitagnacht.

TATORT Zwischen  Coney Island und Brighton Beach

Jeden Samstag läuft Iwana Galizina die Strecke hin und zurück.
Sie macht eine Kaffeepause, liest eine russische Zeitung und gönnt sich eine Apfeltasche mit Puderzucker und ein Donut mit Marmelade.
An diesem Morgen nimmt sie eine Abkürzung über das unbebaute Gelände. 
Sie stolpert und stürzt. Sie sieht etwas aus dem Boden ragen und zieht daran.
Es ist ein Turnschuh. Er ist voller Blut.
Und sie findet auch noch eine Jacke. 
Der russisch-jüdische Detective Artie Cohen wird auf den den Fall angesetzt. 
Die/der Träger/in der Jacke ist vorerst nicht zu ermitteln.

Cohen folgt jeder noch so winziger Spur. 
Er ist ein „alter Hase“, seit 20 Jahren im Dienst. Doch „manchmal kam ich mir vor wie ein gealteter Jugendlicher, ledig, kinderlos und immer noch auf der Suche nach Fluchtwegen.“
Nach Fluchtwegen vor sich selbst.
Vor seiner Vergangenheit. Vor seiner Geschichte in Russland.
Wenn eben möglich, meidet er den persönlichen Kontakt  zur russischen Gemeinde in Brighton.
Bleibt Beobachter.

„Überall unterhalb der erhöhten Bahngleise drängten sich die Leute, kauften ein, riefen sich etwas zu oder standen rauchend und schwatzend vor den Geschäften und Restaurants. Das Stimmengewirr durchdrang alles. Ein Frau mit Kopftuch schleppte einen Koffer über die Straße. Ein älterer Mann mit Essensresten im Bart beobachtete sie mißtrauisch, während er an einer Kartoffeltasche herumkaute. Zwei Frauen in in struppigen Pelzmänteln überquerten eingehakt die Straße, jede plapperte laut in ihr Handy.“ (Reggie Nadelson, Russische Verwandte, OA 2004)

Brighton Beach ist Little Odessa, und Little Odessa ist Borschtsch, Weißkohl und Wodka aus Wassergläsern. Der fließt reichlich und macht heißes Blut. 
Die Autorin der Artie Cohen-Romane Reggie Nadelson stammt aus einer jüdischen Familie und ist im Greenwich Village von Manhattan aufgewachsen. Sie studiert Englisch und später Journalistik in Kalifornien. Reggie Nadelson arbeitet dann in London für den „Guardian“ und anschließend für den „Independent“.

Sie veröffentlicht Artikel in der US-Ausgabe der Vogue und in mehreren anderen in London erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften.
Im Jahr 1995 kreiert sie Artie Cohen, den russischstämmigen jüdischen Detective der New Yorker Polizei in: „Russische Verwandte“, OA 2004, „Rote Wasser“, OA 2005, „Kalter Verrat“, OA 2006 u.a.

Von Coney Island, Brighton Beach und Bensonhurst  begrenzt ist der Stadtteil Gravesend mit etwa 67.000 Einwohnern: Italiener, Chinesen, Mexikaner und Russen. 
Es gibt eine große sephardische Gemeinde, Juden aus Syrien, dem Libanon und Ägypten.
Sie wohnen größtenteils in Villenhäusern an der Avenue T und dem Ocean Parkway. Im Westen, nördlich des Hauptgeschäftsviertels an der Avenue U, reihen sich schlichte Ein- und Zweifamilienhäuser. 
Es ist ein eher tristes Viertel, die Straßen fast verlassen, der Himmel sieht grau und verbeult aus. Der in Deutschland mit mittlerweile dei Romanen („Gravesend“, OA 2013, „Einsame Zeugin“, OA 2018, und „Eine wahre Freundin“, OA 2019) bekannt gewordenen Autor William M. Boyle ist 1978 in Gravesend geboren und aufgewachsen.
Seine Mutter ist Italienerin, der Vater hat schottische Vorfahren. 

„Den Ort zu lieben und zu hassen, von dem du kommst, empfindet wahrscheinlich jede Person so. Ich liebe meine Großeltern. Ich liebe meine Mutter. Ich liebe die Gerüche in der Küche meiner Großmutter, Bratensoße köchelt auf dem Herd. Ich liebe die italienischen Kekse und das Gebäck. Ich liebe die Pizza. Ich liebe den Espresso und den Sambuca. Ich liebe es, mit meinem Großvater in den Keller zu gehen, um das Öl zu überprüfen, nach Ersatzfernsehröhren oder Drahtschneidern oder einem neuen Abfluss zu suchen. Ich liebe die Erinnerung daran, dass ich vor Weihnachten mit meinen Großeltern Struffoli (süße, frittierte Teigbällchen) gemacht habe. Ich liebe die russische Videothek, in die ich als Kind gegangen bin – ich habe zehn, zwölf Filme pro Woche ausgeliehen. 
Dieser Ort war eine Schule für mich. 
Ich liebe es, meinen Block entlang zu gehen, die Bay 35th Street, und den Kirchturm von St. Mary’s über die Gleise ragen zu sehen. Ich liebe die kleinen Gärten, die Mary-Statuen mit abgebrochener Nase, umgeben von Unkraut und zerbrochenem Zement. Ich liebe die Erinnerung daran, wie ich auf den Schulhöfen in der Nachbarschaft Basketball gespielt habe.
Aber es gibt auch Dinge, die mich beunruhigen. 
Bei meinem letzten Besuch zuhause sagte mein dreijähriger Sohn: „Hier ist alles kaputt.“ 
Und es stimmte. Meine Großmutter hatte sich die Hüfte gebrochen. Der Griff auf der Toilette meiner Mutter funktionierte nicht. Die Fernbedienung war kaputt. Mein Sohn spielte mit ein paar alten Puppen und es fehlten ihnen Arme und Beine. Er hatte auch ein paar ferngesteuerte Autos von mir entdeckt und die Batterien waren explodiert. Die Heizung im Haus meiner Mutter fiel aus. Ihr 95er Ford Explorer startete nicht. Der Kühlschrank machte verrückte Geräusche, etwas zwischen Geheul und Pochen, wie man es in einer Schleife in einem Tom Waits-Song hören würde. 
Ich beschwere mich nicht, sondern zeige nur auf eine allgemeine Zerbrochenheit, die sich auf jemanden auszudehnen scheint, der wie ich zu Melancholie neigt.“

TATORT Belt Parkway 

In dem Roman „Gravesend“ nimmt Conway die nicht ausgeschilderte Ausfahrt auf dem Belt Parkway in Richtung Osten, kurz nach der Knapp Street. Rechts und links vom Eingangstor sind Parkplätze. 

Er stellt den Wagen neben dem Müllcontainer ab, läuft an den Klohäuschen vorbei und umrundet den Pavillon. Möwen picken in den verdreckten Strand, leere Corona-Flaschen und Kondome hängen im Seegras. 
Er läuft zum Wasser und sieht in Richtung Gil Hodges Memorial Bridge, dann in die andere zum Kingsborough Community College. 
Conway denkt an seinen toten Bruder.
Sie sind wie aus dem Nichts über ihn hergefallen, sie schlagen und sie treten ihn und sie beschimpfen ihn als schwule Sau. Er kann sich  hochrappeln, rennt an seinem Auto vorbei und springt über die Leitplanke auf den Belt. 
Der mit hundertzehn heran rasende Wagen kann ihm nicht mehr ausweichen. 
Der Bruder wird auf den Asphalt geschleudert und stirbt noch am Unfallort. Seine Peiniger werden zu Höchststrafen verurteilt.
16 Jahre danach wird der Hauptübeltäter entlassen. Sein Name ist Ray Boy. 

Conway will sich an ihm rächen. 
Er will ihn töten. 
Doch er schafft es nicht. Er schafft es nicht, weil Ray Boy bereit ist, zu sterben. 
Weil er sterben will.
Eugene der Neffe des aus der Haft entlassenen Ray Boy möchte so wie sein Onkel sein.
So, wie er früher war. Ein harter Hecht.
Aber dabei legt er sich mit den falschen Leute an. 
Mit der russischen Mafia.

TATORT Subway Station Twenty-Fifth Avenue 

Eugene hinkt heran. 
Ein Russe folgt ihm und schießt ihm in den Rücken.
Eugene fällt tot zwischen die Gleise.
Der Russe steckt seine Waffe zurück in den Hosenbund und singt „New York, New York“.

Der New Yorker Anwalt Paul Reeves hat eine große Leidenschaft. 
Er sammelt alte Stadtpläne und Landkarten. Ihr Anblick versetzt ihn in die Zeit seiner Jugend, „wo er als Junge in Brooklyn mit der von oben bis unten mit Graffiti übersäten U-Bahn der siebziger Jahre zur Public School gefahren war; wo er als College.Student an der Columbia den Barnard Girls, den Studentinnen des Frauen-College, hinterher geschmachtet, wo er als frisch gebackener Anwalt, damals noch stets korrekt gekleidet,  Überstunden geschoben hatte. 

Doch die meisten seiner Pläne hielten ein New York fest, das längst Vergangenheit war … hatte er sich eine Weile in einen solchen Stadtplan vertieft, schaute er auf, richtete den Blick auf die Welt hinter dem Fenster und stellte sich vor, wie die Metropole aus Glas und Stahl auf den Grundfesten der City aus Backsteinen und diese ihrerseits auf der Stadt aus Holzbauten mit Eichendübeln und vierkantigen Eisennägeln hochgezogen worden war. Denn das war New York, ein immer unvollendetes Meisterwerk, immer wieder abgerissen und neu gewachsen, im Minutentakt mit immer neuen Menschenschwärmen bevölkert, die über die Brücken und durch die Tunnel in die Großstadt kamen.“ 

Paul Reeves lebt sehr feudal in Manhattan. Seine jungen Nachbarin ist mit einem stinkreichen Exil-Iraker verheiratet und Reeves wird Zeuge, wie sie ihn mit einem jungen Mann in Militärlook betrügt. Kurz danach wird Reeves von ihr gebeten, den Lover sicher zu verstecken.

Paul fährt mit dem Mann von Manhattan aus über die Brooklyn Bridge auf die Fourth Avenue und dann nach links in die 14th Street: eine Straße mit bescheidenen, doch liebevoll gepflegten, dreistöckigen Reihenhäusern, die in den späten neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts für Arbeiterfamilien von Brooklyn hochgezogen worden waren.

Eins davon ist Pauls Elternhaus. 

TATORT 51th Street, Ecke First Avenue, Brooklyn

Der Kammerjäger Ferris vernichtet vorrangig Ratten. Dicke, fette Ratten. Bösartige und angriffslustige Ratten. Die giftet er weg, die schlägt er tot.
Wenige Tage nachdem Reeves den Lover seiner Nachbarin im leerstehenden Haus seiner Eltern untergebracht hat, entdeckt Ferris zwei Männer.
Auf dem Boden liegend. Mit dem Gesicht nach unten. 
Dunkelhäutig, gut im Saft. Muskelbepackt.
Bei einem von ihnen haben sich die Ratten in die Hose gefressen, das ganze Bein rauf und runter ….

„Die Zügellosen“ OA 2017, heißt der Roman des 1960 in New York City geborenen Colin Harrison.
Er ist von 1989 bis 2001 Redakteur bei Harper’s Magazine; seit 2001 Lektor beim New Yorker Verlag Simon & Schuster. Harrison schreibt Thriller und Action-Romane, die zumeist in New York spielen, in „seiner Stadt“. Sein Roman „Im Schlund des Drachens“, OA 2008, München 2009, wird für den Dashiell Hammett Prize nominiert.

„Die Zügellosen“ ist ein rasant erzählter Roman über Liebe und Betrug, Business und brutalem Mord, „eine atemberaubende Mischung aus Balzac, Zola und Tom Wolfes ‚Fegefeuer der Eitelkeiten‘, versetzt mit knüppelharter Action und einem Schuss Grand Guignol. Die Beschreibung der Soziotope der Reichen, Schönen und Mächtigen ist salzsäureklar gnadenlos … Harrison´s Verständnis für globalisierte Mechanismen brillant, sein Menschenbild eher skeptisch.“ (Thomas Wörtche) 

Der von Mickey Spillane in Szene gesetzter Ex-Bulle Jack Stang wird neu aktiviert: „Vor langer Zeit haben Sie einmal eine Frau geliebt, die Bettie hieß. Sie wurde entführt und in einen Kleinlaster gesperrt, aber wenige Minuten vorher war ein Notruf rausgegangen, und ein Polizeiwagen war hinter dem Transporter her. 

Die Verfolgung endete auf der Brücke, die über den Hudson führt. Der Fahrer verlor die Kontrolle über das Fahrzeuge, krachte durch die Leitplanken und das Geländer – und stürzte fast fünfzig Meter tief ins Wasser.“ (Mickey Spillane, „Das Ende der Straße“, OA 2007).

TATORT Verrazano Narrows Bridge, zwischen Staten Island und Belt PKWY, Brooklyn 

Angeblich aber soll Bettie noch leben. Jack macht sich auf den Weg. Seine Suche wird zum Rachefeldzug. Wie auch sonst könnte es bei Mickey Spillane sein, dem Mann, der Mike Hammer schuf, schnell, hart und gnadenlos: „Gott vergibt, Mike Hammer nie.“ 

Seine Jack Stang–Story ist nach mehreren Dutzend Romanen (Verkauf 200 Millionen Exemplare) der letzte Krimi, vollendet von dem Kollegen Max Allen Collins. Actionreich wie immer. Lee Child hat hundertpro bei seinem Reacher von Spillane gelernt. 

„Die Narrows ist ein fiktiver Stadtteil in Brooklyn, gelegen zwischen den (realen) Stadtteilen Bay Ridge und Sunset Park. Im Osten wird das Viertel durch den Gowanus Expressway und im Westen durch den New Yorker Harbor begrenzt. Die in Ost-West-Richtung verlaufenden Avenues sind nach den früheren  Präsidenten der USA benannt (beginnend im Süden): Washington, Adams (John und John Quincy teilen sich eine Straße), Jefferson, Madinson, Monroe, Jackson, Van Buren, Harrison, Tyler, Polk, Taylor, Fillmore, Pierce, Buchanan, Lincoln, Johnson und Grant. 

Die Straßen in Nord-Südrichtung, beginnen am Hafen, sind von eins bis neun durchnummeriert. (Die real existierende Straße namens Narrows Avenue, die von der Verrazano Bridge nach Owl’s Park verläuft, liegt nicht in den Narrows, sondern in Bay Bridge).

Die U-Bahn-Linie verläuft entlang der 7th Street mit Eingängen an Van Buren und Monroe Avenue. Das „Flood’s“ liegt an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung von 7th Streetund Jackson Avenue. „St. Finnian’s“ (natürlich auch eine fiktive Gemeinde) liegt auf der westlichen Seite der 9th Street zwischen Polk und Tyler Avenue. Der Parnell Park wird  begrenzt von Van Buren (im Norden) und Jackson Avenue (im Süden), von der 5th (im Westen) und der 6tht Street (im Osten). Die Einwohner waren früher nahezu ausschließlich irischstämmig, doch in den letzten Jahren siedeln sich an der Peripherie zunehmend auch Schwarze, Lateinamerikaner, Menschen aus der Karibik und Asien an.“  (Jürgen Bürger, 1994)

TATORT In den Narrows

Ein Wintertag. 
Am Mittwochmorgen. 
Eine anonyme Anruferin meldet: „Parnell Park, die Narrows, Südseite, die Jackson Avenue-Seite, zwischen Five und Six. Eine Bande Männer schlagen schwarze Kids zusammen. Sie werden sie umbringen. Die Jackson Avenue-Seite vom Parnell Park in dem Narrows. Haben Sie das? Haben Sie das? Um Himmels Willen, beeilen Sie sich!“

Ein Fall für Sergeant Joe Cullen. 
Joe Cullen ist bei der Internal Affairs Unit, der Abteilung, die die Polizei überwacht.
Er ist Ende Vierzig, hat gut zwanzig Dienstjahre auf dem Buckel und sein zuhause ist da, wo offenbar alle New Yorker Cops wohnen – in Queens. 
Als Jugendlicher war er ein Schläger und hat gestohlen. Er war „Snake“ Cullen, „der Rock“, ein Kind von Beton, Asphalt und Ziegeln.
Später hat er in einem Plattenladen gearbeitet. Ein Kunde und guter Freund hat ihn überredet, auf die Polizeiakademie zu gehen. Das hat geklappt, und als Streifencop in der Six lernt er die Kindergärtnerin Connie Carrera kennen und lieben – naja, er bumst halt gern mit ihr. Er wird Vater eines Sohnes und einer Tochter. 

Er hat eine Affäre mit der Hebamme. Für Connie ist da Schluss mit lustig. Joe Cullen zieht aus. Doch in seiner Bude in Queens ist er kaum.
Cullen nächtigt bei Ann – „kurzärmelige, khakifarbene Safari-Jacke über einem weißen Baumwoll-Shirt ohne ein einziges Wort oder Bild darauf, khakifarbene Hose, Ledersandalen, Zopf und Zahnlücke wie Lauren Hutton“ – einer 15 Jahre jüngeren Reporterin des City Magazine. 

Joe Cullen ermittelt im Manhattan der Neunziger Jahre,  wo hypermoderne Gebäude sich biegen und gegenseitig stützen und die Morgendämmerung den Riverside Park, den Hudson und Jersey mit einem kräftigen Pink einfärbt.
Im Battery Park verzehren Sekretärinnen, Laufjungen, Kuriere, Läufer, Drohnen des mittleren Managements in der Sonne ihren Sandwich.
Im Radio sind Lionel Ritchie, Billy Joel, Sade, Chicago, Genesis und Yes zu hören, im Kino sind Road Warrior und Mad Max zu sehen, im Fernsehen Tootsie und Wiederholungen von Hill Street Blues und am Samstagabend gibt es ein Spiel der Mets, einen Karton Buffalo-Hähnchen-Flügel auf dem Schoß, God bless America, land that I love. 

In Midtown West, Midwest, einem charakterlosen Viertel, nur wenige Blocks entfernt von Macy’s und dem vom Madison Square Garden hockt ein pensionierter Bulle in seinem Rollstuhl, während im Central Park in der Nähe des Metropolitan Museum von der Dog Hill genannten Anhöhe ein älterer Mann einer jugendlichen Joggerin nachblickt.

Rassen, Religionen, Geschlechter und Generationen spielen ein ständiges, feindseliges Pingpong von Beleidigungen und Beschimpfungen, auf Obdachlose wird eingeprügelt. 

Gewählte und ernannte Beamte hinterziehen Steuern, machen illegale Geschäfte und leisten Meineide, und in jedem einzelnen gottverdammten Jahr wird eine beschissene halbe Million Einheiten preiswerten Wohnraums in Eigentumswohnungen umgewandelt, abgefackelt oder abgerissen. 

Das ist Joe Cullens Welt.

Das ist die Welt seines Autors Jerry Oster: „New York ist das, was ich kenne, und es durchdringt alles, was ich schreibe.“

Jerry Oster, 1943 in New Mexico geboren, lebt seit seinem zehnten Lebensjahr in New York City. 
Er studiert Englische Literatur an der Columbia University und arbeitet anschließend als Reporter für United Press International, Reuters und die New York Daily News. Er schreibt knapp zwei Dutzend Erzählungen und Romane, u.a. die Joe Cullen-Serie „Death Story“, OA 1990, „Violent Love“, OA 1991, „Dirty Cops“, OA 1992, „Wenn die Nacht kommt“, OA 1993, „Versuchung in Rot“, OA 1999, ist in Amerika aber nicht sonderlich erfolgreich. In Deutschland bei Rowohlt verkauft er sich wesentlich besser. Irgendwann aber war Schluss, der Autor verschwand aus dem Programm, obwohl er weiter schrieb.

Seit einiger Zeit nimmt sich der Kölner eBook-Verlag spraybooks der Romane Osters anund bringt sie seit 2015 in neuen Editionen und zum Teil bearbeiteten Übersetzungen heraus. 

Aus Jerry Oster wurde Jerome Oster.
– Wo lebst du heute?
– In Chapel Hill, North Carolina, USA 
– Und was machst du so?
– Nach zwölf Jahren als Journalist, zwölf weiteren Jahren als hauptberuflicher Schriftsteller und zum Schluss zwölf Jahren verantwortlich für die Beschaffung von Geldmitteln für eine Universität und in ihrer Presseabteilung bin ich heute … pensioniert. Ich fahre Rad, wandere, spiele Tennis, lese, höre Musik (Jazz, Techno, moderne E-Musik), sehe gern anspruchsvolle Fernsehsendungen und überhaupt Filme.
– Magst du etwas ganz besonders?
– Das Meer, Klänge, Seen, Flüsse, Bäche.
– Beschreib uns bitte einen deiner Tage.
– Ich stehe vor Tagesanbruch auf, lese ein paar Seiten in Büchern, die mir helfen, nüchtern zu bleiben, frühstücke (meistens in einem Café um die Ecke), lese die Tageszeitung, lese in dem Buch weiter, in dem ich gerade mittendrin bin, beschäftige mich intensiv mit Mathematik (Geometrie und Analysis), esse zu Mittag, gehe spazieren oder fahre ein wenig mit dem Rad, unter der Woche bereite ich an den meisten Tagen das Abendessen für mich und meine Frau zu, sehe etwas fern auf meinem iPad (dänische, schwedische und belgische Krimis, auch schon mal amerikanische Kopien davon), lese wieder ein paar Seiten aus meinem aktuellen Buch, und um zehn mache ich das Licht aus. 
– Gibt es eine Art Vermächtnis, das du deiner Nachwelt gern hinterlassen möchtest?
– Ich habe mich bemüht, Freunden und Familienangehörigen gute Briefe zu schreiben. Das ist mein Vermächtnis.
(Auszüge aus einem Mail-Interview mit dem Übersetzer Jürgen Bürger)

Am 26. Januar 2020 ist Jerome Oster gestorben.

Mit einundzwanzig hat Henry Hill es geschafft. Der Sohn einer italienischen Mutter und eines irischen Arbeiters aus Brooklyn trägt feinstes Tuch, stolziert in von Hand gearbeiteten Schuhen herum, hat jede Menge Bares auf der Naht und führt sein Girlfriend Karen durch Keller und Küche eines angesagten Nightclubs direkt an den extra für ihn aufgestellten Tisch vor der Showbühne – gedreht in einer einzigen langen Einstellung des Kameramanns Michael Ballhaus in dem Martin Scorsese Film „Goodfellas“. 

Henry ist ein „Wise Guy“, ein ausgekochter Gangster, der für die Mafia arbeitet. Mit dem Nadelstreifen-Killer Jimmy „The Gent“ und dem unberechenbaren Italiener Tommy zieht er eigene Raubzüge durch. Ende der 1970er erhält Tommy die Nachricht, dass er endlich als Vollmitglied in die Cosa Nostra aufgenommen werden soll.  Die feierliche „Aufnahmezeremonie“ erweist sich jedoch als Hinterhalt.

TATORT Tiefgarage in der 80th Street, Bay Ridge

Tommy wird erschossen. Wie sich herausstellt, ist das die Rache für die Ermordung des Gangsters Billy Batts, Vollmitglied der Gambino-Familie, für dessen Ermordung Tommy Jahre zuvor keine Genehmigung der Bosse eingeholt hat.

1985 dreht Michael Cimino „Im Jahr des Drachens“. Es ist die Verfilmung eines Kriminalromans von Robert Daley. 

Daley, 1930 in New York City geboren,  arbeitet als Deputy Commissioner (stellvertretender Polizeichef) des New York City Police Department (NYPD). 1978 erscheint sein non-fiction-Werk Prince of the City (dt. Titel ebenso Prince of the City), das von der NY Times hoch gelobt und von Sydney Lumet verfilmt wird. Insgesamt schreibt Daley 18 Romane, von denen mehrere verfilmt werden und Daley einige Male selbst bei der Erstellung des Drehbuchs mitarbeitet.

Der Autor lebt mit seiner französischstämmigen Ehefrau abwechselnd in Connecticut und in Nizza.
Das Drehbuch zu „Im Jahr des Drachens“ schreibt der Regisseur gemeinsam mit Oliver Stone, der Produzent ist Dino De Laurentiis. 

Den Kern der Handlung bildet die erbitterte Auseinandersetzung zwischen dem neu eingesetzten, einzelgängerischen Polizei-Captain Stanley White (Mickey Rourke) und dem durch brutale Machtkämpfe an die Spitze der chinesischen Mafia New Yorks gekommenen smarten Geschäftsmann Joey Tai (John Lone). Bei seiner Arbeit gerät der Cop mit einer chinesischen Journalistin aneinander. 

Er lässt sich von ihr in ihre Brooklyner Wohnung mitnehmen. 
Ein teuer eigerichteter Loft.
Ein phantastischer Blick auf Manhattan.
Bis hin nach Chinatown. 

TATORT 16 Main Street, Brooklyn 

„Das ist nicht die Bronx. Das ist nicht Brooklyn. Das ist nicht einmal New York. Das ist Chinatown“, sagt White, schon unter Dampf.
 Jack White, eigentlich Stanislav Wyszynski, nach eigenen Worten ein „dreckiger Polak“, war in Vietnam. 
„Es hat Sie zerstört“, sagt die chinesische Fernsehjournalistin zu ihm.
Er schüttelt den Kopf. 
„Wissen Sie, was dieses Land zerstört? Nicht der Schnaps, nicht die Drogen. Es ist das Fernsehen, die Medien. Solche Leute wie Sie. Vampire. Ich hasse die Art, wie Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen, ich hasse die Lügen, die Sie jeden Abend verbreiten. Ich hasse Sie. Ich hasse diese Wohnung. Ich hasse alles, was Sie repräsentieren. Und deshalb verstehe Ich nicht, warum ich so geil darauf bin, Sie zu ficken.“

Man glaubt Trump reden zu hören. 
Die Journalistin wehrt ihn ab. 
Er fällt über sie her.
Der Loft in der 16 Main Street ist der Tatort einer Vergewaltigung.

Francine Khoury verlässt ihr Haus in der Colonial Road zwischen Seventy-eighth und Seventy-ninth Street im Brooklyner Stadtteil Bay Ridge. 
Sie biegt nach rechts in die Bay Ridge Avenue ein, dann nach links in die Fourth Avenue und weiter Richtung Norden. An der Ecke der Sixty-third-Street ist ein Supermarkt. 
Sie erledigt ein paar Einkäufe und steuert dann auf das arabische Lebensmittelgeschäft In der Atlantic Avenue zu. Dort wird sie gekidnappt.

TATORT Arabisches Lebensmittelgeschäft in der Atlantic Avenue, Brooklyn 

Francine ist die Frau des libanesischen Drogenimporteurs Khory. Der engagiert nach der ersten Lösegeldforderung den Ex-Cop Matthew Scudder, einen Anonymen Alkoholiker, der nach wie vor regelmäßig zu den Treffen geht. Anfangs will Scudder nicht für Khory arbeiten. Doch als er dazu bereit ist, hat man die Entführte schon ermordet. 

„Scudder“, so der Klappentext des Lawrence Block Romans „Ruhet in Frieden/ Endstation Friedhof“, OA 1992, „Scudder beginnt einen gnadenlosen Feldzug.“
Wenn es einen Autor gibt, der im Genre der Alkohol-Detektive den Standard setzt, dann ist das Lawrence „Larry“ Block. Seit mehr als 35 Jahren und in bisher 17 Romanen schickt er seinen Ermittler Matt Scudder nicht nur durch New York, sondern auch durch alle Stadien, Fegefeuer und Höllen der Alkoholsucht.

Der ungemein produktive Block schreibt seit etwa 1960, hat neun Edgars, zwölf Shamus Awards, vier Anthonys und etliche andere Preise vorzuweisen, die Anzahl seiner Kriminalromane liegt bei über 60.
Wesentlicher Bestandteil aller Romane ist die exakte Beschreibung der jeweiligen Tatorte in Manhattan, Queens und eben auch Brooklyn. Mit Lawrence Block in der Hand kann man New York kennenlernen, das Vergangene ebenso wie das Gegenwärtige.

Wir wünschen interessante Stadtspaziergänge.

Die Texte von Frank Göhre bei CrimeMag. Sein jüngstes Buch „Verdammte Liebe Amsterdam“ hier im Textauszug. Und hier bei CulturBooks:  CulturBooks Verlag, März 2020. Klappenbroschur. 168 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,40 Euro (A). E-Book: 9,99 Euro. 

Frank Göhre & Alf Mayer: Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier. Ein Report. Mit einem Vorwort von Thomas Wörtche. Digitales Original. CulturBooks Longplayer, Juni 2015. 220 Seiten. 8,99 Euro. Es gibt auch eine Printausgabe.

Frank Göhre & Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore-Leonard-Story. CulturBooks Verlag, März 2019. 240 Seiten. 15,00 Euro (D), 15,40 Euro (A). eBook: 9,99 Euro.

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